AFFÄREN Nur eine Nacht
Immer, wenn Janina Stefanie Scherer, 52, Kanzleigehilfin und Vertraute des Frankfurter Rechtsanwalts Gerhard Straßburger, mit neuen Mandanten aus Polen zur Registrierung ins Durchgangslager Friedland kam, hieß es im Lager: »Die Jenny ist wieder da.« Und wenn Jenny da war, gab"s auch kleine Geschenke.
Wenn die Kanzleigehilfin im Vertriebenen-Referat der Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz zu Neustadt/Weinstraße auftauchte und auf schnellere Behandlung ihrer Fälle drängte, hatte Sachbearbeiter Erich Neumann, wie er sich erinnert, »oft Mühe, ihrer Überzeugungskraft zu widerstehen«.
Vor allem in Ludwigshafen kam sie recht gut voran. Im städtischen FlUchtlingsamt, wo mit dem Verwaltungsangestellten Artur Schneider, 56, die Ausstellung von Vertriebenenausweisen für jüdische Spätaussiedler aus Polen zu besprechen war, lief stets alles glatt. Nach jahrelanger Zusammenarbeit war Janina Stefanie Scherer der Amtsperson Schneider auch privat nahegekommen. Ehefrau Erika Schneider: »Die Jenny war unsere Trauzeugin, und den Kindern hat sie immer Schokolade und Spielzeug mitgebracht.«
Kollege Neumann aus Neustadt, der von Amts wegen die von Schneider bearbeiteten Scherer-Akten zu prüfen hatte, fielen bald Ungereimtheiten auf, und bei diskreten Recherchen in Ludwigshafen erfuhr er, so im Hausflur der Schneiders: »Laufend kam der Geldbriefträger zu denen und kriegte Trinkgelder von 25 Mark.«
Neumanns Aktenstudium ("Da wird an Eides Statt erklärt, die Mutter eines Antragstellers sei in Danzig geboren, und in Wahrheit ist der Geburtsort ein Kaff in der hintersten Walachei") und seine Schnüffelei am freien Wochenende verdichteten bei dem peniblen Sachbearbeiter bald den Verdacht, einer weitverzweigten Betrugs- und Bestechungsaffäre auf der Spur zu sein; er bemühte Polizei und Justiz.
In Straßburgers Anwaltskanzlei sammelte die Kripo daraufhin die Akten von 31 Mandanten, im Hause Schneider Postüberweisungsabschnitte und ein Notizbuch mit akkurat verbuchten Summen ein; Janina Stefanie Scherer und das Ehepaar Artur und Erika Schneider kamen für einige Wochen in Untersuchungshaft.
Vorwurf der Staatsanwaltschaft Frankenthal: Mit gedungenen Zeugen, gefälschten Dokumenten und der Vermittlung von Scheinwohnungen in Ludwigshafen soll das Trio seit 1968 an die 200 Spätaussiedlern jüdischen Glaubens aus Polen den Vertriebenen-Ausweis A »zu Unrecht« beschafft und damit den Staat um Wiedergutmachungs-, Lastenausgleichs-, Renten- und Steuergelder betrogen haben, die -- so der Haftbefehl -- »in die Hunderttausende gehen«.
Nicht nur in der Pfalz wähnen sich die Ermittler seither einem umfangreichen Ausweisschwindel auf der Spur. Wie schon in Offenbach, wo die Polizei im Dezember den Rechtsanwalt Julius Alexander Sitkowski und die Rentnerin Franziska Lesniewski wegen ähnlicher Betrügereien in Haft nahm (SPIEGEL 3/1975), überprüfen Sonderkommissionen auch andernorts, etwa in Hagen, Hamm und Groß-Gerau, die Flüchtlingsakten von Polen-Aussiedlern.
Mit der Angabe, sich stets »zum deutschen Volkstum bekannt« zu haben, wie es das Bundesvertriebenengesetz fordert, waren seit 1968 vornehmlich Polen jüdischen Glaubens in die Bundesrepublik emigriert und hatten deutsche Staatsbürgerschaft beantragt.
Lotsen, die wie Janina Scherer, geboren in Krakau, bei den Registrier- und Einbürgerungsverfahren Schleichwege durch die deutsche Bürokratie weisen, und Flüchtlingsamtsachbearbeiter wie Schneider, die es mit den Dokumenten nicht so genau nahmen, verhalfen den Vertriebenen zum begehrten grünen Vertriebenenausweis und damit auch zu Wiedergutmachung, Renten oder billigen Aufbaukrediten. »Wer«, so Gerhard Reichling vom Bundesausgleichsamt, »durch dieses Nadelöhr durch ist und den Vertriebenenausweis hat, vor dem liegt ein Berg voll Geld.«
Für die Scherer-Klienten, oft polnische Intellektuelle, die als Rundfunkredakteure, hohe Staatsbeamte, Ärzte oder Naturwissenschaftler in Warschau gelebt hatten, bis ihnen die Auswanderung -- freilich nach Israel -- nahegelegt wurde, lag das Nadelöhr in Ludwigshafen am Rhein.
Die flotte Jenny fertigte -- wie die Ermittlungen ergaben -- fehlende Urkunden an, und Erika Schneider ging unterdessen im Auftrag der Frankfurter Trauzeugin in Ludwigshafen auf Wohnungssuche: »Die Leute«, gab später etwa die Vermieterin Elisabeth Reh zu Protokoll, »haben sich bei der Polizei angemeldet, aber dann nur eine Nacht hier gewohnt.«
Ähnlich war es bei Schneiders, die selber von wechselnden Parteien zwei Jahre lang 150 Mark Miete für eine unmöblierte Scheinwohnung kassierten. Schneider akzeptierte im Amt offenbar auch fingierte Urkunden: »Ohne die dienstlich angeordnete Überprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen«, so der Haftbefehl, stellte der Verwaltungsangestellte »Vertriebenenausweise aus«.
»So manche eidesstattliche Versicherung über die Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum«, sagt der Neustadter Privat-Fahnder Neumann nun stolz, »kann ich entkräften, denn man kann ja heute auch im Ostblock wieder alles recherchieren.« Doch während eine Sonderkommission von Justiz und Polizei bei Neumann jetzt noch einmal alle von Schneider bearbeiteten Fälle nach falschen Großmüttern und manipulierten Lebensläufen abklopft, geriet die Posse mit den Papieren unvermittelt ins Tragische. Janina Scherers Chef Straßburger brach nach einer Kripo-Vernehmung zusammen und starb bald darauf auf einer Intensivstation. Ein Arzt aus Warschau, der die Klientel zum Teil psychotherapeutisch betreute, befürchtet »noch einige Selbstmorde bei Betroffenen«.
Mit seinem Eifer, den Einwanderern schon Widersprüche in ihren Akten nachzuweisen, und seinem Drang, »zu verhindern, daß sie den deutschen Staat jetzt melken«, geriet indessen auch der Ermittler von Neustadt ins Zwielicht. Jüdische Scherer-Klienten, etwa in Mainz, »finden dieses Beibringen von Taufscheinen und Geburtsurkunden deutscher Omas einfach ekelhaft«; aus Neumanns branchenbekannter Vorliebe für den Apartheid-Staat Südafrika ("Ein herrliches Land") ziehen die oft ein Leben lang Verfolgten und Diskriminierten nun vieldeutige Parallelen: »Kann ein Herr Neumann schon wieder Politik machen?«
Seit Janina Stefanie Scherer zudem in ihrem Freundeskreis das Protokoll einer Fachreferenten-Besprechung im Mainzer Sozialministerium zur Aussiedlerfrage zirkulieren läßt, in dem antisemitische Töne anklingen, gerät die Pfälzer Affäre tatsächlich in eine neue Dimension von Peinlichkeit.
Textprobe aus dem Hause des Kohl-Ministers Heinrich Geissler: gab Herr (Ministerialrat) Dr. Severin zu bedenken, wie viele Juden schon immer in führenden Positionen in Deutschland gesessen hätten und auch heute noch sitzen (er denke da nur an beide Fernsehanstalten, ARD und ZDF).«