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Außenpolitik Nun siegt mal schön

Das Karlsruher Blauhelm-Urteil besiegelt das Ende der außenpolitischen Zurückhaltung Deutschlands. Im Auftrag der Vereinten Nationen dürfen die Deutschen nun überall bei humanitären Missionen und Kampfeinsätzen mitmachen - wenn nicht als Weltpolizist, so doch wenigstens als Hilfssheriff.
aus DER SPIEGEL 29/1994

Zu Tränen gerührt stand Helmut Kohl an der Seite des französischen Präsidenten Francois Mitterrand und nahm in Paris die Militärparade des 14. Juli ab. Er verstehe ja, sprach er, noch immer bewegt, in eine Kamera, daß etliche Franzosen, von Erinnerungen geplagt, nicht gern deutsche Panzer durch Paris rollen sehen.

Geschichte hin, Geschichte her - »Das Leben«, erklärte Kohl, »geht weiter.« Und zwar mit dem deutschen Kanzler mittendrin: »Ich bin glücklich, daß ich dabeisein kann.«

Das kann er jetzt öfter. Den Deutschen sind, wenn Weltpolitik gemacht wird, kaum noch Grenzen gesetzt. Die letzten außenpolitischen Hemmungen der Macht in Europas Mitte sind seit vergangener Woche durch Karlsruher Richterspruch gefallen.

Am Dienstag verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, wonach der Bundeswehr keine verfassungsrechtlichen Schranken bei weltweiten Blauhelm-Einsätzen auferlegt sind. Die Nation, Anwärter auf einen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, kann nun auch bei allen Kampfeinsätzen der Vereinten Nationen mitmachen.

Schiffe der Bundesmarine dürfen künftig in der Adria Blockadebrecher vor Ex-Jugoslawien mit Waffengewalt stoppen und durchsuchen. Deutsche Panzer können eines Tages im Uno-Auftrag Bürgerkriege in Asien oder Afrika befrieden. Das vereinte Deutschland - eine allseits akzeptierte Ordnungsmacht? Frieden schaffen mit deutschen Waffen?

Die Richter besiegelten den Bruch mit einer Tradition der außenpolitischen Zurückhaltung, die für die alte Bundesrepublik gegolten hatte. Sie definierten die Rolle Deutschlands in der Welt neu.

Vier Jahrzehnte lang war den Deutschen im atomaren Patt der hochgerüsteten Militärallianzen der Frieden der Ernstfall. Nach dem Ende des Kalten Kriegs könnte der Einsatz deutscher Soldaten irgendwo in der Welt zur Normalität werden.

Bislang war der Auftrag der Bundeswehr im Grundgesetz restriktiv ausgelegt worden: Einsatz nur zur Landesverteidigung oder innerhalb des Nato-Gebiets. Außenminister Hans-Dietrich Genscher beharrte bis zum Ende seiner Amtszeit auf diesem Grundsatz.

Karlsruhe liest die Verfassung anders: Die Bundeswehr dürfe, so lautet der Kernsatz des Urteils, die »mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System« der kollektiven Sicherheit »typischerweise verbundenen Aufgaben« übernehmen.

»Die Bremsen, die uns eingezogen waren, sind weg«, freute sich Genschers Nachfolger Klaus Kinkel. Das Urteil »macht uns vieles in Zukunft leichter«.

Nun muß der deutsche Außenminister nicht mehr verlegen zurückstehen, wenn seine englischen, französischen oder amerikanischen Kollegen auf internationalen Konferenzen oder vor dem Kaminfeuer über Hilfs- und Friedensmissionen sinnieren; darüber hatte sich Kinkel beredt beklagt. Vorbei ist die Zeit der Scheckbuch-Diplomatie - Zahlen statt Mitmachen - wie etwa im Golfkrieg 1991, als Genscher in der westlichen Welt so unbeliebt wie nie zuvor in seiner langen Dienstzeit war.

Als Schmach hatten es die deutschen Soldaten empfunden, daß sie beim Somalia-Abenteuer auf den militärischen Schutz der Italiener angewiesen waren. Beim Einsatz im Mittelmeer durfte die deutsche Marine Blockadebrecher, die Waren oder Waffen für Serbien an Bord hatten, nicht mit einem Schuß vor den Bug stoppen und auch keine Prisenkommandos an Bord schicken. Einsatzbefehle an die Schiffe ergingen deshalb oft mit dem peinlichen Zusatz » . . . or are you German?«

Aus der Verteidigungsarmee wird nun eine Interventionsarmee. Eine Spezialtruppe wird bereits für die Teilnahme an internationalen Krisenreaktionskräften ausgebildet.

Die Eingreiftruppe besteht aus zehn Divisionen, die aus zwölf Nationen zusammengestellt werden. Laut »Weißbuch '94« des Verteidigungsministers werden die deutschen Kontingente »das gesamte Spektrum möglicher Einsätze abdecken, von der modernen Guerillakriegführung bis zum Einsatz gegen hochwertig ausgerüstete Streitkräfte«.

Schon haben die Deutschen wichtige Positionen bei Uno und Nato besetzt.

Im Nato-Hauptquartier Shape im belgischen Mons hat am 1. Juli der deutsche Marineoffizier Rainer Feist als »Chef des Stabes« für das »Partnership for Peace«-Programm seinen Dienst angetreten. Ausgestattet mit dem Titel Assistant Secretary General, wird Generalmajor Manfred Eisele aus dem New Yorker Uno-Hauptquartier die Uno-Aktionen weltweit dirigieren.

Ab 1. Oktober soll ein neues Heeres-Führungskommando in Koblenz als Befehlszentrale für künftige Operationen einsatzbereit sein. In Regensburg wird das »Kommando luftbewegliche Kräfte« eingerichtet.

»Langsam und zögernd«, stellt die Londoner Times fest, werde Deutschland »zur Militärmacht«. Und der Pariser Monde sieht eine »neue Ära in der Außenpolitik Deutschlands« heraufziehen, »der endgültige Schritt«, wie das Stockholmer Svenska Dagbladet meint, »aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs«.

Die historische Entscheidung fiel ausgerechnet an dem Tag, als der US-Präsident Bill Clinton vor dem Brandenburger Tor, Blick gen Osten, seine als historisch angekündigte Rede hielt und kurz darauf seine Besatzungssoldaten in Berlin verabschiedete (siehe Seite 27). Bald werden auch die russischen Truppen das Land verlassen. Deutschland ist dann endgültig souverän.

Freie Hand beim Einsatz deutscher Soldaten hat die Bundesregierung dennoch nicht. Die Karlsruher Richter haben, wenn auch ohne letzte Klarheit, ein paar Vorbehalte festgeschrieben: *___Die Kampfeinsätze deutscher Streitkräfte sind zumindest ____nur aufgrund eines vom Uno-Sicherheitsrat erteilten ____Mandats möglich; *___der Einsatz bewaffneter Streitkräfte bedarf der ____"vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages«. ____Die Bundeswehr ist nicht »als Machtpotential allein der ____Exekutive zu überlassen, sondern als Parlamentsheer in ____die demokratische rechtsstaatliche Verfassungsordnung ____einzufügen«; *___"Form und Ausmaß der Mitwirkung« müssen in einem ____eigenen Gesetz geregelt werden. »Die Streitkräfte sind ____zurückzurufen, wenn es der Bundestag verlangt.«

»Das heißt jetzt nicht: Germans to the front«, dämpfte Kanzler Kohl seinen Freund Clinton, der im gezielten Überschwang die deutsche »Fähigkeit zur Führung« pries.

Bemerkenswert verhalten reagierten Außenminister und Kanzler auf das Karlsruher Urteil - eher aus Kalkül denn aus Überzeugung: Vor dem 16. Oktober wollen sie keine neue Grundsatzdebatte über Interessen und Ziele der Außenpolitik. Kinkel, der zu verbalen Kraftmeiereien ("Serbien in die Knie zwingen") neigt, entdeckte schnell die »Kultur der Zurückhaltung« als bewährte Maxime der Außenpolitik.

Solche Rücksichten sind dem nationalen Scharfmacher Wolfgang Schäuble ganz fremd. Der Unions-Fraktionschef bedauert in seinem neuen Buch, daß die Diskussion über nationale Interessen und Handlungsspielräume nicht ernsthaft geführt werde. »Wir würden uns den Realitäten verweigern, wollten wir strikte außenpolitische Zurückhaltung weiter als Generaltugend der deutschen Politik betrachten.«

Allzuviel Zurückhaltung wollen auch Kohl und Kinkel nicht üben. Die Deutschen werden nicht Weltpolizist spielen, aber Hilfssheriff möchten sie schon sein.

Bisher galt als Regel, wo einst Hitlers Wehrmacht gekämpft hat, habe die Bundeswehr nichts verloren. Kinkel gibt jetzt eine dehnbare Formel aus: Vorrang habe die Bewertung des Einzelfalls.

Nach der Interpretation des Außenministers ist prinzipiell jeder Einsatz rechtlich zulässig - selbst nach dem Muster des Golfkriegs. Die Frage lasse sich »nicht in Form eines Katechismus lösen«, meint Verteidigungsminister Volker Rühe. Vorsorglich wehrt er »hochgespannte Erwartungen« ab, die Bundeswehr könne womöglich in Ruanda oder Haiti Frieden stiften. Als sein französischer Kollege Francois Leotard von einem Afrika-Korps der Westeuropäer redete, um den von Not und Kriegen heimgesuchten Kontinent zu stabilisieren, erklärte Rühe bündig: »Das sehe ich nicht.«

In ihrem Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik hatte die Regierung im Vorgriff auf das Urteil entschieden, die »militärische Sicherheitsvorsorge« könne sich »nicht mehr allein auf Landes- und Bündnisverteidigung beschränken«.

Die »größten Risiken«, listet der Wehrminister auf, böten zur Zeit »Osteuropa, Naher und Mittlerer Osten, der Maghreb und der übrige Mittelmeerraum«. Ein »Einsatz an der Südflanke« ist dabei für die 50 000 Soldaten, die Rühe den Krisenreaktionskräften zuteilen will, wahrscheinlicher als Kampf »in Mittel- oder Nordeuropa«.

Die »Südflanke« reicht von Spanien und Portugal im Westen bis zur Türkei im Osten. Südlich des Mittelmeers spannt sich da, so Generalinspekteur Klaus Naumann, ein »Krisenbogen von Marokko bis Pakistan«.

Im Südflanken-Hauptquartier der Allianz in Neapel nehmen die Militärs zwar das Wort »Bedrohung« nicht in den Mund. Aber ihre Planungsdokumente heben immer wieder drei »Risiken und Herausforderungen« an der »Peripherie« hervor: »Islam, Fundamentalismus und staatlicher Terrorismus« - gepaart mit dem Streben nach Atom- und Chemiewaffen, etwa im Iran und Libyen.

Militärplaner in Madrid und Paris plagt die Horrorvision, Zehntausende islamische Nordafrikaner könnten aus Not in ihre Länder strömen. Das Eurokorps, dem die Deutschen angehören, müßte Beistand leisten, etwa wenn die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko gefährdet wären.

Frankreichs Leotard will das Eurokorps nutzen, um mit deutscher Hilfe notfalls Tausende Europäer mit Waffengewalt vor fundamentalistischen Mörderbanden aus Algerien zu retten. Der Druck wächst. Rühe prophezeit: »Das könnte schnell gehen.«

Die Landkarten des Nato-Stabs in Neapel markieren inzwischen nicht mehr die Reichweiten sowjetischer Atomraketen, die von U-Booten im Mittelmeer oder aus der Ukraine starten konnten. Jetzt sind im libyschen Reich des unberechenbaren Muammar el-Gaddafi Abschußrampen von Projektilen aufgemalt, die Frankreich und Italien bedrohen.

Deutschen Besuchern projizieren die Nato-Offiziere besonders gern eine andere Karte an die Wand. Sie zeigt mit einer keilförmigen Schraffur die Flugweite atomwaffenfähiger Jagdbomber, die das fundamentalistische Mullah-Regime in Teheran besitzt: Rühes Heimatstadt Hamburg liegt gerade noch drin.

Die Bundeswehr verstärkt schon unauffällig ihre Präsenz am Mittelmeer: Voriges Jahr dienten nur drei Deutsche bei Nato-Stellen in Italien - als Verbindungsoffiziere. Neuerdings besetzen die Deutschen 13 Stabsposten in den Südflanken-Stäben der Allianz.

Und sie wollen mehr. Es soll, so der Wunsch der Hardthöhen-Planer, nicht bei »Indianern« im Rang eines Majors oder Oberstleutnants für alltägliche Kleinarbeit bleiben. In die Süd-Stäbe müßten auch deutsche »Häuptlinge« - sprich Generäle - zum Befehlen einrücken.

In aller Stille hat die Bundesmarine ihr »Operationsgebiet« von der Nord- und Ostsee auf das Mittelmeer ausgeweitet. Kürzlich gingen erstmals U-Boote auf längere Fahrt dorthin. Sieben neue U-Boote, die ersten wurden Anfang Juli bestellt, werden für die großen Ozeane taugen, nicht allein wie bisher nur für Ostsee und Nordsee.

Für ihre Krisenreaktionskräfte will die Marine außerdem 15 Korvetten kaufen, speziell konstruiert für den Einsatz in »Randmeeren« - wo immer die auf dem Globus liegen mögen. Die Bewaffnung soll es ermöglichen, auch »auf die Küsten einzuwirken«.

Besonders eifrig geht das Heer an die Ausbildung der Truppen im Eurokorps und bei der multinationalen Nato-Division in Rheindahlen bei Mönchengladbach. Auf den neuen Ernst der Lage muß der Brigadegeneral Peter-Johannes von Geyso seine Mannen erst einstimmen: »Für uns ältere Soldaten war es schon immer klar, daß wir womöglich unser Leben riskieren müssen.«

Doch seit 1958 der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die junge deutsche Truppe mit dem spöttischen Auftrag »Nun siegt mal schön« ins Manöver geschickt hatte, war der Nachwuchs in Uniform nach und nach an den Gedanken gewöhnt worden, daß Krieg nur auf Truppenübungsplätzen stattfindet.

Gerade damit sie niemals in den Krieg ziehen müssen, glaubten bisher die wehrwilligen Kinder des Grundgesetzes, sei die Bundeswehr geschaffen: eine Friedensstreitmacht als Lehre aus der kriegerischen deutschen Geschichte.

Geschichte hin, Geschichte her, die Lehre gilt nicht mehr. Jetzt ist es wieder lebensgefährlich, Soldat zu sein. Y

[Grafiktext]

__26_ Deutsche an die Front / Out-of-area-Einsätze d. Bundeswehr

[GrafiktextEnde]

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