»Nur noch halbe Männer«
Zwei spitze Schenkel, die eine gläserne Rotunde umfassen, ragen als Symbol in die Hügellandschaft des Weserberglands. Der futuristische Palast, getragen von mächtigen Sandsteinsockeln, soll Mann und Frau darstellen, mit ihrem Embryo in der Mitte.
Im Innern, auf 5000 Quadratmetern, großenteils ausgekleidet mit spiegelndem Granit, geht es nur um das eine: ein Kind zu schaffen für Paare, die allein keines bekommen können. Zu diesem Zweck fährt die »Deutsche Klinik für Fortpflanzungsmedizin GmbH« in Bad Münder bei Hannover auf, was die Kunst der Retortenzeugung zu bieten hat und das deutsche Recht erlaubt.
In High-Tech-Labors und Operationssälen extrahieren, konservieren, injizieren _(* Der untere Bildschirm zeigt ) _(Zahlenangaben über die Beweglichkeit der ) _(Samenfäden. )
und implantieren Ärzte, Biologen und technische Assistenten menschliche Eizellen und Spermien. Psychologen begleiten die Paare bei der Erfüllung ihres Stufenplans: Von der schlichten Hormontherapie und Samenübertragung hangeln sich die Patienten empor bis zu den neuesten mikrochirurgischen Methoden, bei denen einzelne Spermien gewonnen und dann mit mikrometerfeinen Pipetten in eine Eizelle injiziert werden.
»Als Herrgott fühle ich mich nicht«, sagt Hausherr Walter Gehring, 44, Gynäkologe, Fruchtbarkeitsspezialist und, wie er selbst sagt, »Besessener«. Den etwa 3000 Frauen und Männern, die den Fruchtbarkeitstempel in Bad Münder jährlich aufsuchen, leiste er »nur mechanische Hilfe und unterstützende Tätigkeit«. Diese Hilfe werden in Zukunft noch weit mehr Paare in Anspruch nehmen, glaubt Gehring, denn: »Wir sind ganz am Anfang des Dramas, der Vorhang ist gerade erst oben.«
Ein anderer Akt desselben Stücks entfaltet sich unterdes 200 Kilometer weiter nördlich - am Universitätskrankenhaus Eppendorf in Hamburg. Dort sucht Wolfgang Schulze, Professor für Andrologie, mit einer neuen Methode jenen Rohstoff zu gewinnen, mit dem Gehring und seine Kollegen ihre aufblühende Industrie der Fortpflanzung speisen: zeugungsfähige Spermien.
Ein winziger Schnitt durch zwei Gewebehüllen läßt aus dem Hoden seiner Patienten eine gelborangene gallertartige Masse hervorquellen. Unter dem Mikroskop wird sie sich wenig später als ein enges Gewirr von Samenkanälchen entpuppen - die Geburtsstätten der Spermien.
»Bei gesunden Männern sehen sie aus wie Gartenschläuche«, erläutert Schulze. »Aber bei unseren Patienten ähneln sie häufig einer vielfach eingeschnürten langen Grützwurst.«
Während bisher Samen gewonnen wurden, indem das Hodengewebe zerquetscht oder, wie es im Fachjargon heißt, »geschreddert« wurde, entwickelte Schulze ein Verfahren, es schonend mit Enzymen zu verdauen. In der entstehenden Gewebssuppe kann er vier Stunden später nach einzelnen Spermien fischen, letzten Überbleibseln einer versiegenden Zeugungskraft. »Mit unserem Verfahren können wir häufig die Ursache einer Fertilitätsstörung klären«, sagt der Hamburger Professor. »Und zugleich können wir damit unfruchtbaren Paaren den Kinderwunsch erfüllen.«
Jede Woche operiert der Professor acht bis zehn Männer am Hoden, um darin nach den empfindlichen, einzelligen _(* Oben: Cornelia und Damir Markovic ) _(in der Klinik Bad Münder beim Transfer ) _(der befruchteten Eizelle in die ) _(Gebärmutter; links: Aufnahme im ) _(Rasterelektronenmikroskop. )
Keimen zu fahnden - der ebenso unscheinbaren wie unverzichtbaren Hälfte jedweder Nachkommenschaft.
Die Vorgänge in den beiden Instituten in Hamburg und Bad Münder sind Teil einer medizinischen Entwicklung, die schon begonnen hat, die Vorstellung menschlicher Fortpflanzung gründlich umzustürzen.
Hatte die Erfindung der Antibabypille in den sechziger Jahren den Sex ohne Fortpflanzung ermöglicht, so bereitete die In-vitro-Fertilisierung (IVF) in den achtziger Jahren der Fortpflanzung ohne Sex den Weg. Damit geriet eine der letzten Domänen der Natur, die menschliche Reproduktion, in die Hände eines neuen, hochtechnischen und profitorientierten Industriezweigs.
Gleichzeitig weissagen einige Propheten unter den Wissenschaftlern, daß schon bald das Schürfen nach Samen, wie es Schulze in Hamburg erprobt, zum Regelfall werden könnte. Die Spermien, so unken sie, werden knapp.
Glaubt man ihren Kassandrarufen, so leiden die Männer unter einem dramatischen Schwund der Spermienzahl und -qualität. Vor allem Umweltgifte, so die These dieser Experten, zehren an den Fruchtbarkeitsreserven des Mannes.
Mehr als ein Jahrzehnt lang, zwischen 1984 und 1995, haben schottische Wissenschaftler die Samenflüssigkeit von 577 Männern untersucht. Letzte Woche wurden die Befunde im British Medical Journal veröffentlicht. Ergebnis: Rückgang der Spermienzahl im Ejakulat um jährlich zwei Prozent. Männer, die nach 1970 geboren wurden, haben rund ein Viertel weniger Spermien als Männer, die um 1950 zur Welt kamen.
Vor einer großen Anzahl synthetischer Substanzen, die »hormonelle Veränderungen bei Tieren und bei Menschen hervorrufen« können, warnte auch die Umweltstiftung World Wide Fund for Nature (WWF). Die WWF-Leute erwogen, das Jahr 1996 zum »Jahr des Spermas« auszurufen.
Angesichts solcher Nachrichten gehen nun vielfach Mann und Frau mit doppelten Versagensängsten in Partnerschaften, als deren Erfüllung und Krönung das gemeinsame Kind gesehen wird.
Als Menschenfreunde und Helfer im Dienst am hohen Gut der Mutterschaft - so empfehlen sich die Reproduktionsmediziner ihrem wachsenden Publikum: Selbst in schier aussichtslosen Fällen versprechen sie den ersehnten Kindersegen mit biotechnischen Tricks herbeizuzwingen.
Das klingt befremdlich in einem Land, das bevölkert ist von Singles und in dem alljährlich 200 000 Frauen eine unerwünschte Leibesfrucht abtreiben lassen - und vollends grotesk in einer Welt, die sich außerstande zeigt, die auf ihr lebenden 5,7 Milliarden Menschen zu ernähren. Rund 15 Millionen Kinder verhungern jährlich in den Armutsländern, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben; viele Millionen sterben an Krankheiten, die mit geringem Kostenaufwand leicht zu heilen wären.
Weder Seuchen und Kriege noch Programme zur Empfängnisverhütung werden nach Ansicht von Fachleuten verhindern können, daß sich die Menschheit innerhalb der nächsten 100 Jahre abermals verdoppelt: Nie bestand also - global gesehen - weniger Grund zur Sorge wegen mangelnder menschlicher Fruchtbarkeit.
Und dennoch schlagen die Hormonforscher nun Alarm. Die männliche Fertilität, jahrtausendelang für eine Selbstverständlichkeit gehalten, rückt in den Mittelpunkt des Forscherinteresses.
Warum erweisen sich so viele Männer als unfähig, Kinder zu zeugen, selbst dann, wenn sie alltäglich Millionen von Spermien bilden? Und vor allem: Nimmt die Zahl der unfruchtbaren Männer zu?
Den Verdacht, daß es einen Engpaß bei der männlichen Zeugungskraft geben könne, trug als einer der ersten ein dänischer Endokrinologe 1992 auf einer internationalen Konferenz in Caracas vor. Niels Skakkebaek war stutzig geworden, als die Zahl der Jungen, die mit Genitalproblemen in seine Praxis kamen, stetig zu steigen schien: Hodenhochstand und Genitalmißbildung, so lautete immer häufiger seine Diagnose.
Als er dann auch noch von der Mühe seiner Kollegen in den dänischen Samenbanken erfuhr, Spender mit tauglichem Sperma zu rekrutieren, wähnte er sich einem Zeitphänomen auf der Spur. Seine Recherche führte ihn in die Bibliotheken. Bis zurück ins Jahr 1940 wertete er sämtliche Daten aus, die er über Spermienzahlen im Ejakulat von Männern finden konnte. Sein Fazit, vorgestellt auf der Konferenz in Caracas, sollte die Kollegen noch jahrelang beschäftigen. »Jeder Mann in diesem Raum«, so faßte es einer der Zuhörer zusammen, »ist nur noch halb soviel Mann wie sein Großvater.«
1940, so hatte Skakkebaek festgestellt, hatten die Andrologen einen Wert von über 100 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit für normal gehalten. 50 Jahre später war dieser Wert zur seltenen Ausnahme geworden. Der Durchschnitt war von 113 auf 66 Millionen gesunken - ein Abfall um 40 Prozent.
Um keine Zahl haben die Fruchtbarkeits-Strategen in den letzten Jahren heftiger gestritten als um diese. Während die einen das Schreckgespenst einer weltweit dämmernden Spermienkrise an die Wand malten, spotteten die anderen über voreilige Panikmache und kritisierten Skakkebaeks Methode: Waren vor 50 Jahren Spermien auf dieselbe Weise gezählt worden wie heute? War die Altersstruktur der Spender berücksichtigt worden? Waren im Jahre 1940 nicht vor allem junge Medizinstudenten untersucht worden, während heute vor allem Patienten Eingang in die Statistik finden, die schon mit dem Verdacht auf Fruchtbarkeitsprobleme zum Andrologen kommen? Und warum schlägt sich die vermeintliche Spermienverarmung bisher nicht in einer wachsenden Zahl unfruchtbarer Paare nieder?
Seit Skakkebaeks Veröffentlichung wagten sich immer mehr Experten mit ähnlichen Studien an die Öffentlichkeit. Ob aus Edinburgh, Paris oder Stockholm, immer war die Botschaft dieselbe: Der männliche Samen wird knapp.
Und je geringer die Zahl, desto dürftiger wurde offenbar auch die Qualität der Spermien. In vielen Proben fanden sich nur wenige wohlgeformte, flinke Samenfäden unter einem Heer von ballonartig aufgeblähten, schwanzlosen, doppelköpfigen oder völlig unbeweglichen Krüppeln.
Vor allem zwei Studien aus Paris und Gent scheinen von den systematischen Fehlern der Skakkebaek-Daten weitgehend gereinigt. In Paris hatte der Reproduktionsbiologe Pierre Jouannet beschlossen, den Spuk von der angeblichen Spermienkrise zu beenden. Über einen Zeitraum von 20 Jahren hatte er mit gleichbleibenden Methoden die Spender seiner Samenbank untersucht. Dank der französischen Neigung zur Bürokratie verfügte er jetzt über einen Datenberg, der, so seine feste Überzeugung, die Skakkebaek-These als Ausgeburt falscher Statistik entlarven würde.
Nach der Auswertung blieb ihm nur, dem dänischen Kollegen recht zu geben: Kontinuierlich war die Samenzahl im Spendersperma von 89 Millionen pro Milliliter im Jahre 1973 auf 60 Millionen im Jahr 1992 zurückgegangen. Von seiner Skepsis bekehrt, wagte Jouannet nun sogar eine Prognose: »Wenn es so weitergeht, werden wir in 70 oder 80 Jahren bei Null angekommen sein.«
Wie ein wahrer Notstandsbericht lesen sich jetzt schon die Ergebnisse aus Gent. Noch 1980 hatte dort Frank Comhaire nur 1,6 Prozent der Spender einer Samenbank als steril diagnostiziert. 5,4 Prozent wurden wegen zu geringer Spermaqualität als Spender ausgeschlossen.
Inzwischen, so berichtet er in einer demnächst erscheinenden Studie, sei die Zahl der Unfruchtbaren auf 9 Prozent gestiegen. 45,8 Prozent mußte er wegen zu weniger oder zu schlechter Spermien wieder nach Hause schicken. »In den Jahren 1992 und 1993 hatten wir nicht einen einzigen Spender, den wir hätten akzeptieren können«, klagt der Mediziner.
Zwar sind die Skeptiker noch nicht verstummt. Doch die Zahl der Experten, die sich von den Daten aus Paris und Gent beeindruckt zeigen, steigt. »Ich glaube schon, daß da was dran sein könnte«, dämmert es etwa dem Gießener Andrologen Wolf-Bernhard Schill. »Es sieht so aus, als hätten wir ein massives Problem«, meint auch Richard Ivell vom Hamburger Institut für Hormon- und Fortpflanzungsforschung.
Inzwischen, vier Jahre nach Skackebaeks erstem Warnruf, beginnt in vielen Instituten die Suche nach den möglichen Ursachen für das rätselhafte Verebben der Zeugungskraft.
Zu enge Jeans oder Slips könnten dazu führen, daß die Hoden in einem zu warmen Ambiente lagern, lautet eine Hypothese. Andere Forscher meinten, künstliches Licht bringe womöglich den Hormonhaushalt der Männer durcheinander. Tabak und Alkohol, Autoabgase, Großstadtstreß und radioaktiver Fallout standen als Verursacher unter Verdacht. Oder ist hier bereits der Treibhauseffekt am Werke?
Nur in wenigen Fällen wurden die Indizienfahnder bisher fündig. Als meistversprechende _(* Aufnahme im ) _(Rasterelektronenmikroskop. )
Fährte gelten inzwischen Einflüsse von chemischen Substanzen, die auf den Hormonhaushalt des Mannes einwirken. So ist seit langem bekannt, daß Alkylphenole, Phthalate und eine Vielzahl anderer Chemikalien an den Hormonrezeptoren andocken und so möglicherweise zu einer Verweiblichung des Mannes führen können.
Unter Anklage stehen damit Stoffe, die jeden Menschen in den hochtechnisierten Ländern in großer Zahl umgeben. Alkylphenole sind in vielen Waschmitteln, Farben, Herbiziden, Textilien und Kosmetika enthalten. Phthalate werden bei der Herstellung von Plastikrohren oder -verpackungen verwendet und sind inzwischen die meistverbreiteten aller Chemie-Erzeugnisse in der Umwelt. »Ein Leben, ohne mit Phthalaten in Berührung zu kommen, ist schlicht undenkbar«, erklärt der britische Endokrinologe John Sumpter.
Mißtrauisch beäugt von der chemischen Industrie, hängte Sumpter Käfige voller Forellen in britische Gewässer. Schon seit Jahren hatte es Berichte von Hobbyfischern gegeben, die ungewöhnlich viele Zwitter geangelt haben wollten - männliche Fische, die jedoch viele äußere Merkmale von Weibchen entwickelt hatten.
Diesem rätselhaften Zwittertum der Fische wollte Sumpter nachgehen, als er seine Forellen vor den Abwasser-Einleitungen von Klärwerken aussetzte. Prompt stieg daraufhin im Blut der männlichen Fische die Konzentration von Vitellogenin auf das 10 000fache - einem Molekül, das nur unter dem Einfluß von Östrogenen gebildet wird.
Im Abwasser der Klärwerke, so folgerte Sumpter, mußten östrogenähnlich wirkende Substanzen (Pseudoöstrogene) die abrupte Verweiblichung ausgelöst haben. »Es gibt keinen Zweifel«, versichert er, »jeder einzelne Zufluß, den wir getestet haben - und wir haben viele getestet -, ist von Pseudoöstrogenen verseucht.«
Einer ähnlichen Spur ging auch Richard Sharpe nach. Der Edinburgher Physiologe fütterte trächtige Ratten mit winzigen Mengen von Phthalaten. Daraufhin gebaren die Ratten Junge, deren Hoden deutlich kleiner und deren Spermienzahl rund 20 Prozent niedriger war als bei den Kontrolltieren.
Für Ratten ist das kaum eine besorgniserregende Veränderung, denn die Nager zeichnen sich, wie alle anderen höheren Tiere, durch eine gewaltige Überschußproduktion fruchtbarer Samen aus.
Deshalb ist kaum erstaunlich, daß es aus dem Tierreich bisher nur wenige Hinweise auf eine Reduktion der Fruchtbarkeit gibt. Meist bleibt nur dort, wo Tierpopulationen regelrecht von Pseudoöstrogenen überschwemmt werden, der Nachwuchs aus.
So entschlüpft den Gelegen der Weißkopfseeadler - des Wappentiers der USA - immer öfter verkrüppelter Nachwuchs. Viele Eier bleiben unbefruchtet, den Männchen fehlt es an Zeugungskraft.
Auch Floridas Alligatoren leiden an Potenzproblemen. Einleitungen einer Fabrik, in der bis in die achtziger Jahre DDT-ähnliche Pestizide produziert wurden, sind vermutlich schuld daran, daß die Fruchtbarkeit der Alligatoren um bis zu 90 Prozent gesunken ist und viele der Jungtiere verkümmerte Penisse haben. Hohe PCB- und DDT-Konzentrationen im Wasser des Mississippi machen offenbar auch die Störe steril.
Empfindlicher aber als Alligator, Adler und Stör ist vermutlich der Mensch. Denn anders als bei allen anderen Tieren scheint die Natur beim Menschenmann besonders geizig mit der Zeugungskraft zu sein.
Zwar bilden sich in den Samenkanälchen der menschlichen Hoden rund 1000 Spermien pro Sekunde - eine, gemessen am Tierreich, nicht gerade beeindruckend hohe, aber zumindest durchschnittliche Produktionsrate.
Auf dem Weg bis in die Samenflüssigkeit jedoch läßt die Qualität drastisch nach. Samenfäden, die bis zur Zwischenspeicherung im Nebenhoden gelangen, sehen bereits erbärmlich aus. Das Ejakulat schließlich scheint fast nur noch von jämmerlichen Spermienkrüppeln bevölkert: Zwischen 80 und 90 Prozent sind bewegungsunfähig, zucken nur müde, sind mißgebildet oder es fehlt ihnen die zum Durchdringen der Eizellhülle benötigte Spitze, das Akrosom (siehe Grafik Seite 230).
»Ein Veterinär würde jeden Bullen mit einem solchen Spermiogramm sofort notschlachten lassen«, erklärt der Hamburger Androloge Schulze. Er habe sich aus dem Tierpark Hagenbeck viele Hodengewebsproben schicken lassen, »aber ein solches Maß an fehlgebildeten Spermien wie beim Menschen habe ich nirgends gesehen«.
Wegen dieser »natürlichen Subfertilität des Menschen«, bestätigt auch sein Kollege Richard Ivell vom Hormoninstitut nebenan, reagiere der Mensch vermutlich weitaus empfindlicher auf äußere Einflüsse als jedes Tier. »Das Problem ist, daß wir deshalb nicht von Tierversuchen auf den Menschen schließen können.«
So neu sind die Alarmrufe der Hormon- und Fortpflanzungsforscher, daß es bisher mehr Fragen als Antworten gibt. Eine ganze Reihe von prominenten Wissenschaftlern hat sich dem zugewandt, was sie das »Mysterium der finnischen Hoden« nennen. Warum, so lautet die Rätselfrage, produzieren die Finnen mit rund 114 Millionen Spermien pro Milliliter fast doppelt so viele wie der durchschnittliche Weltenbürger? Und warum liegen die benachbarten Dänen mit nur 40 Millionen am Ende der weltweiten Fruchtbarkeitsskala?
Auch sonst sind die regionalen Unterschiede in der Spermienzahl bisher wenig erforscht. Vor allem aus der Dritten Welt liegen kaum Daten vor. Und wo sie jetzt erhoben werden, fehlen ältere Vergleichszahlen. Doch wie es scheint, deuten die Zahlen in allen Ländern in dieselbe Richtung.
Nigeria: 64 Millionen Spermien pro Milliliter; Pakistan: 79 Millionen; Hongkong: 62 Millionen; Deutschland: 78 Millionen, so lauten die jüngsten Zählungen. An die Grenze von 100 Millionen - ehedem als normal betrachtet - stößt, außer den Finnen, anscheinend keine einzige Nation.
Auch die Hypothese, Umweltgifte könnten die Ursache des weltweiten Spermienschwundes sein, wirft bislang ungeklärte Fragen auf. So ist seit langem bekannt, daß der Mensch mit seiner Nahrung auch große Mengen an sogenannten Bioflavonoiden aufnimmt, natürlichen Stoffen, die östrogenähnliche Wirkungen zeigen. Warum, so fragen Skeptiker, sollten sie weniger wirksam sein als die aus der Chemieindustrie stammenden Phthalate und Alkylphenole?
Die Erklärung, spekuliert Sumpter, könne darin liegen, daß viele synthetische Stoffe im Körper nicht abgebaut, sondern im Fettgewebe angereichert werden. Zudem, so Sumpter, habe die Evolution Jahrmillionen Zeit gehabt, sich auf die natürlichen Stoffe einzustellen. Der Schwemme synthetischer Substanzen hingegen sei der Mensch jetzt unvermittelt und unvorbereitet ausgesetzt.
Sicher ist nur, daß das Wirkungsgeflecht von Hormonhaushalt und Umweltgiften bisher kaum erforscht ist. Auf 100 000 wird die Anzahl der Industrie-Chemikalien geschätzt, die in die Gewässer gespült, in die Luft geblasen und auf den Feldern versprüht werden. Rund 1000 neue kommen alljährlich hinzu.
Fast keiner dieser Stoffe wurde vorher darauf getestet, wie sehr seine biologische Wirkung der des menschlichen Östrogens gleichkommt. Noch weniger ist über die Einflüsse auf die 70 oder 80 anderen Hormone und Hormonrezeptoren bekannt, die bei der Heranbildung der Geschlechtsfunktionen mitwirken. Und schon gar nicht erforscht ist das komplexe Zusammenspiel all dieser Substanzen im menschlichen Organismus. Deshalb wagt bisher kaum ein Forscher, aus den wenigen, heftig umstrittenen Daten praktische Schlußfolgerungen zu ziehen. Auf der Liste der Verdächtigen steht fast die gesamte Produktpalette der chemischen Industrie.
Sähen die Hersteller sich genötigt, ihre neugeschaffenen Substanzen zusätzlich zur heute bereits vorgeschriebenen Überprüfung auf Toxizität und karzinogene Wirkung darauf zu testen, wie sie auf den Hormonhaushalt des Menschen wirken, würden der Industrie damit beträchtliche neue Kosten aufgebürdet.
Für die Betreiber der neuen Fruchtbarkeitsbranche spielt indes die Frage nach der Ursache von Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen nur eine untergeordnete Rolle. Ihnen reicht es, daß die Nachfrage wächst - nicht zuletzt weil eine wachsende Zahl von Frauen ihren Kinderwunsch auf einen immer späteren Zeitpunkt vertagt.
Schon bei Frauen ab 25 sinkt die Fruchtbarkeit, jenseits der 40 wird eine natürliche Empfängnis zum Ausnahmefall. Gleichzeitig wächst die Akzeptanz der neuen In-vitro-Methoden. Immer weniger Ehepaare scheuen sich, medizintechnische Hilfe in Anspruch zu nehmen - oft selbst dann, wenn ihre Unfruchtbarkeit keineswegs eindeutig nachgewiesen ist. Viele Eltern mit In-vitro-Kindern bringen anschließend auf natürlichem Wege weitere Nachkommen zur Welt.
Dabei rührt, was sich nun in der chromblitzenden, computerbestückten Welt der Befruchtungskliniken abspielt, an tiefwurzelnde Tabus. Von jeher gehören Sexualität und Fruchtbarkeit zum mythischen Wertekanon menschlicher Kultur.
Ob im Gilgamesch-Epos der Sumerer, im altindischen Kamasutra oder im Götterhimmel der Griechen: Überall wimmelt es von Zeugungsakten und steil aufragenden Penissen wie bei Priapus, dem griechisch-römischen Gott der Fruchtbarkeit, der das Gewicht seines Hauptorgans auf der Waage prüft. Gewaltige Hängebrüste und ausladende Hüften zieren die rund 30 000 Jahre alte »Venus von Willendorf«, mit der Jäger in der Altsteinzeit ihre pralle Vermehrungslust ausdrückten.
Fruchtbarkeit und Kindersegen, das bedeutete volle Scheunen und sattes Vieh. Gab es Nachwuchsprobleme, so wurde getrickst - selbst bei den sittenstrengen Juden. »Siehe, der Herr hat mich verschlossen, daß ich nicht gebären kann«, klagte Sara, die Frau Abrahams. In seiner Not bestieg der biblische Stammvater eine junge ägyptische Magd - eine Art frühgeschichtlicher Eispende.
Noch bis zur zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts galt in der von Männern dominierten Medizinerwelt die Glaubensformel: Unfruchtbarkeit ist selten. Und verantwortlich dafür ist grundsätzlich die Frau.
Erst nachdem 1978 das erste Kind aus der Retorte geboren war, änderte sich diese Sicht der Dinge. Was ehedem als natur- oder gottgegebenes Schicksal hingenommen wurde, war jetzt zur behandelbaren Krankheit avanciert.
Aber wohin führt der geradezu atemraubende Fortschritt, mit dem die ärztlichen Zeugungshelfer in den Jahren seither glänzen konnten? Führt die Reise, wie Kritiker fürchten, in Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«? Manches weist tatsächlich in die Richtung jener beklemmenden Utopie, die der britische Science-fiction-Autor in den dreißiger Jahren entworfen hatte: das Schreckbild einer Welt, in der staatliche Brutanstalten biologisch genormten Nachwuchs am Fließband produzieren.
Vieles von dem, was sich auf dem ausufernden Feld der Reproduktionsmedizin heute schon abspielt, läßt die bizarren Auswüchse einer anbrechenden Epoche ahnen, die Huxleys Phantasiegebilde nahekommen könnte. Beispiele: *___In Utrecht hatten die Laboranten bei zwei ____Samenübertragungen dieselbe Pipette verwendet. Die ____Folge: Eine 33jährige, in vitro befruchtete Mutter ____gebar Zwillinge - einen weißen und einen schwarzen ____Sohn. *___In England streiten sich Rechtsgelehrte, ob es ____zulässig sei, daß eine Frau tiefgefrorene Embryonen ____nach dem Tod von deren biologischen Eltern adoptiert ____und sich einpflanzen läßt - und wie es dann um das ____Erbrecht der daraus entstehenden Kinder bestellt sei. *___In den USA bestand eine 22jährige Witwe darauf, ____Samen aus den Hoden ihres bei einem Autounfall ____verstorbenen Ehemannes zu bergen und tiefzufrieren. *___In Italien kündigte die 63jährige Rosanna Della ____Corte zum ersten Geburtstag ihres Sohnes Riccardo an, ____nun wolle sie noch ein weiteres Kind. Helfen soll ____wieder, wie schon bei ihrem ersten Kind, der als ____Zaubermeister der Retorte gefeierte Mediziner Severino ____Antinori.
Wie nahe der Wunsch, kinderlosen Paaren zum ersehnten Kind zu verhelfen, und der Wahn, dabei Gott und Schöpfer zu spielen, beieinanderliegen können, zeigt der Fall Raffaele Magli. Ehedem galt der neapolitanische Arzt als erfolgreicher IVF-Virtuose. Jetzt steht er wegen Betrugs und »schwerer Körperverletzung« des Retortenbabys Giada Minucci vor Gericht.
Das 1992 geborene Mädchen leidet an Thalassämie, einer schweren Form von erblicher Blutarmut, die das Kind von seinen Eltern aber nicht geerbt haben kann. Der Staatsanwalt vermutet, daß bei der künstlichen Befruchtung in Maglis Praxis der Samen des Vaters Minucci mit dem Sperma eines unbekannten Spenders vertauscht wurde.
Ins Kriminelle abgerutscht sind im Zuge ihrer florierenden IVF-Tätigkeit auch ehemals hochangesehene amerikanische Ärzte: Mehr als 80 Patientinnen sind vom Embryonenklau betroffen, den drei Spezialisten einer Klinik im kalifornischen Irvine jahrelang praktizierten. Das Trio stahl Frauen Eizellen oder bereits eingefrorene Embryonen, um sie anderen ahnungslosen Patientinnen zu implantieren. Der Embryonen-Deal von Irvine mache deutlich, urteilte die New York Times im Januar, wie aggressiv die meist privaten Kliniken in den USA inzwischen um Patienten kämpfen.
Gemessen daran, agieren die deutschen Fruchtbarkeitsmagier noch zurückhaltend - nicht zuletzt, weil sie fürchten, in den Schatten ihrer wissenschaftlichen Vorfahren zu geraten.
Die Grundsteine der heutigen Reproduktionstechniken, mahnt die Hamburger Medizinsoziologin Heidrun Kaupen-Haas, seien in den Laboratorien und Kliniken des Dritten Reiches gelegt worden: »Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung war Mittel der Bevölkerungs- und Rassenpolitik.«
1942 wurde eine »Reichsarbeitsgemeinschaft Hilfe bei Kinderlosigkeit in der Ehe« gegründet. Ihre Aufgabe war es, Sterilität in »vollwertigen« Ehen zu behandeln. Empfohlen wurde die künstliche Befruchtung mit den Samen »genetisch hochwertiger« Spender von »einwandfreier Herkunft«. Gleichzeitig experimentierten die Reproduktionsmediziner der Nazi-Zeit in den Konzentrationslagern von Auschwitz und zwei nahe gelegenen Krankenhäusern mit dem Ziel, »Fortpflanzungsunwürdiges« zu eliminieren und »Fortpflanzungswürdiges« zu fördern.
Um nicht in den Ruf zu kommen, mit neuen Methoden den alten Traum von der Zucht »lebenswürdigen Lebens« verwirklichen zu wollen, legten sich die deutschen Reproduktionsmediziner Selbstbeschränkungen auf, so streng wie nirgendwo sonst auf der Welt. Leihmutterschaft, Eispende, Schwangerschaften von Lesben oder 60jährigen - all das läßt das deutsche Recht nicht zu. Nur amtlich getrauten Ehepaaren bieten die IVF-Künstler ihre Dienste an.
Auch die neue Methode der Mikroinjektion einzelner, zum normalen Zeugungsvorgang nicht fähiger Spermien in die Eizelle sollte zunächst in Deutschland verboten werden. Eine Traumatisierung der Eizelle oder die Verwendung untauglicher Samen, so die Befürchtung, könne die Mißbildungsrate der entstehenden Kinder erhöhen.
Trotz solchen Zögerns ist es wenig wahrscheinlich, daß sich die modernen Techniken der Fortpflanzungsmedizin werden bremsen oder gar aufhalten lassen. Das verdeutlicht das Vorpreschen des Lübecker Gynäkologen Klaus Diedrich, der in seiner Klinik jetzt auch die sogenannte Präimplantationsdiagnostik anwenden will - eine Technik, die den Verdacht schürt, der Traum von der gezielten Menschenzucht solle am Ende doch realisiert werden.
Diedrich will Embryonen vor der Implantation auf bestimmte Erbkrankheiten testen. Erbkranke Keime sollen vernichtet und nur die gesunden der Mutter implantiert werden.
Dieses »Selektieren« habe seine Wurzeln in der Zeit der nationalsozialistischen Menschenversuche, warnt Soziologin Kaupen-Haas: Damals wurden an 32 deutschen »Kinderfachabteilungen« Neugeborene auf schwere Krankheiten hin untersucht und - bei Verdacht auf eine erbliche Belastung - getötet. Heute werde mit Hilfe der In-vitro-Fertilisation, so Kaupen-Haas, »das Töten nur immer weiter vorverlegt«.
Ärzten und Biologen werde damit das Recht zugesprochen, zu entscheiden, wer leben darf und wer vernichtet wird, sagt die Hamburger Professorin. »Es sind unglaubliche gesellschaftliche Veränderungen, die da passieren. Die Mediziner handeln, und die Alltagsmoral schlingert nach.«
Die Reproduktionsmediziner indes rechnen damit, daß die Rufe der Skeptiker bald verhallen werden. Gehring, der Chef des Bad Mündener Fruchtbarkeitsschlosses, richtet sich schon darauf ein, »die Präimplantationsdiagnostik demnächst in unser Standardangebot aufzunehmen« (siehe Kasten Seite 234).
Das Publikum gibt seinem Optimismus recht: Die Nachfrage nach Kindern aus der Retorte steigt. Allein in den USA wurden in den letzten Jahren rund 300 meist private IVF-Kliniken gegründet. Alljährlich führen sie rund 30 000 In-vitro-Befruchtungen durch.
Auch die Befürchtung, Eltern und Kinder würden von dem Wissen um die Kunstzeugung Schaden nehmen, hat sich nicht bestätigt. Die Scheidungsrate bei Retortenpaaren liegt unter dem Durchschnitt. Psychologen der Universität London kamen gar zu dem Schluß, Familien aus künstlicher Empfängnis funktionierten »extrem gut«.
Probleme liegen allerdings am Weg, wenn die im Labor gezeugten Kinder in späteren Jahren von ihrer Besonderheit erfahren. In Turbulenzen geriet die Kalifornierin Suzanne Ariel, die erst mit 29, nach dem Tod ihrer Mutter, von ihrer Herkunft aus einer anonymen Samenspende erfuhr.
Schon als Kind hatte Suzanne öfter den Schreibtisch ihrer Eltern nach Adoptionspapieren durchsucht - anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie aussah, als wäre sie in diese »jüdische Familie hineingebeamt worden«.
Auf der langwierigen Suche nach dem leiblichen Vater durchforstete sie die Fotos von Studenten, die in der Praxis des Befruchtungsarztes zur fraglichen Zeit als Spender vorgesprochen hatten. Doch am Ende war es der Arzt selbst, den Suzanne als ihren Vater identifizierte: »Es war, als blickte ich in ein Abbild meiner selbst.«
Auch in Deutschland versprechen immer neue Kliniken das Elternglück aus der Retorte. 16 000 IVF-Kinder wurden seit 1981 geboren. 3500 weitere kommen jährlich hinzu. Und der Markt wächst: Bei den Frauenärzten stehen in jedem Quartal rund 83 000 Paare wegen unerfüllten Kinderwunsches in Behandlung - sie alle potentielle Kunden der wachsenden Fruchtbarkeitsindustrie, die der Nachfrage oft kaum folgen kann. In Berlin etwa sind für Paare Wartezeiten von mehr als einem halben Jahr vor der Behandlung die Regel.
Etwa jedes achte Paar, so das Ergebnis einer großen deutschen Studie aus dem letzten Jahr, ist ungewollt kinderlos - viel zu tun also für die ärztlichen Fortpflanzungshelfer. Aber zugleich könnte die Ausweitung des Angebots auch noch das Interesse einer neuen Klientel wachrufen.
Schon ist klar, daß sich die Reproduktionsmedizin nicht mehr mit der Befriedigung des Kinderwunsches allein zufriedengibt. Vor allem im Ausland, in Belgien, den Niederlanden, Schweden und den USA, läßt sich absehen, daß es nicht mehr nur darum geht, ob Eltern ein Kind kriegen können, sondern auch darum, wie das Kind beschaffen ist.
Während Juristen, Soziologen, Theologen und Philosophen noch darüber streiten, ob diese Entwicklung wünschenswert oder zu verdammen sei, halten die Samenbanken und Gen-Labors längst erste Möglichkeiten einer gezielten Kindeswahl bereit: *___Amerikanische Samenbanken bieten ihren Kunden ____Kataloge mit ausführlichen Porträts der Spender an, um ____eine wohlüberlegte Vaterwahl zu ermöglichen. *___In den Niederlanden, in England und den USA wird ____bereits das sogenannte Sexing praktiziert, eine ____Methode, mit der sich das Geschlecht des zukünftigen ____Kindes gezielt bestimmen läßt. *___Mit der Präimplantationsdiagnostik, in England, ____Schweden, Belgien und den USA bereits erprobt, ____verbinden sich erstmals Gentechnik und ____Reproduktionsmedizin. Damit wird es möglich, zur ____Implantation den Embryo mit den erwünschten genetischen ____Eigenschaften auszuwählen.
Die bizarren Spenderkataloge der US-Samenbanken gelten den Deutschen meist nur als ein Symptom amerikanischen Machbarkeitswahns. Das »Lager für die Wahl des Keimes« im kalifornischen Escondido hat sich darauf spezialisiert, besonders edle Tropfen zu vertreiben. Feilgeboten werden, in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius tiefgefroren, die Spermien von Nobelpreisträgern, Olympiasiegern und anderen Erfolgsmenschen. Derartige Qualitätsware, so der Samenbank-Leiter Robert Graham, dürfe nicht aussterben.
Die Kunden, oft alleinstehende Frauen oder Lesben, haben die Wahl, ob sie sich im Labor mit einem »erfolgreichen Buchautor«, einem »Ausnahmeathleten« oder einem »rechtschaffenen Multimillionär« vereinen wollen. Der IQ ist zwar nicht bei jedem Spender verzeichnet, doch allemal, wie Graham verspricht, dem Durchschnitt »überlegen«.
Nicht ganz so hochkarätig bestückt ist die »Kalifornische Samenbank« in Oakland, dafür ist dort die Datenwut um so größer: Auf jeweils zwölf Seiten eines Fragebogens müssen die Spender ihre Eigenschaften aufzählen. Der Katalog gibt Auskunft über den Knochenbau des Samengebers, darüber, welcher Religion er angehört und ob er Rechts- oder Linkshänder ist.
In Deutschland, wo die Samenbank-Manager von einem Spender nicht mehr als sein Sperma preisgeben, wären derlei Vaterschaften nach Katalog fürs erste undenkbar.
Das Sexing hingegen könnte bald auch hierzulande möglich werden. Die Mediziner machen sich dabei zunutze, daß das Geschlecht eines Kindes ausschließlich durch den väterlichen Samen festgelegt wird: Enthält er ein Y-Chromosom, entsteht ein Sohn; ein Spermium mit X-Chromosom hingegen erzeugt eine Tochter.
Weil X-Chromosomen mehr Erbmasse enthalten als Y-Chromosomen, ist es mit Hilfe der sogenannten Flußzytometrie möglich, die Spermien nach Geschlecht zu sortieren. Die X-Samenzellen in einer Spermaprobe werden auf diese Weise auf bis zu 85 Prozent, Y-Samenzellen auf bis zu 65 Prozent angereichert. Zwar verspricht die Methode keine Sicherheit. Doch die Wahrscheinlichkeit, ein Mädchen oder einen Jungen zu bekommen, läßt sich auf diese Weise gezielt erhöhen.
Noch wird das Verfahren meist nur dazu benutzt, geschlechtsgebundene Erbkrankheiten zu vermeiden. Doch schon wirbt Joseph Schulman, einer der Erfinder des Sexing, im weltweiten Internet für seine Methode, »ein Kind des gewünschten Geschlechts zu bekommen«.
Während sich per Sexing nur das Geschlecht eines Babys wählen läßt, reichen die Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik viel weiter. Wie keine andere Technik ruft sie die Kritiker auf den Plan: Sie sehen hier Züchter am Werk, die mit Hilfe von Embryonenselektion am Ende den Menschen nach Maß herstellen könnten.
Schon heute werden 500 bis 1000 entschlüsselte Gene mit bestimmten Krankheiten in Verbindung gebracht. Wenn erst die vollständige Erfassung des menschlichen Erbguts abgeschlossen ist, wird es vermutlich auch möglich sein, in den Genen bestimmte Eigenschaften wie Augen- oder Haarfarbe, Neigung zur Fettsucht, Krebsanfälligkeit oder gar den Hang zur Aggressivität zu lokalisieren.
»Was wird, außer Erbleiden, noch alles getestet werden?« fragen Skeptiker wie der Bonner Humangenetiker Klaus Zerres. Doch der deutsche Gendiagnose-Pionier Diedrich kontert: »Müssen wir eine Methode schon deshalb ablehnen, weil sie mißbraucht werden könnte?«
Der nächste Schritt auf dem Weg zum Menschen vom Reißbrett wäre es, direkt ins Erbgut der Embryonen einzugreifen. Noch riskiert kein seriöser Wissenschaftler den Vorschlag, im Genlabor den schlaueren, stärkeren oder gesünderen Menschen zu schaffen. Doch was beim Menschen einstweilen noch für unvertretbar gilt, wird von experimentierfreudigen Veterinärmedizinern - den »Steigbügelhaltern der Menschenzüchter«, wie sie von Kritikern genannt werden - seit langem in die Tat umgesetzt.
Im Jahre 1982 präsentierte das Wissenschaftsmagazin Nature auf seiner Titelseite die ersten Riesenmäuse aus dem Genlabor. US-Forscher hatten die Tiere mit fremden Erbanlagen künstlich auf Wachstum getrimmt. Mit ihrem Vorstoß zeigten die Gentechniker, daß planvolle Eingriffe ins Erbgut nicht nur bei Mikroben, sondern auch bei höheren Lebewesen, bei Säugetieren und damit grundsätzlich auch beim Menschen möglich sind.
Mit der Erzeugung der kolossalen Nager war der Damm gebrochen. Seither schufen die Forscher gripperesistente Hühner, Lachse, die mit einem von Polarfischen stammenden Gefrierschutzgen gewappnet sind, und genmanipulierte Riesenkarpfen.
Die Erzeugung solcher transgenen Kreaturen ist allerdings ein Vabanquespiel: Nur bei einem Bruchteil der Embryonen werden die eingeschleusten Fremdgene wirklich im Erbgut verankert. Die meisten Tiere überleben den Eingriff nicht.
Schon deshalb traut sich bisher niemand an die Erbanlagen menschlicher Embryonen heran. Während schon heute die Mediziner damit experimentieren, Leber-, Haut- oder Blutzellen genetisch zu manipulieren, gelten die Keimzellen einstweilen als tabu.
»Keimbahneingriffe sollten wir lassen. Weder verstehen wir genug davon, noch können wir die Auswirkungen wirklich einschätzen«, erklärte der amerikanische Gentherapeut Michael Blaese - doch nur um hinzuzufügen: »Zumindest heute noch nicht. Aber es wäre absurd zu sagen: Das werden wir nie tun.«
Wie schnell ethische Grenzen überschritten werden, wenn sie erst überschreitbar sind, zeigt der Fall Jerry Hall. Vor gut zwei Jahren löste der US-Mediziner weltweite Empörung aus, als er in der Petrischale menschliche Embryonen vervielfältigte. Das Klonen von Menschen, jahrelang nur eine Schreckvision der Science-fiction, war machbar geworden.
Wissenschaftlich hatte Hall nur nachvollzogen, was für seine Kollegen aus der Veterinärmedizin fast schon Routine ist: die Erzeugung künstlicher Zwillinge, Vierlinge und Achtlinge. Das Ziel einer Designer-Kuh vom Fließband vor Augen, vervielfältigen die Tiermediziner auf diese Weise Rinder, deren Erbgut ihnen besonders wertvoll scheint.
Genetisch optimierte Klone, sorgsam modellierte Endlos-Serien erbidentischer Nachkommen, so etwa hatte sich auch Aldous Huxley die Gebärstationen in seiner »Schönen neuen Welt« vorgestellt.
Als wichtiger Schritt auf dem Weg zu den von ihm prophezeiten »Brut- und Normzentralen« fehlt nur noch, den Umweg der befruchteten Eizelle über den Mutterleib abzukürzen.
Doch auch daran arbeiten die Forscher bereits. Schon heute gelingt es, drei oder sogar vier Monate der Schwangerschaft in den Brutkästen der Frühstgeborenenstationen zu überbrücken. Alljährlich wird der Rekord vorangetrieben - zu immer noch kleineren, noch leichteren, noch früher geborenen Säuglingen.
Selbst die vollständige Schwangerschaft im Labor scheint den Forschungsvisionären nicht mehr undenkbar. So transplantierten italienische Gynäkologen Embryonen in isolierte Gebärmütter, die sie Frauen entnommen hatten.
Und der US-Fruchtbarkeitsforscher William Cooper füllte eine Apparatur mit einer amniotischen, das natürliche Fruchtwasser imitierenden Flüssigkeit. Darin hofft er einst auch zehn Wochen junge Embryonen noch durchpäppeln zu können.
Am Ende des gesellschaftlichen Umbaus, so schrieb Huxley 1949 im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines ahnungsvollen Buches, bedürfe es »eines betriebssicheren Systems der Eugenik, darauf berechnet, das Menschenmaterial zu normen und so die Aufgabe der Manager zu erleichtern«.
Zwar sei es technisch und ideologisch noch ein weiter Weg »bis zu Kindern in Flaschen«. Doch was den Zeithorizont dieser Schreckensvision anging, war der Argwohn des Verfassers der »Schönen neuen Welt« in den 17 Jahren seit dem ersten Erscheinen des Buches noch gewachsen.
Huxley 1949: »Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, daß uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt.« Y
In fünf Jahrzehnten sank die Spermienzahl um 40 Prozent
Mehr als 80 Frauen waren vom Embryonenklau betroffen
»Heute wird das Töten nur immer weiter vorverlegt«
»Ein System der Eugenik wird die Arbeit der Manager erleichtern«
[Grafiktext]
Darstellung verschiedener Methoden zur künstlichen Befruchtung
Abnahme der Spermienzahl auf d. Weg vom Hoden zur Befruchtung
Methoden der Manipulation von Embryonen
[GrafiktextEnde]
* Der untere Bildschirm zeigt Zahlenangaben über die Beweglichkeitder Samenfäden.* Oben: Cornelia und Damir Markovic in der Klinik Bad Münder beimTransfer der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter; links:Aufnahme im Rasterelektronenmikroskop.* Aufnahme im Rasterelektronenmikroskop.