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USA / MY LAI Nur ein Finger

aus DER SPIEGEL 47/1970

»Haben Sie Blut gesehen?« fragt der Ankläger den Zeugen. »Ja.« »Was haben die Menschen getan?« »Sie fielen um und schrien.« »Wie viele waren es?« »Etwa 20 bis 30.« »Wie alt waren die Kinder?« »Etwa eins bis zehn,« Charles Sledge, 23, vor zweieinhalb Jahren Funker des ersten Zugs der C-Kompanie des 1. Bataillons im 20, Infanterie-Regiment der »American Division« in Südvietnam, schildert im Zeugenstand des Militärgerichts zu Fort Hood (US-Bundesstaat Texas) die Ereignisse eines -- so der republikanische Senator Richard Schweiker -- »der dunkelsten Tage in der amerikanischen Geschichte": des 16. März 1968.

An jenem Tag verübten amerikanische Soldaten im südvietnamesischen Dorf My Lai 4 nach Ansicht Schweikers einen »Akt der Unmenschlichkeit«, nach Meinung der Tageszeitung »Philadelphia Inquirer« ein Massenverbrechen, das nur »mit den schlimmsten Tagen Hitlers, Stalins und anderer grausamer Despoten assoziiert« werden könne.

Amerikanische Gis mordeten Babys, erstachen Greise, vergewaltigten Mädchen, erschossen deren Mütter. Vietnamesen verbluteten in Gräben, vor ihren Hütten, in den Reisfeldern, während die Soldaten nach ihrer Amok-Aktion neben ·den Sterbenden ihre Lunch-Rationen verzehrten.

934 Tage danach eröffneten (vergangenen Monat) die US-Militärs die erste Verhandlung wegen My Lai -- gegen den schwarzen Oberfeldwebel David Mitchell jr., der den Tod von 31 wehrlosen Vietnamesen verschuldet haben soll.

Mitchells Vorgesetzter, Oberleutnant William L. ("Rusty") Calley jr., 27, steht seit Montag vor dem Militärgericht, beschuldigt, für den Tod von 102 »orientalischen menschlichen Wesen, Bewohner des Dorfes My Lal 4, deren Namen unbekannt sind«, verantwortlich zu sein. Die Vorverhandlungen gegen sechs weitere Soldaten, darunter den Chef der C-Kompanie, Hauptmann Ernest L. Medina (vor dem My-Lai-Einsatz: »Wenn wir da »rauskommen, lebt nichts mehr!"), sind abgeschlossen. gegen zwei Gis wird noch ermittelt.

Sieben Offiziere, darunter der ehemalige Leiter der Prestige-Armeeschule »West Point« General Koster, seinerzeit Divisionskommandeur in Vietnam, müssen sich möglicherweise noch verantworten. Sie werden beschuldigt, gegen mehrere Militärgesetze verstoßen zu haben, als sie versuchten, das My-Lai-Massaker zu vertuschen.

Doch schon der erste Prozeß ließ ahnen, daß die USA gegen mögliche Kriegsverbrecher in der eigenen Armee kaum so rigoros vorgehen werden wie gegen Kriegsverbrecher von Feindstaaten, etwa in den Nürnberger NS-Prozessen.

Bereits sechs Stunden nach Eröffnung der Verhandlung gegen Mitchell und nach der Vernehmung von drei Zeugen erklärte Ankläger Hauptmann Michael Swan, er habe nichts mehr vorzubringen. Sieben vor dem Gerichtssaal wartende Zeugen wurden nicht mehr zur Ausrottung eines ganzen südvietnamesischen Dorfs gehört.

Die wichtigsten Tat-Zeugen standen dem Gericht ohnehin nicht zur Verfügung: Abgeordneter Edward Hébert, Leiter des Kongreß-Unterausschusses, der die parlamentarische Untersuchung des My-Lai-Massakers geführt und dabei die Zeugen gehört hatte, verweigerte dem Gericht die Herausgabe der Untersuchungs-Protokolle.

Mitchell-Richter Oberst George Robinson jedoch ließ nur Zeugen zu, deren frühere Aussagen den Richtern und Verteidigern schriftlich vorlagen. Folge: Alle Soldaten und Beamten, die vor dem Ausschuß ausgesagt haben, dürfen dem Militärgericht bei der Wahrheitsfindung nicht helfen. Erst ein Beschluß des Kongresses, der bis 16. November in Urlaub ist, kann die Protokolle freigeben.

Er braucht sich nicht zu eilen: Mitchell-Verteidiger Ossie Brown, einziger Zivilist im Verfahren, mußte wegen »körperlicher Erschöpfung« ins Krankenhaus; der Prozeß wurde auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Trotz der Kürze des Verfahrens wurde dabei bereits ein Revisionsgrund für »Rusty« Calley geschaffen. Richter Oberst Reid Kennedy entschied, im Gegensatz zu seinem Kollegen Robinson, daß im Calley-Prozeß auch Ausschuß-Zeugen ohne Vorlage ihrer früheren Aussagen auftreten dürfen. Der Verteidiger des Oberleutnants, George Latimer, wahrte seine Chance: Er warnte Richter Kennedy, der Beschluß gegen Kollege Robinson sei »geradezu ein Hohn«.

Die Anwälte der übrigen Angeklagten deuteten schon in den Vorverhandlungen ihre Marschrichtung an.

Der des Mordes beschuldigte Feldwebel Esequiel Torres, 22, hat nach Ansicht seines Vertreters »nie ein Verbrechen begangen und niemals ein Leben genommen, außer auf Befehl seines Vorgesetzten«. Torres versuchte deshalb auch, den damaligen Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam, General William Westmore

* Mit Verteidiger George Latimer (l.).

land, für das Massaker in My Lai mitverantwortlich zu machen.

Sein Anwalt fügte dem Entlastungsmaterial eine Entscheidung des Obersten US-Bundesgerichts von 1946 bei, wonach ein Befehlshaber für die Kriegsverbrechen seiner Soldaten verantwortlich ist, selbst wenn er den Befehl dazu nicht gegeben hat und ihm das Ausmaß der Verbrechen unbekannt geblieben ist.

Diese Entscheidung freilich hatte einen US-Feind, den japanischen General Yamashita« für Kriegsverbrechen seiner Truppen auf den Philippinen verantwortlich gemacht. Er wurde gehängt.

Vietnam-Befehlshaber Westmoreland, so nun der Torres-Anwalt, sei seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, »die Truppen unter seinem Befehl unter Kontrolle zu halten und sie somit daran zu hindern, sinnlose Verletzungen an Vietnamesen in My Lai zu verursachen«. Ohne Kenntnis der näheren Umstände des My-Lai-Einsatzes hatte der General nach dem Massaker der C-Kompanie gekabelt: »Glückwunsch den Offizieren und Männern für großartige Aktion.«

Der beschuldigte »Specialist 4« Robert T'Souvas wiederum stützt seine Verteidigung auf ein vorschnelles Urteil seines höchsten Chefs: des US-Präsidenten Richard Nixon. Wie im Verfahren gegen den in Los Angeles des Mordes an Sharon Tate und anderen angeklagten Charles Manson hatte Nixon auch in Sachen My Lai noch vor den Richtern geurteilt und von einem »Massaker« gesprochen. T'Souvas fordert nun die Einstellung des Verfahrens, da kein fairer, objektiver Prozeß mehr geführt werden könne.

Schließlich beantragten die Anwälte des Soldaten T'Souvas, der während der Zwischenfälle in My Lai 18 Jahre alt war und sich inzwischen nicht mehr erinnern kann, ob er zwei Menschen erschossen hat, das Verfahren aus »diesem antiseptischen Gerichtssaal« nach Vietnam zu verlegen. Dort würden Offiziere den Prozeß führen, die »die psychologische Belastung für junge Soldaten im Gefecht« beurteilen können.

Andere Soldaten, die in My Lai mitgeschossen hatten, müssen gar nicht erst nach juristischen Tricks suchen. Gis wie Paul Meadlo, der vor amerikanischen Fernsehkameras den Mord an zehn bis 15 Männern, Frauen und Kindern gestand, dürfen aufgrund der bestehenden Militärgesetze nach ihrer -- inzwischen erfolgten -- Entlassung aus den Streitkräften nicht mehr militär-strafrechtlich verfolgt werden.

Zivilgerichte andererseits sind für Verbrechen von Soldaten im Dienst nicht zuständig.

Daß auf diese Art Mit-Täter des Oberleutnant Calley gänzlich unbehelligt davonkommen, erscheint dessen Anwalt Latimer als »eine schreiende Ungerechtigkeit«.

Mandant Calley zieht indessen aus seiner Anklage Prestige- und Geld-Gewinn.

Amerikas Veteranen-Verband forderte in Columbus (Georgia) in einer vierspaltigen Zeitungsanzeige Unterstützung für Calley und Hauptmann Medina und beschuldigte Zeitungen und Fernsehen, »Amerika und die Streitkräfte« zerstören zu wollen. Eine andere Veteranengruppe forderte die Einstellung der Verfahren, denn »kein Amerikaner würde je 102 Menschen einfach ermorden«.

Der US-Verlag Viking Press kaufte für 100 000 Dollar die Erinnerungen Calleys, die nach dem Prozeß als Buch erscheinen sollen.

Das Bilder-Blatt »Esquire« zahlte dem Beschuldigten 50 000 Dollar für eine dreiteilige Serie, die unter dem Titel »Die Bekenntnisse des Oberleutnants Calley« läuft. In der Ichform-Erzählung kommt Calley zu dem Schluß: »Ich bin nur ein Finger, ein kleiner Teil eines Frankenstein-Monstrums.«

»Esquire« zeigte das Frankenstein-Fragment auf dem Titelblatt seiner November-Ausgabe, freundlich lächelnd, vietnamesische Kinder im Arm,

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