BRASILIEN Nur Kinos
Kilometerlange Sandstrände und liebliche Badebuchten säumen die Avenida Atlántica in Brasiliens alter Metropole Rio de Janeiro. Stoßstange an Stoßstange rollen Autokolonnen die Prachtstraße entlang. Ein ununterbrochener Strom von Passanten schiebt sich an Wolkenkratzern mit Bürosilos, Luxushotels und eleganten Straßencafés vorüber.
1200 Kilometer weiter landeinwärts, in der neuen Hauptstadt Brasilia, durchqueren menschenleere Asphaltpisten eine kühn konstruierte Landschaft aus Beton und Glas. Fußgänger scheinen ausgestorben -- nur auf der Hauptladenstraße W-3 kaufen eilige Hausfrauen ein.
Der Kontrast zwischen der lärmenden Lebendigkeit der alten und der klinischen Kühle der neuen Metropole hat schon manchen Übersiedler verschreckt. Jetzt jedoch löste das Unbehagen an Brasilia sogar eine diplomatische Demarche aus: Sämtliche in Brasilien akkreditierten ausländischen Botschafter verfaßten ein gemeinsames Protestschreiben, das der Doyen des diplomatischen Korps. der Apostolische Nuntius Umberto Mozzoni am Donnerstag vorletzter Woche persönlich im Außenministerium überreichte.
Die Diplomaten wehren sich gegen das »Ultimatum« (so der Resolutionstext), bis zum 7. September 1972, dem 150. Jahrestag der brasilianischen Unabhängigkeit, von Rio in die künstliche Hauptstadt Brasilia umgesiedelt zu sein. Die finanziellen Belastungen eines so kurz befristeten Umzugs, klagen die Diplomaten, sei besonders für die ärmeren Länder untragbar.
Freilich: An der Terminnot sind die Exzellenzen selbst nicht ganz unschuldig. Denn den Stichtag für die Übersiedlung hatte Garrastazu Medici bereits im April 1970 festgesetzt, als die Reißbrettmetropole Brasilia ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Und schon in den Monaten zuvor hatte die Regierung immer wieder zum Umzug gemahnt.
Doch die Gesandtschaften schoben die Übersiedlung immer wieder hinaus --mit gutem Grund: Auch die brasilianischen Behörden arbeiteten, selbst wenn sie ihren Sitz offiziell schon nach Brasilia verlegt hatten, noch immer zum großen Teil in Rio.
Minister und höhere Beamte, so klagten die wenigen bereits übergesiedelten ausländischen Diplomaten ihren in Rio verbliebenen Kollegen, seien in Brasilia nur selten anzutreffen: Sie pendelten zwischen der alten und der neuen Hauptstadt hin und her.
Tatsächlich hat Brasilia, von dem französischen Ex-Kulturminister und Schriftsteller Andre Malraux einst euphorisch als »Hauptstadt der Hoffnung« gepriesen, viele Hoffnungen enttäuscht. Selbst ihre Erbauer -- der marxistische Architekt Oscar Niemeyer und der Städteplaner Lúcio Costa -- kehrten ihr in diesem Jahr den Rücken.
Konzipiert als Schmelztiegel aller Gesellschaftsschichten, »wo die Menschen frei und glücklich leben können (Niemeyer), wurde Brasilia unter den Militärs mehr und mehr »hermetisch abgeschlossen« ("Time"). Heute ist die Stadt, so Niemeyer, »ungerecht und diskriminierend wie die brasilianische Wirklichkeit selbst«.
Von den über 500 000 Einwohnern hausen rund 100 000 in trostlosen Slums ohne Licht und Wasser; rund 200000 bevölkern die vier großen Trabantenstädte, etwa 30 Kilometer außerhalb und ohne ausreichende Verkehrsverbindungen zum Herzen der Stadt.
Das Herz aber will nicht recht schlagen: Restaurants und Kneipen gehen aus Besuchermangel ein, nur Kinos rentieren sich. Um ein wenig lebendige Stadt zu erhaschen, flanieren die Bewohner der Innenstadt gelegentlich in den Vorortvierteln -- dort sind wenigstens die Straßen belebt.
Eine Wohnung in der Innenstadt können sich ohnehin nur höhere Beamte und Funktionäre leisten. Die Häuser in den besseren Gegenden kosten teilweise bis zu 5000 US-Dollar Monatsmiete -- für viele der ausländischen Diplomaten, die jetzt in Brasilia auf die Suche nach einem Domizil gehen müssen, ein unerschwinglicher Preis. Deshalb müssen die ausländischen Regierungen selber bauen -- etwa die Bundesrepublik, die auf einem 25 000 Quadratmeter großen Grundstück eine Botschaft mit eigenem Kino und eigener Papierverbrennungsanlage errichtete.
So wollen viele der jetzt noch in Rio residierenden Botschafter lieber das Land als die Stadt wechseln: 15 von ihnen haben bereits bei ihren Regierungen um Versetzung in ein anderes Land vor Ablauf des Ultimatums ersucht.