ASYL Nur Chuzpe
Nach Betreten des Foyers im Ankunftsbereich ist der Paß »bereitzuhalten«. Das Gepäck wird zeitsparend geröntgt. Die fünf Mark fürs Durchreisevisum sollen »möglichst abgezählt« hingegeben werden.
So garantieren »die Dienste« des Ost-Berliner Flughafens Schönefeld, verheißt eine DDR-Broschüre, den »schnellen und reibungslosen Transit« nach West-Berlin.
Nach Ansicht westlicher Politiker verläuft die Prozedur allzu glatt. Daß den Iljuschins und Tupolews der DDR-Gesellschaft »Interflug« (Slogan: »Weitreichende Verbindungen") zu Tausenden politisch Verfolgte und Wirtschaftsflüchtlinge aus aller Herren Länder entsteigen, ist wieder mal zum innerdeutschen Streitfall geworden.
Den Flüchtlingen wird nicht einmal 24 Stunden Aufenthalt im realen Sozialismus gegönnt. Ost-Berlin, das dem Flüchtlingsabkommen der Uno nicht beigetreten ist, schiebt die Ankommenden unverzüglich in den Westen ab, obwohl sie keine gültigen Einreisedokumente vorweisen können.
Berliner Spezialität: Sind die Asylsuchenden im DDR-Bahnhof Friedrichstraße erst einmal durch die Grenzsperre gekommen, können sie ungehindert mit U- und S-Bahn die Mauer passieren - die Züge halten erst wieder an West-Stationen. Dort prüft selten jemand die Ausweise, schließlich haben die Einreisenden nach Bonner und alliierter Auffassung nur die Demarkationslinie, nicht aber eine völkerrechtlich anerkannte Grenze überschritten.
Sind die Flüchtlinge im Westen, berufen sie sich auf das Grundgesetz, Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«
Von den 73832 Asylbewerbern des vergangenen Jahres nahmen 60,8 Prozent diesen Weg. Etwa die Hälfte davon stellte den Antrag in West-Berlin direkt. Im ersten Halbjahr 1986 nutzten 53,9 Prozent der 42268 Immigranten die Schleuse über Schönefeld. Das liegt alles noch weit unter den fast 108000 Asylbewerbern von 1980, dem bisherigen Rekordjahr der Einwanderungswelle.
In den letzten Wochen aber ist der Zustrom so stark angeschwollen, daß die Behörden in West-Berlin und der Grenzstadt Helmstedt nicht mehr wußten, wohin mit den Asylbewerbern: Turnhallen wurden mit doppelstöckigen Betten bestückt, Zeltstädte aufgeschlagen.
Einträchtig beschuldigten Unionschristen, Freidemokraten und Sozis die DDR, sie habe den Notstand im Westen verursacht. Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble sieht die deutsch-deutschen Beziehungen »in Gefahr«, FDP-Fraktionsvize Uwe Ronneburger klagte Ost-Berlin versuche, die Lage der Bun desrepublik »zu destabilisieren«. SPD-Deutschlandexperte Hans Büchler empfahl dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, den Verfolgten doch in der DDR Unterschlupf zu gewähren.
Der ließ kühl erklären, die DDR entscheide als »freies Transitland« souverän. Das wiederum könne, so West-Berlins Justiz- und Bundessenator Rupert Scholz, »nur als Chuzpe« angesehen werden. Staatsrechtler Scholz: »Ausgerechnet ein Land, das die KSZE-Schlußakte nicht einhält und seinen Bürgern die volle Freizügigkeit verweigert, rühmt sich der Transitfreiheit.«
Wie weit die Freiheit der Asylsuchenden gehen soll, will Außenminister Hans-Dietrich Genscher diese Woche in Moskau mit KPdSU-Chef Michail Gorbatschow bereden. Die Sowjet-Union hat nämlich an den Flüchtlingstransporten über Schönefeld bisher nicht schlecht verdient: 70 Prozent aller Asylsuchenden aus Sri Lanka etwa hatten bis zum vergangenen Jahr ihre Passage bei der Moskauer
»Aeroflot« gebucht. Der »Interflug« waren nur 17 Prozent geblieben.
Die Bundesregierung hofft, daß sie die DDR-Führung noch einmal unter Druck setzen kann. Nach einer Bonner Intervention hatte Ost-Berlin vor Jahresfrist zugesagt, wenigstens den Tamilen, damals Hauptkontingent der Flüchtlinge, den Schleichweg nach Westen zu versperren. Die Vereinbarung war im »Kontext« (Schäuble) zu Bonner Handelserleichterungen, der Erhöhung des zinslosen Überziehungskredites von 600 auf 850 Millionen Mark, ausgehandelt worden - ein fragwürdiger Deal.
Die Einheitssozialisten zeigen derzeit keinerlei Interesse, die Tamilen-Regelung auf Asylsuchende anderer Nationalität auszudehnen, mit denen sie sich dann selbst befassen müßten. Zwar sicherten sie im Februar zu, »Bürger einer Reihe von Staaten« nur mit Sichtvermerk im Paß nach Westen zu lassen. Doch West-Berlin wurde ausdrücklich ausgenommen. Die Stadt stehe, alte DDR-Doktrin, »unter Besatzungsrecht« und sei nicht Bestandteil der Bundesrepublik.
Den Ost-Deutschen geht es nicht nur um Statusfragen, sondern auch ums Geld. Das Staatsunternehmen »Interflug« wirbt etwa in Ghana, unter Hinweis auf »komfortablen"« Transit nach West-Berlin, mit Asylanten-Transporten.
Für Asylbewerber aus Ländern, in denen für die Einreise in die Bundesrepublik Visumzwang besteht, sind die Grenzen praktisch geschlossen, weil die westdeutschen Konsulate die Ausgabe von Visa drastisch eingeschränkt haben. Zudem sind die westlichen Fluggesellschaften, kraft Ausländergesetz, längst in die Rolle von Hilfspolizisten gedrängt worden: Wer in Ländern wie Äthiopien, Indien, der Türkei oder Afghanistan nur die Zwischenlandung in Frankfurt bucht, darf ohne Durchreisevisum nicht mehr in den Jet.
Das Ost-Personal dagegen muß nicht kleinlich sein. West-Berliner Stichproben ergaben vergangene Woche, daß DDR-Paßbeamte in Schönefeld sogar gefälschte Transit-Visa, von Schlepper-Organisationen in der Türkei ausgestellt, anstandslos gegen echte umtauschten.
Auch Asylsuchende, die in andere Staaten weiterreisen wollen, werden gelegentlich nach Westen abgeschoben. So flog ein arabisches Ehepaar mit einem gefälschten Visum für Schweden auf und wurde an der Weiterreise nach Stockholm gehindert. Ein Billett zurück in die Heimat durften die beiden in Schönefeld aber nicht lösen - sie kamen mit der U-Bahn nach West-Berlin.
Dort gehören Schlagzeilen wie »Asylbewerber überschwemmen Berlin« ("Morgenpost") nun zum täglichen Ausländer-Report. West-Berlin muß zwar, nach einer Quotenregelung von Bund und Ländern, nur 2,7 Prozent der Asylbewerber für die Dauer des Aufnahmeverfahrens beherbergen. Doch durch den Ansturm kommt die Stadt finanziell und räumlich in die Enge.
Alles in allem schlagen dieses Jahr 120 Millionen Mark an Sozialkosten für Asylbewerber zu Buche, 40 Prozent mehr als 1985. Auf der Suche nach geeigneten Räumen muß Sozialsenator Ulf Fink gelegentlich gar Widerstand »mit der Blechschere brechen": Er ließ, gegen den Protest der Verwalter, die Kette knacken, mit der ein leerstehendes Krankenhaus gesichert war.
Vorige Woche belegten vor allem Hunderte von Iranern, die vor Folter und dem Kriegsdienst an der irakischen Front flüchten, die raren Schlafplätze. Über Nacht waren Nischen in Baucontainern, freien Amtsstuben und Notzelten requiriert worden. Hochbetten aus dem »Kontingent für Katastrophenfälle« kamen in ein leerstehendes, senatseigenes Herrschaftshaus am Wannsee wie ins Kreuzberger Pennerheim.
Auch ein Berliner Vorort gleichsam, Helmstedt im sogenannten Zonenrandgebiet, war voll: Das ehemalige Waisenhaus, das Obdachlosenheim, eine ehemalige Kneipe, das Haus des Roten Kreuzes, drei Hotels, in Stoßzeiten die Turnhalle, wurden mit Asylsuchenden belegt. Dazu 34 Zelte auf dem alten Schotterplatz des Helmstedter Turnklubs für 350 Menschen - Sikhs, Hindus, Moslems, Männer, Frauen, Kinder.
Der Bundesgrenzschutz hat diesmal, während er früher einen Teil weiterreisen ließ, alle aus dem Zug Warschau - Berlin - Paris geholt. Menschen schlafen auf den Bahnsteigen, im Bahnhofsklo steht die Jauche knöchelhoch: Szenen wie in den Flüchtlingslagern von Pakistan oder Thailand. Ein Helmstedter Helfer: »So schlimm wie im Augenblick war es noch nie.«
Die Ausnahmesituation diente den Unionschristen dazu, einen kaum drei Wochen alten Koalitionskompromiß zum Asylrecht in Frage zu stellen. Ende Juni hatten CDU/CSU und FDP vereinbart, »keine Änderung des Grundrechts auf Asyl vorzunehmen, sondern die praktischen Maßnahmen zur Verkürzung der Asylverfahren zu verstärken«. Nun aber fordert der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, es dürfe künftig keine Automatik bei der Gewährung von Asyl mehr geben, das Grundrecht müsse eingeschränkt werden. Dafür plädierte auch Kanzleramtsminister Schäuble.
Die »lapidare Regelung« des Artikels 16 Absatz 2 Satz 2, wie sie der CSU-Abgeordnete Otto Regenspurger nennt, darf, meint Ex-Verfassungsrichter Martin Hirsch, »nicht einmal mit Zweidrittel-Mehrheit geändert werden": Sie sei »sozusagen nur ein Unterfall« des laut Verfassung unabänderlichen Artikels 1, »der von der Menschenwürde spricht«.
Der Oldenburger CDU-Parlamentarier Werner Broll steuerte eine andere Idee bei, er schlägt die Installierung von »Grenzrichtern« vor. Den Berliner Ansturm könnten die allerdings auch nicht kanalisieren: Wer an einer deutschen Grenze, gleich ob an der Demarkationslinie in Berlin oder am Übergang Kiefersfelden, das Wort »Asyl« ausspricht, muß nach westdeutschem Recht zumindest erst mal ins Land gelassen werden.
Senator Fink: »Das einzige, was hilft, wären Grenzer, die einen grundgesetzwidrigen Gehörschaden haben.«