SPD Nur Sauerteig
Bei einem Sommerfest der südwestdeutschen SPD auf der Burgruine Hohenneuffen nahe Stuttgart redete Kanzlerkandidat Johannes Rau den Genossen ins Gewissen: »Die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl erreichen wir nur mit den Stimmen aus Baden-Württemberg und Bayern.«
Im Südwesten, so Rau, würden noch erhebliche Kraftreserven der SPD schlummern, »wir können es schaffen, wenn wir zusammenstehen«. Der Spitzenkandidat der baden-württembergischen SPD, Dieter Spöri, pflichtete bei: »Die Sache kann gutgehen, wenn wir auf der Südschiene mehr bringen als bisher.«
Viel war das nicht gerade bei den letzten Bundestagswahlen - nur 31,1 Prozent in Baden-Württemberg im Jahre 1983, immerhin noch 37,2 Prozent bei der Wahl 1980. Die CDU blieb 1983 mit 52,6 Prozent obenauf, bei Landtagswahlen holte sie seit 1972 jeweils die absolute Mehrheit.
In Bayern signalisieren aktuelle Umfragen der oppositionellen SPD ein Ergebnis zwischen 30 und 34 Prozent, bei der letzten Landtagswahl 1982 erreichten die Sozialdemokraten 31,9 Prozent (CSU: 58,3 Prozent). Bei der Bundestagswahl 1983 sah es noch deprimierender aus: Die SPD sackte auf 28,9, die CSU steigerte sich auf 59,5 Prozent.
Während sich die Wähler im Freistaat an die Rolle der SPD als Daueropposition gewöhnt haben, hat sich die CSU zu einer echten Volkspartei entwickelt. »Sommer, Sonne, Bayern - CSU« lautet einer ihrer Wahlkampfslogans, und den Genossen fiel dazu nur resigniert ein, ob sie ihrerseits einen Spruch »Gegen die Arroganz der CSU« plakatieren sollten.
Jetzt wollen sie mit dem dicken Karl-Heinz Hiersemann, ihrem Spitzenkandidaten, den Haupt-Slogan im Wahlkampf bestreiten: »Der Gerechtigkeit mehr Gewicht - Hiersemann«. Die Bayern-SPD, so ein Bonner Wahlkampfplaner, habe »trotz Strauß erstmals eine Chance, deutlich aufzuholen«, sie müsse nur »frecher und kämpferischer werden«.
Parteichef Willy Brandt hat mehrfach gemahnt, die SPD müsse südlich der Mainlinie »deutlich zulegen«, die Wahl könne nicht allein im Norden gewonnen werden. Helmut Schmidt rügte auf einem SPD-Seniorentreffen in Südbaden das Erscheinungsbild schwäbischer Sozialdemokraten. Der biedere Landesvorsitzende Ulrich Lang und sein Vorgänger Erhard Eppler, den Schmidt ohnehin nicht ausstehen kann, mußten sich vom Altkanzler vorhalten lassen: »Mit Sauerteig allein läßt sich kein Brot und nur mit Intellektualität keine Partei backen.«
Nach einer Studie der Dortmunder »Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen« ("Forsa") könnte Rau bei Mobilisierung aller SPD-Sympathisanten und einem Zugriff auf CDU-Wähler auch die absolute Mehrheit schaffen. Bei dieser Rechnung werden der baden-württembergischen SPD allerdings utopisch anmutende 46,1 Prozent zugeschrieben.
An solche Zuwächse glauben selbst die Genossen nicht. SPD-Lang findet allenfalls ein Plus von fünf bis sechs Prozentpunkten realistisch. Bei der Bundestagswahl 1972 hatten die Sozialdemokraten mit 38,9 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis in Baden-Württemberg erreicht.
Nun machen sich Rau, Lang und Spöri gegenseitig Hoffnung, Baden-Württembergs SPD könne eine »Vierzig-Prozent-Partei« werden. Rau: »Haben wir damit die Meßlatte zu hoch gelegt?« - natürlich: »Nein!«
In Strategiepapieren visiert die SPD-Führung den »nicht festgelegten Wähler« aus der »technischen und sozialen Intelligenz« an. Statt altgedienter Parteifunktionäre werden als Bewerber jungdynamische Aufsteiger bevorzugt, die im Wahlkampf mehr auf das Uni-Examen als auf das Parteibuch verweisen.
Allein mit Jammern über die Bonner Wendepolitik und Versprechungen auf noch bessere Zeiten, das wissen die Sozialdemokraten, sind im prosperierenden Ländle keine Stimmen zu holen. Das Lohnniveau liegt hier um zehn bis zwanzig Prozent höher als in Norddeutschland, die Arbeitslosigkeit stets erheblich unter dem Bundesdurchschnitt, Vermögen und Besitz der Bürger übertreffen alle anderen Regionen.
Bisher können die Sozialdemokraten nur in Kommunen beträchtliche Erfolge aufweisen, bei der Volkswahl von Oberbürgermeistern und Bürgermeistern, und zwar immer dann, wenn Kandidaten ohne allzu deutliches SPD-Image auftraten.
Nach diesem Rezept eroberte die SPD in den letzten Jahren gut zwei Dutzend zuvor schwarze Rathäuser - so in Böblingen und in Weinheim, in Filderstadt und in Leinfelden-Echterdingen. Der Auftakt war in Freiburg, wo seit 1982 der ehemalige Bonner Staatssekretär Rolf Böhme regiert, und in Lörrach, wo seit 1983 der frühere Bonner Entwicklungshilfe-Minister Rainer Offergeld als Oberbürgermeister amtiert.
In der Technologie- und Industriestadt Böblingen gelang es den Sozialdemokraten im Februar dieses Jahres, weit in bislang kaum erreichte Wählerschichten vorzustoßen: das mittlere Management und die technische Intelligenz.
Zum Oberbürgermeister gewählt wurde dort der 41jährige Diplom-Volkswirt Alexander Vogelgsang, ein Bonner Wirtschaftswissenschaftler und Mitarbeiter _(Beim SPD-Sommerfest auf der Burgruine ) _(Hohenneuffen; rechts: der ) _(baden-württembergische Spitzenkandidat ) _(Spöri. )
von Ex-Kanzler Schmidt. Er löste den Christdemokraten Wolfgang Brumme ab, mit 38 Jahren Amtszeit dienstältester OB in Baden-Württemberg.
Vogelgsangs Erfolg stützt die für die Bundestagswahl propagierte These des SPD-Bundesgeschäftsführers Peter Glotz, die SPD könne nur dann wieder regierungsfähig werden, wenn sie sich »an die Randschichten des konservativen Blocks herantraut.«
Wie das am besten zu bewerkstelligen ist, hat der Pforzheimer OB Joachim Becker, 43, vorgemacht. Obwohl die CDU bei Wahlen in Pforzheim seit Jahrzehnten dominiert, gewann der Sozialdemokrat im Juni 1985 im ersten Wahlgang 55,8 Prozent der Stimmen. Beckers Erkenntnis: Für die SPD sei »jede Strategie falsch, die nur darauf abzielt, die Stammwähler zu mobilisieren, weil dadurch keine Mehrheiten möglich sind«.
In einem Leitfaden für Kandidaten ("Erfolg im Wahlkampf") hat Becker »persönliche Erfahrungen« zu Papier gebracht, die sich vor allem für seine eigenen Genossen verblüffend lesen. Ein Kernsatz: »Sozialdemokratische Bewerber haben bei Bürgermeister-Wahlen in Baden-Württemberg nur dann eine echte Chance, wenn sie aussehen wie CDU-Mitglieder.« Der SPIEGEL druckt Auszüge:
Beim SPD-Sommerfest auf der Burgruine Hohenneuffen; rechts: derbaden-württembergische Spitzenkandidat Spöri.