AUSSENPOLITIK Nur millimeterweise
Die Herren Botschafter waren eingesperrt. Zwei Tage lang von halb zehn Uhr früh bis elf Uhr abends, am dritten Tag bis nach dem Lunch, saßen sie bei ihrem Chef, Bundesaußenminister Gerhard Schröder, in strenger Klausur - vereint bei der Arbeit wie beim Essen. Nur zum Schlafen durften sie ins Hotel.
Für die außenpolitische Generalstabs-Beratung mit den Missionschefs der elf wichtigsten Auslandsposten - Washington, Moskau, Paris, London, Rom, Tokio, Neu-Delhi, Kairo, Uno, Nato, Vatikan - vom Montag bis Mittwoch letzter Woche hatte Schröder besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen:
- Nicht im betriebsamen AA-Hochhaus an der Koblenzer Straße, sondern abseits, in der Schröderschen Dienstvilla auf dem Bonner Venusberg, versammelten sich die Diplomaten.
- Schon auf den Einladungsschreiben wär vermerkt, daß äußerste Diskretion zu wahren sei.
- In Bonn wurde die Runde nochmals zu strikter Geheinihaltung vergattert.
Den harten Arbeitstag suchte Hausvater Schröder durch familiäres Milieu zu mildern. Zuvorkommend empfing er seine Gäste: »Fühlen Sie sich bei mir bitte ganz wie zu Hause.«
Am ersten Abend bat Frau Brigitte Schröder zu einem festlichen Diner bei Kerzenschein. Mittags spazierten die Exzellenzen inmitten der Baumblüte durch den Ministergarten. Einer seufzte sehnsüchtig: »Jetzt müßte man ein Stündchen schlafen, statt gleich weiterzumachen.«
Doch der Minister gab keinen Pardon: Der Reihe nach sprächen zum Thema »Deutschlands Lage im Ost-West-Konflikt« je 50 Minuten die Staatssekretäre Carstens (aus politischer) und Lahr (aus wirtschaftlicher Sicht), danach- je 20 Minuten jeder einzelne Botschafter über seinen Amtsbereich. Dann ermunterte Schröder seine Gäste zur Diskussion: »Bitte, sprechen Sie ganz offen, meine Herren.«
Die Botschafter hielten mit ihren Meinungen nicht zurück. Freilich erwies sich schnell, daß -sie allesamt auf dem nur in Schröders eigener Partei umstrittenen Entspannungskurs des Bonner Außenministers segeln.
Befriedigt konstatierte Schröder beim Drink: Eine so einhellige Billigung seiner Ideen habe er gar nicht erwartet.
Einer der Botschafter zu CDU-Abgeordneten, die am Dienstagmittag an den Diplomaten-Mittagstisch geladen waren: »Wir haben den Minister mit Munition für seine Bonner Auseinandersetzung versorgt.«
Als Vorreiter auf der Schröder-Linie hatten sich in der Debatte die Botschafter Klaiber (Paris), Duckwitz (Neu-Delhi) und Blankenhorn (Rom) hervorgetan. Der einstige Adenauer-Intimus und frühere Botschafter in Paris, Blankenhorn, übte besonders herbe Kritik an der eigenwilligen Politik de Gaulles.
Am seltensten meldeten sich jene beiden Missionschefs zu Wort; die Bonn in den zwei Machtzentren der Welt repräsentieren: Washington - Botschafter Knappstem und Moskau - Botschafter Groepper.
Knappstein war überrascht von Präsident Johnsons jüngstem Entspannungsschritt: dem Uranabkommen mit Chruschtschow (siehe Seite 83).
Groepper, dessen Versetzung bevorsteht, verbarg nicht, daß sein Verhältnis zu Schröder empfindlich abgekühlt ist. Das Kartoffelwagen-Malheur von Ende Februar (SPIEGEL 12/1964) blieb tabu, aber die Kritik an seinem Moskauer Botschafter, der sich allerdings darauf beruft, er habe nur auf Weisung des AA den Brief des Kanzlers durch einen Amtsboten im Kreml abgeben lassen, wirkte noch nach.
Die strategischen Grundlinien der Bonner Außenpolitik markierte Minister Schröder nach dreißigstündigem Konklave so:
- Vertrauen und engste Bindung zur
amerikanischen Schutzmacht,
- Zurückhaltung gegenüber der Separatpolitik de Gaulles,
- Beweglichkeit im Verhältnis zu den
osteuropäischen Staaten und
- Härte gegenüber der Sowjet-Union in der Deutschland- und Berlin-Frage.
In einem 45-Minuten-Fazit registrierte der Minister ferner: Die Hallstein-Doktrin könne zwar nicht über Bord geworfen werden, doch müsse man für ihre Anwendung »das rechte Maß« finden; de Gaulles Fühlungnahme mit Chruschtschow durch seinen Emissär Faure beschwöre nicht das Gespenst einer »Umkehrung der Allianzen« herauf, weil Frankreich nach politischer und militärischer Interessenlage auf das westdeutsche Glacis angewiesen sei; Erleichterungen in Zentraleuropa als Folge des Konflikts Moskau-Peking seien durchaus nicht gewiß, vielmehr habe die Belastung Rußlands im Osten zunächst zu noch höherer Absicherung seiner westlichen »Militärprovinz« in Mitteldeutschland geführt.
Schröder: »In unserer Beziehung zu Moskau von schrittweiser Besserung zu sprechen, ist schon zuviel; das geht nur millimeterweise.«
Entsprechend skeptisch beurteilten die elf deutschen Botschafter - wie' schon vorher ihre AA-Zentrale - Bundeskanzler Erhards Überlegungen, ob eine Moskau-Reise des Bonner Regierungschefs nützlich sein könne.
Ende vorigen Monats hatte Schröders Auswärtiges Amt auf Anfrage dem Kanzler mitgeteilt, es halte eine Moskau-Reise des Kanzlers zur Zeit nicht für zweckmäßig. Wenn an Besuchskontakte gedacht sei, so möge auf niederer Ebene begonnen werden, etwa mit der seit Jahren offenen Einladung des Obersten Sowjets an den Bundestag.
Auf jeden Fall sei einer Kanzlerreise nach Moskau ein Chruschtschow-Besuch in Bonn vorzuziehen, zumal noch die alte Adenauer-Einladung aus dem Jahre 1955 vorliege. Begründung des Außenamts:
- Protokollarisch seien die Sowjets an
der Reihe.
- Wenn Chruschtschow an den Rhein komme, dann trage er - zumindest optisch - das Risiko eines Mißerfolges, während es umgekehrt dem mit leeren Händen aus Moskau heimkehrenden Kanzler zufiele.
- Eine Bonn-Reise Chruschtschows würde erhebliche psychologische Wirkung auf die Zone ausstrahlen. Ludwig Erhard, der einen solchen Kontakt zu Chruschtschow nicht wie seine Parteimanager als Wahlschlager, sondern als »ernstes Anliegen« betrachtet, will auf Rat des AA mit einer Entscheidung warten, bis die US-Präsidentenwahl im November vorüber ist.
Botschafter-Konferenz auf dem Venusberg*: »Wir haben den Minister mit Munition versorgt«
* 1. Walter Webee (Kairo), 2. Sigismund von
Braun (Uno), 3 Ministerialdirektor Franz Krapf (Chef der II. Politischen Abteilung), 4. Ministerialdirektor Hans Georg Sachs (Chef der Abteilung für Handels- und Entwicklungspolitik), 5. Hilger van Scherpenberg (Vatikan), 6. Ministerialdirektor Josef Jansen (Chef der 1. Politischen Abteilung), 7. Hasso von Etzdorf (London), 8. Außenminister Gerhard Schröder, 9. Horst Groepper (Moskau), 10. Karl Heinrich Knappstein (Washington), 11. Staatssekretär Karl Carstens.