»Nur die Hoffnungslosen bleiben«
Der Landstrich bei Liverpool wirkt im Novembernebel kalt und abweisend wie eine Mondlandschaft. Eisenbahnschienen verlieren sich in dem konturenlosen Grau. Den Horizont begrenzt ein Müllberg, der wie ein Walfischrücken am Ufer des Mersey-Flusses emporragt.
Auf den Abhängen des Müllmassivs sind Menschen erkennbar, die knietief zwischen Küchenabfällen, Altmetall und Plastiktüten umherstapfen. Sie suchen Eßbares wie Zwiebeln, Speckrinden und Dosenbohnen. Auch gebrauchte Teebeutel werden zum Aufgießen nach Hause mitgenommen.
Zwei Männer zerren leere Obstkisten hervor, um mit dem Holz nachher ihre Behausungen zu heizen. Andere sammeln Fahrradlenkstangen, Drahtreste und Kupferrohre. Eingemummt in schwere Parkas, Sturmhauben aus Wolle auf den Köpfen, erscheinen die Männer wie Schemen aus einem Gruselfilm, Nicht-Lebende und Nicht-Tote.
Inmitten dieser trostlosen Landschaft, verhüllt von Nebelbänken, die von der Mersey-Mündung heranwabern, wiederholt sich ein Stück englischer Sozialgeschichte. Wie zur Zeit der großen Depression vor 50 Jahren buddeln wieder Arbeitslose im Schlamm der Abfallhalden, um ihr Los mit Verwertbarem aufzubessern.
Auch anderswo in Mittelengland, auf den Müllbergen von Manchester und Birmingham, haben die »scavengers«, menschliche Aasgeier, die Möwen von den angestammten Futterplätzen vertrieben. Die Männer auf der Müllhalde von Bidston Moss am Mersey-Ufer trifft die Verelendung aber besonders hart. Viele von ihnen waren früher auf der Großwerft Cammell Laird flußaufwärts tätig; als Werftarbeiter durften sie sich, gleich nach den Kumpeln in den Kohlerevieren, zur Elite der britischen Arbeiterklasse rechnen.
Damals standen auf dem Tresen des Pubs »Royal Castle«, eines viktorianischen Trutzbaus vor den Werfttoren, reihenweise volle Biergläser, noch ehe die Arbeiter zur Mittagspause einkehrten. Sogar der Verkehr kam zum Erliegen, wenn sie die Straße vor dem Royal Castle überquerten. Nun steht auf der Resopaltheke kein Glas mehr, die Gäste von einst schlurfen am Pub vorbei weiter zur Müllhalde.
Cammell Laird, wo in den 70er Jahren 14 000 Mann Bohrinseln und Zerstörer bauten, beschäftigt nur noch 1000 Werftarbeiter. Der große Rest ist arbeitslos und hat vom alten Stolz nur noch den Trotz in die November-Gegenwart gerettet.
Frank Mulligan, der auf dem Kamm des Müllbergs steht, wischt Selbstzweifel mit dem Gedanken beiseite, seine entwürdigende Tätigkeit sei immerhin nutzvolles Recycling. »Aasgeier«, sagt er, »betreiben wohl die niedrigste Arbeitsform. Aber wir pumpen das Zeug ja wieder zurück ins System, zum Schrotthändler und auf den Flohmarkt, oder?«
Im Unglück der Männer vom Müll spiegelt sich die Not einer Stadt mit einer halben Million Einwohnern: Liverpool, einst eine der reichsten Metropolen des britischen Empire, in der Ende des
Zweiten Weltkrieges noch 800 000 Menschen lebten, ist von Bankrott, urbanem Zerfall, sozialem Streß und wirtschaftlichem Niedergang gezeichnet.
Die Hafenstadt, die mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie ins Hinterland und dank eines schiffbaren Kanals nach Manchester einst Schrittmacher der industriellen Revolution war, ist als erstes Zentrum in der alten Werkstätte der Welt ohne Hilfe von außen nicht mehr überlebensfähig. Britische Sozialwissenschaftler haben für den Niedergang der Stadt den Begriff »Urbanizid« geschaffen, der gewaltsame Tod einer großen Stadt.
Gleich neben dem Stadtkern von Liverpool, in dem säulenbewehrte Kolossalgebäude mit wuchtigen Portalen, Freitreppen und Fresken an imperiale Größe erinnern, stehen die Ruinen rußgeschwärzter Ziegelhäuser - Filmkulissen gleich, deren Abbruch nach den Dreharbeiten zu kostspielig schien.
Entlang der Vauxhall Road, einer Hauptachse im Straßenplan der Stadt, erstreckt sich ein Areal, das ein Bombenangriff nicht gründlicher hätte zerstören können. Die Trümmerlandschaft entstand 1981, als Bulldozer und Abbruchbirnen der berühmtesten Fabrik der Stadt, der Zuckerraffinerie Tate & Lyle, den Garaus machten.
Ruinen auch an der zentrumsnahen Kreuzung von Parliament und Catherine Street: Hier steckten arbeitslose Jugendliche 1981 einen ganzen Straßenzug in Brand, darunter den Rialto-Filmpalast, der einmal das größte Kino Liverpools war. Von ihm blieb eine öde Grasfläche, größer als ein Fußballfeld. Anderen Häuserüberresten in der Gegend ist nicht anzusehen, ob sie bei dem Aufruhr demoliert wurden oder schon zuvor zerfallen waren.
Zerstörung ist in Liverpool so weit verbreitet, daß die Stadt wie das Opfer eines mysteriösen Steinfraßes erscheint.
Siedlungen, die erst vor wenigen Jahren gebaut wurden, sind schon wieder abbruchreif. Der Radcliffe Estate im Stadtteil Everton, aus weißen Backsteinen im Stil eines Fischerdorfs in Cornwall gemauert, wirkt von außen putzig wie ein bewohntes Legoland. Aber: Schon bei Tageslicht schlagen hier die Straßenräuber zu. Nun wird, als Präventivmaßnahme gegen das Verbrechen in dem Viertel, der Abbruch des Stadtteils geplant.
Daß Arme den Armen auflauern, passiert nicht nur in Liverpool. Liverpool erfährt aber besonders drastisch und brutal, daß die Finanzierung der Rauschgiftsucht, der Flucht aus Langerweile, Arbeitslosigkeit und dem Dasein in den Mauergettos, einem marktwirtschaftlichen Prinzip der Misere folgt.
Ein Gramm Heroin kostet hier nur 40 Pfund, in Dublin, am anderen Ende der Irischen See, mehr als das Dreifache. Alan Parry, Rauschmittelbekämpfer bei der Gesundheitsbehörde, erläutert den Unterschied: »Hier ist Heroin so billig, weil so viele Leute den Stoff anbieten. Sie bessern damit ihren miesen Lebensstandard auf.«
Jede fünfte Straftat, verwarnungswürdige Vergehen inklusive, wird von Kindern unter 16 Jahren verübt. Ein weiteres Viertel geht auf das Konto von Heranwachsenden bis 21 mit Einbruch, Brandstiftung und Überfall als häufigsten Delikten.
Am 8. Oktober machte der Radcliffe Walk in Everton mal wieder Schlagzeilen. Vier Jugendliche hatten eine 17jährige vergewaltigt und deren Begleiter genötigt, der Vergewaltigung zuzusehen. Danach holten die Täter zwei 10 und 13 Jahre alte Jungen von der Straße, die sich an dem Mädchen ebenfalls vergingen. Dessen geschockter Freund wurde wenig später tot in seinem Zimmer aufgefunden. Todesursache: Heroin.
Die Umwelt prägt ihre Bewohner. Auf dem Saviours Square, umstellt von demolierungsreifen, nur wenige Jahre alten Reihenhäusern, können Kinder allenfalls mit Straßenkötern spielen. Eingeschlagene Fenster und ausgebrannte Wohnungen wirken wie durch schwere Straßenkämpfe zerstört; in solchen Wohnungen, die noch behaust sind, scheinen die Insassen im Kriegszustand mit ihrer Umwelt zu leben: Sie haben Stacheldraht über die Balkonmauern gezogen.
Auch ohne Streik der Müllarbeiter liegen an Straßenecken und auf Grundstücken offene oder geplatzte Müllsäcke; auf den Bürgersteigen treibt der Wind Zeitungs- und Papierfetzen, scheppernd rollen Coca-Cola-Dosen in die Rinnsteine. Brände in leerstehenden Slumwohnungen werden in der Stadt wie ein Naturereignis hingenommen.
Der Liverpooler Autor Ian Williams deutet den Vandalismus und die Brandstiftungen als »unbewußten Akt der Selbstbestätigung«, der den traditionellen Klassenunterschied zwischen »us and them«, »uns und denen da oben«, wie mit einem Fanal markiere. Daß es fast nur in Wohnungen brennt, deren Mieter sich nicht einmal einen Gebrauchtwagen leisten können, spielt offenkundig keine Rolle.
Die großen Gleichmacher am Mersey-Fluß sind Arbeitslosigkeit und Armut. Der Großraum Liverpool, heißt es in einer Studie der Europäischen Gemeinschaft, ist die fünftärmste Region in der EG, nur Irland, die Krisenprovinz Ulster und Italiens Süden mit Sizilien und Kalabrien
sind noch ärmer. Zieht man den Rest des Mersey-Distrikts ab, ist Liverpool sogar die ärmste Großstadt Westeuropas.
Mehr als 60 000 Liverpooler im erwerbsfähigen Alter haben keinen Job; die Arbeitslosenrate von über 25 Prozent nähert sich zügig jener aus der Depressionszeit zu Beginn der 30er Jahre, als 30 Prozent der Liverpooler ohne Arbeit waren.
Selbst der Noch-Mehrheit der Job-Besitzer muß eine karge Existenz genügen: Jeder dritte hält sich mit einer Teilzeit-Beschäftigung über Wasser; drei Viertel davon liegen unter der vom Europarat als »ausreichendes Einkommen« genannten Schwelle.
In Liverpooler Satellitenstädten wie Kirkby ist der Alptraum wirtschaftlicher Stagnation und Krise noch erdrückender. Knapp die Hälfte der Bewohner ist dort »on the dole« - arbeitslos. 70 Prozent der Liverpooler beziehen staatliche Unterstützungsgelder wie Mietbeihilfen oder Kindergeld, 40 Prozent der Bevölkerung leben in 100 000 Sozialwohnungen.
In der Fußgängerzone der Innenstadt herrscht Trubel wie in allen Großstädten. Aber die Schäbigkeit ist augenfällig: Die Passanten tragen Parkas, abgewetzte Mäntel, verwaschene Jeans. Die Straßenkehrer rekrutieren sich aus jungen Männern Anfang 20, die ihre Besen festhalten wie einen Schatz. An einer Straßenecke steht ein Mann, der lange Leukoplaststreifen anbietet. Die Ware hat er wie Patronengurte um die Brust geschlungen.
In Kirkby, wo 60 000 Menschen leben, breiten sich Arbeitslosigkeit und Armut aus wie eine Epidemie. Die Ladenstraße neben der Southdene Methodist Church, ein beliebter »hang out« junger Arbeitsloser, ist mit Stahlblechen gesichert, das Postamt verbarrikadiert wie Fort Knox.
Gemüse und Obst sind in den Läden kaum zu sehen, Konserven stapeln sich dagegen bis zur Decke. Am höchsten ragen die mit den »Baked Beans«, Bohnen mit Tomatensoße. George Orwell, der das Elend Englands in den 30ern beschrieb, hielt die Nahrung aus der Dose für schlimmer als die Erfindung des Maschinengewehrs. Ihr hungerstillender Effekt, mutmaßte er, verhindere jede soziale Umwälzung in Großbritannien.
In die Wettbüros, eine zentrale Institution auch für bitterarme Liverpooler, schlurfen bleiche, abgehärmte Rentnerinnen. Manche gehen barfüßig in ihren Galoschen, weil sie sich keine Strümpfe leisten können. 20 Pence zum Wetten auf ein 10:1 gesetztes Pferd finden sich in der Plastiktüte aber immer noch. Richtig getippt, ergibt sich für die Alten ein Traumgewinn in Höhe von zwei Pfund (etwa 7,50 Mark).
Der Abstieg Liverpools verläuft deshalb so dramatisch, weil sich Rezession, geographische Lage, Gegenwart und Zukunft gegen eine ganze Region zu stellen scheinen.
Neue Verladetechniken und das Umsteuern der Warenströme in die Länder der Europäischen Gemeinschaft reduzierten die Zahl der Hafenarbeiter von 30 000 auf nur noch 2000. Nach Amerika und in Richtung des alten Empire läuft nicht mehr viel, seit Southampton und Portsmouth an der Südküste den größten Teil des Exportumschlags mit den einstigen Haupthandelspartnern übernommen haben. »Die Stadt und der Hafen«, sinniert
der Abgeordnete Eric Heffer, »befinden sich am falschen Ende Europas.«
Der letzte Boom, der Liverpool geblieben ist, erfreut nur die Schrotthändler am Hafen, Herren über die höchsten Schrottberge Europas. Die rostbraunen Halden wachsen proportional zum Niedergang des industriellen Hinterlands, von wo Kolonnen schwerer Laster Kesselanlagen, Turbinen und die Überreste demolierter Fabrikhallen ankarren.
Das Abwracken des ersten Industriereviers der Neuzeit hat Großbritannien wenigstens die europäische Führungsrolle in der Schrottverwertung eingebracht. 1984 fielen acht Millionen Tonnen Alteisen und verbogener Stahl an, von denen die Hütten des Staatskonzerns British Steel gerade die Hälfte verarbeiten konnten. Die andere Hälfte ging in den Export - nach Spanien, Italien, Japan und Korea, die den Briten-Schrott zu Seat-, Fiat-, Toyota- und Hyundai-Autos veredeln und prompt wieder ins Herkunftsland des Schrotts entsenden.
Liverpool ist der größte Schrott-Markt des Inselreichs, hat Alvin Smith, Manager der Firma C.R. Massie Iron, Steel & Non-Ferrous Scrap Merchants, in seinem Büro im Stadtteil Bootle errechnet. 1980 darbten die Schrott-Dealer am Mersey und verschifften kümmerliche 750 Tonnen. 1984 zerkleinerten die »fragmentizer« und hydraulischen Pressen bereits 750 000 Tonnen.
Smith gebietet über eine surrealistische Landschaft aus Roststaub und kreischendem Metall, durchzuckt vom blauen Licht der Schweißbrenner, mit denen Arbeiter das Inventar stillgelegter Fabriken zerschneiden. Melancholisch meditiert Smith über das Chaos in Liverpool: »Die Stadt ist erledigt, hier herrscht der Zerfall, nur die Hoffnungslosen bleiben.« Weil die Mersey-Kais aber im Krisenfall als Nachschubhafen für schweres Material amerikanischer Truppen in Europa vorgesehen sind, wagt der Schrottmann auch diese Prognose: »Mit dem Hafen geht es wieder aufwärts, wenn der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.«
»Die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze ist unwahrscheinlich«, klagt Ruth Cooper von der Distriktbehörde Mercedo, die sich um Industrieansiedlungen bemüht, »man hat das Gefühl, einen Schritt nach vorn und drei zurück zu machen.«
10 000 Arbeitsplätze haben die Mercedo-Beamten seit 1978 in der Stadt geschaffen, 60 000 gingen im gleichen Zeitraum verloren. In den letzten beiden Jahren ließ sich in der Stadt kein größeres Unternehmen nieder. Zuletzt zuckte die Essener Firma Boomex, die Anzündemittel für Grillfans und Camper produziert, vom Bau eines Zweigbetriebs zurück, der 120 Liverpoolern einen Arbeitsplatz geboten hätte. Den Boomex-Boß Theo Spilles, der sich in der Stadt umgesehen hat, dünken Risiken wie Aufruhr und politische Militanz zu groß.
Die Entindustrialisierung Liverpools begann 1979, als im fernen London Margaret Thatcher die Macht übernahm und sogleich forderte, Englands Industrie müsse »schlanker und fitter« werden. Mit Rekordzinsen bis zu 17 Prozent und einem künstlich überhöhten Pfundkurs leistete sie damals ihren Beitrag zur Diät.
Vor allem solche Firmen, die in Liverpool nur Zweigwerke betrieben, speckten zuerst ab - die Stadt, an der Peripherie der großen Märkte gelegen, wurde zügig zum Industrie-Gerippe reduziert.
Der Zuckerriese Tate & Lyle, dessen Begründer Henry Tate in Liverpool einst den Würfelzucker erfand, entließ vor der Abwrackung seiner Fabrik 1700 Mitarbeiter. Andere Unternehmen hielten _(Stich von 1877. )
in einem Tempo mit, das eine Kettenreaktion der Job-Vernichtung auslöste.
Die Keksfabrik British Biscuits feuerte 4000 Mann, der Reifengigant Dunlop 3000, Telecommunications 2000, Ford 1750, der Tabakverarbeiter BAT 1110, der Spielwarenhersteller Meccano 930, der Elektroriese G.E.C. 700, Woolworth 374. Pech für die Stadt war auch, daß der Autokonzern British Leyland die Produktion des Sportwagens TR 7 einstellte - 4500 Arbeitsplätze gingen verloren.
Am härtesten traf der wirtschaftliche Kollaps Satellitenstädte wie Kirkby, deren Bewohner mitten im Grünen arbeitslos geworden sind.
Den Industriepark Kirkbys, ein Riesenareal übersät mit Fabrikruinen, nennen die Einheimischen »death row« - wie die Zellen von Todeskandidaten in Gefängnissen. Hier stellte neben anderen der kanadische Konzern Massey Ferguson die Herstellung von Traktoren für die Farmer Großbritanniens ein. Auch die Drahtfabrik Connolly schloß ihre Tore. Sie werden nun von der Firma »Wolf Security« mit kläffenden Wolfshunden bewacht, als gäbe es in den leeren Fabrikhallen noch etwas zu holen.
Nicht weit davon steht die nächste Schließung unmittelbar bevor: Der amerikanische Lebensmittel-Konzern Kraft mit Hauptsitz in Chicago hat beschlossen, die Produktion von Liverpool nach Belgien zu verlegen. Das bedeutet: 900 weitere Arbeiter aus Kirkby werden ihre Jobs verlieren.
Mehr noch als ihr heruntergekommenes Erscheinungsbild machen solche Management-Entscheidungen, gefällt in den Konzernzentralen britischer und ausländischer Multis, das Schicksal der Stadt deutlich: Sie ist dabei, auf das Niveau einer Drittwelt-Metropole abzusinken, unfähig, ihr wirtschaftliches und soziales Wohl und Wehe selbst zu bestimmen. »Wenn der Nettoverlust an Jobs anhält«, prophezeit Michael G. Hayes, der City Planning Officer von Liverpool, »wird in der Stadt 1991 keine Industrie mehr existieren.«
Pleite ist die Stadtverwaltung, mit 31 000 Arbeitern und Angestellten bei weitem der größte Arbeitgeber, jetzt schon. Die Schulen begannen den Unterricht in diesem Jahr ohne Schreibzeug und Papier. Kurse für junge Frauen, die Sekretärin werden möchten, mußten ohne Schreibmaschine abgehalten werden.
Trotzdem versuchen die Labour-Stadtführer von Liverpool, mit dem Bau Tausender von Wohnungen wenigstens die Wohnungsnot zu dämpfen - ein Unternehmen, das die Finanzkrise der ausgepowerten Großstadt noch schlimmer macht.
Die neu erbauten Häuser besitzen durchweg Vorgärten mit Parkbucht und entsprechen so der ideologisch kuriosen Wunschvorstellung der Liverpooler Linken, in ihrer maroden Stadt die bürgerlichen Werte besserer Gegenden einzuführen.
Die Kosten für den Unterhalt der Häuser, aufgereiht wie Schnittkuchen auf einem Ofenblech, sind ungedeckt und lassen Fachleute schon Schlimmes ahnen. »Vielleicht«, befürchtet Michael Parkinson, Direktor des Zentrums für urbane Studien an der Universität von Liverpool, »müssen sie in zehn Jahren bereits wieder abgerissen werden.« Der stadteigene Wohnungs-Reparaturdienst kommt mit den Flickarbeiten schon jetzt nicht mehr nach. Grund ist der Zusammenbruch eines Computers, der die lange Ausbesserungs- und Warteliste ordnen sollte.
Am schönsten ist es für die armen Liverpooler in den Arbeitsämtern ihrer Stadt. Die sind wie luxuriöse Großraumbüros eingerichtet und Treffpunkt für viele, die sich nicht mehr an der Hoffnung auf Jobs, sondern an den Heizkörpern
der sogenannten Job Centres erwärmen.
Andere mustern, über weiche Teppichböden gehend, die Steckzettel mit Stellenangeboten an den Wänden. Die Intensität, mit denen Angebote wie »restaurant assistant«, »wardrobe assistant« und »bingo caller« geprüft werden, steht der von wohlsituierten Londonern nicht nach, die Bilder in Gemäldegalerien studieren.
Die Job Centres ziehen mehr Besucher an als das Stadion des FC Liverpool, der mit seinen Fußballsiegen lange über den Verlust der Fabriken wegzutrösten schien. Doch nun läßt auch die Faszination des Stadions nach. Die Misere erzeugt Fan-Familien, in denen die Väter und die Söhne ohne Job sind, zu arm und zu apathisch, selbst um noch zum Fußball zu gehen.
Peter Mayhan ist ein Twen, an dessen Schläfen sich graue Haare bilden. Er sitzt daheim im Sessel, dreht die Lautstärke des Fernsehers herab und trinkt schales Bier, das sein Vater mit Hilfe chemischer Zutaten selbst braut. Mit 16 endete für Peter die Schulpflicht, seitdem ist er arbeitslos.
Peter lernte im Verlauf eines Trainingsprogramms, wie man Ziegelmauern aufzumörteln hat. Nach drei Monaten war der Kurs zu Ende. Erfolglos bewarb sich der junge Liverpooler bei Dutzenden von Baufirmen: »Wenn ich da hingehe, stehen schon 200 Schlange. Die sagen, sie würden anrufen, doch das sagen sie immer.«
Tagsüber schauen sich Vater und Sohn Videos an. Die englische Version der Fernsehserie »Das Boot« haben sie schon 31mal gesehen. Peter bezieht 28 Pfund Arbeitslosengeld pro Woche, davon gibt er zehn Pfund als Wohngeld ab. Drei Pfund legt er zum Kauf eines Winteranoraks zur Seite. Einzige Broterwerberin in der Familie ist Mutter Margaret, die als Putzfrau Büros am Hafen säubert.
Einmal in der Woche leisten sich die Mayhans in der Innenstadt ein Einheitsmahl: Fish and Chips mit Malzessig, für die pro Portion ein Pfund und 20 Pence bezahlt werden müssen.
Den Mayhans geht es noch vergleichsweise gut. In der Tees Street am anderen Ufer des Mersey ist lediglich einer, Danny Doyle, in Lohn und Brot. Er arbeitet im Arbeitsamt. Den Weg dorthin ertastet er mit einem langen weißen Stock, Danny ist blind. Deswegen wurde er eingestellt.
Vincent Baker kann zwar sehen. Doch er hatte in den letzten zehn Jahren nur einmal einen Job: Neun Monate arbeitete er als Taxifahrer.
Die Bakers sind bettelarm. Für sich, für seine Frau und für seine beiden Kinder kaufte Vincent das letzte Mal vor sieben Jahren ein Paar Schuhe. Die Schuhe, die in der Familie jetzt getragen werden, fand der Vater auf der Müllhalde von Bidston Moss.
Stich von 1877.