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Artikel 18 / 53

OSTBLOCK / WARSCHAU O Polen, deine QuaI!

aus DER SPIEGEL 44/1956

Gleich einem gepeinigten Stier brach Ende der vorletzten Woche Polens Freiheitswille aus der stalinistischen Hürde. Auf der entfesselten Bestie reitend, stürmte Wladyslaw Gomulka - vor einem halben Jahr noch ein Verfemter - auf den Gipfel der Macht. Er wurde Erster Sekretär der Vereinigten Arbeiterpartei Polens.

Am Montagabend der letzten Woche toste durch Warschaus Straßen der Siegesjubel des Gomulka-Aufstandes, der - packend und schön in seiner todesmutigen Haltung angesichts des dräuenden russischen Kolosses - die Parole »Freiheit und Brot« auf seine flatternden Fahnen und grellen Transparente geschrieben hatte. Doch schon wenige Tage später mußte Gomulka mit einem Unterton der Drohung vor »nationalistischen Entgleisungen« gegenüber den Sowjets warnen. Er betonte, daß ein sozialistisches Polen nur im Rahmen der Freundschaft mit der Sowjet-Union möglich sei, und Polens Ministerpräsident Cyrankiewicz flunkerte in einer Rede: »Bei der Bekämpfung dieser (antisowjetischen) Ausbrüche wurden wir von der polnischen Arbeiterklasse und der großen Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützt, die bestmögliche Beziehungen mit unseren (sowjetischen) Verbündeten auf der Grundlage der Gleichberechtigung und die Selbstregierung unseres Landes wünschen.« Entgegen dieser Darstellung ist Tatsache, daß die polnische Arbeiterschaft der Regierung keineswegs gegen antisowjetische »Ausbrüche« beistand, sondern im Gegenteil die Regierung in deren Kampf gegen die Sowjets unterstützte.

Am Schluß seiner Rede gab Cyrankiewicz die Parole der Zukunft aus: »Was jetzt nötig ist, das sind gesellschaftliche Disziplin, Verantwortungsbewußtsein, ein festes Auftreten gegenüber der Disziplinlosigkeit.« Und Gomulka drohte: »Wenn jemand denkt, daß es in Polen gelingt, antisowjetische Stimmungen zu entfachen, dann irrt er sich gründlich.«

Der von der Euphorie der Freiheit gepackte polnische Stier soll - das war der Sinn der jüngsten Reden Gomulkas und Cyrankiewiczs - wieder lernen zu gehorchen und nach Norm und Plan brav zu arbeiten.

Freilich sollen jetzt nicht mehr die Russen die Hüter der sozialistischen Zucht und Ordnung Polens sein, sondern die polnischen Kommunisten selbst. Deren Ziel ist letztlich ein nationalistischer Kommunismus.

Von diesem Ziel trennt sie jedoch noch ein weiter, schwieriger Weg. Um die Disziplin wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, ist eine selbstbewußte Partei vonnöten. Die Funktionäre der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei aber fürchten sich vor den Schatten der Vergangenheit und halten Ausschau nach den Vorzeichen neuer Wendungen.

»Festes Auftreten gegen Disziplinlosigkeiten« ist Sache der Armee und der Polizei. Die eine aber weiß zur Stunde nicht,

wem sie gehorchen soll, und die andere ist durch die Entstalinisierung demoralisiert.

Der panische und nicht sehr entschlossene Widerstand der Sowjets gegen die Machtübernahme Gomulkas hat darüber hinaus ein Doppeltes bewirkt: Er hat Gomulka gezwungen, auf nationalistische und freiheitliche Kräfte zurückzugreifen, die er als Kommunist eigentlich mißbilligt; diese Kräfte sind dadurch, daß die Sowjets schließlich vor ihnen kapitulierten, nur ermutigt worden.

Der entscheidende Tag dieser Entwicklung war Freitag, der 19. Oktober. Um 10 Uhr morgens versammelte sich das über hundert Mitglieder zählende Zentralkomitee der Vereinigten Arbeiterpartei Polens in einem vierstöckigen Bau des Ministerpräsidentenamtes in der Stalin-Allee. Auf der Tagesordnung der Sitzung, die mehrere Tage dauern sollte, stand die Wiederaufnahme Gomulkas in das Zentralkomitee. (Gomulka war im Herbst 1948 als Titoist seines Postens als Generalsekretär der Partei enthoben worden, später wurde er aus der Partei ausgestoßen und interniert. Wann er aus der Internierung entlassen wurde, ist unbekannt. Im Frühjahr wurde er wieder in die Partei aufgenommen.)

Das Straßenbild der Stadt verriet am Morgen des 19. Oktober keinerlei Unruhe. Es regnete leise, und auf der Nowy Swiat, einer großen Geschäftsstraße, an der auch die Universität liegt, herrschte der übliche Verkehr. Offenkundig war die Bevölkerung überzeugt, daß die Rehabilitierung Gomulkas reibungslos verlaufen würde.

Tatsächlich vollzog sich die Wiederaufnahme des Rebellen in das Zentralkomitee ohne Widerstand. Mit ihm kehrten der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister, General Marian Spychalski, und die Gomulka-Freunde Zenon Kliszko und Loga-Sowinski in das Komitee zurück.

Unmittelbar darauf erklärte das zwölf Mitglieder zählende Politbüro seinen Rücktritt. Damit begann der Kampf um die Zusammensetzung des neuen Politbüros, des wichtigsten Gremiums der polnischen Partei- und Staatsführung. Freunde Gomulkas brachten eine Liste ein, in der Gomulka den ersten Platz einnahm. Der Name Rokossowski fehlte.

Konstanty Rokossowski ist Pole von Geburt, aber sowjetischer Marschall. Im Jahre 1949 - kurze Zeit, nachdem Gomulka als Generalsekretär der Vereinigten Arbeiterpartei abgelöst wurde - machte ihn Stalin zum Oberbefehlshaber der polnischen Armee und zum Verteidigungsminister Polens. Persönlich wenig an Politik interessiert, gleichwohl aber Mitglied des polnischen Politbüros, wurde er zum Symbol der russischen Herrschaft über Polen.

An dem Symbol »Rokossowski« - weniger an dessen Person - entzündete sich der Konflikt der beiden Gruppen in der polnischen Parteiführung. Als Führer der Pro-Rokossowski-Gruppe fungierte ein hoher Funktionär namens Zenon Nowak. Auf seine Initiative hatte sich vor Wochen die sogenannte »Natolin«-Gruppe gebildet. Der Name stammt von einem Schlößchen außerhalb Warschaus, das einst dem Grafen Potocki gehörte. Nach dem Posener Aufstand hatten sich dort die Stalinisten der Partei zu einer Geheimkonferenz getroffen, auf der die Rückkehr zu »harten« Methoden beschlossen wurde.

Die »Natolin«-Gruppe bildet den stalinistischen Flügel im Zentralkomitee, und Zenon Nowak war es, der sich in der Vormittagssitzung des 19. Oktober der Ausbootung Rokossowskis aus dem Politbüro am heftigsten widersetzte.

Eine mittlere Position zwischen dem Natolin-Flügel und der Gomulka-Gruppe bezogen während der Debatte über die Zusammensetzung des neuen Politbüros Ministerpräsident Cyrankiewicz und Edward Ochab, seit einem halben Jahr Erster Sekretär der Partei.

Während die Debatte über die Neuwahl des Politbüros noch im Gange war, gab Ochab eine für die meisten Mitglieder sensationelle Erklärung ab. Er bat, die Sitzung zu unterbrechen, da zu eben dieser Stunde der sowjetische Parteichef Chruschtschew mit drei anderen hohen Kreml-Führern

auf dem Warschauer Militärflugplatz eingetroffen sei. Die Gäste würden, so gab Ochab bekannt, in das nahegelegene Belvedere-Palais fahren, wo sie das polnische Politbüro zu sprechen wünschten.

In diesem Augenblick war Polens Vereinigte Arbeiterpartei jedoch ohne ein fungierendes Politbüro. So wurde in aller Eile eine Kommission zusammengestellt, der neben den alten Politbüro-Mitgliedern Ochab und Cyrankiewicz auch Gomulka angehörte. Dieser Umstand muß für Chruschtschew eine Enttäuschung gewesen sein. Mitglieder der Cyrankiewicz-Gruppe erzählten hinterher ausländischen Korrespondenten, daß Chruschtschew sich im Belvedere-Palais zunächst geweigert habe, dem Gomulka die Hand zu geben.

Der sowjetischen Kommission gehörten außer Chruschtschew noch Molotow, Kaganowitsch und Mikojan an. Diese Zusammensetzung sollte offenbar die Einheit des Kreml demonstrieren. Molotow und Kaganowitsch gelten als Stalinisten und Gegner Chruschtschews, Mikojan soll zwischen den beiden Kreml-Fraktionen als Vermittler fungieren.

Die vier Kreml-Führer traten den Polen an der Spitze einer uniformierten, ordenglitzernden Eskorte entgegen. Hinter ihnen hatten sich die massiven Figuren 14 sowjetischer Offiziere im Generalsrang aufgebaut, darunter der Marschall Konjew und der General Antonow.

Die Funktionäre brüllten sich an

Das monolithisch-militante Auftreten der Sowjets machte auf die Polen jedoch wenig Eindruck. Sehr schnell kam es zu einem heftigen Wortwechsel. Einzelheiten darüber erfuhren ausländische Korrespondenten von Männern der Gomulka- und der Cyrankiewicz-Gruppe.

Nach deren Berichten nannte Chruschtschew den Gomulka einen »Verräter«, drohte den Polen mit den unter dem Oberbefehl Rokossowskis stehenden polnischen Truppen, die In der Nähe von Warschau zusammengezogen seien, und erklärte, daß eine in Schlesien stationierte sowjetische Division auf dem Marsch nach Warschau sei.

Daraufhin soll Ochab aufgesprungen sein und die Sowjets wütend angeschrien haben: »Wenn ihr nicht sofort diese Bewegungen stoppt, werden wir hier herausgehen und jeden Kontakt mit euch abbrechen!«

Chruschtschew hat daraufhin - immer nach polnischen Quellen - gebrüllt: »Ich will euch zeigen, wie der Weg zum Sozialismus aussieht. Wenn ihr nicht gehorcht, werde ich euch vernichten. Wir werden Gewalt anwenden, um jeglichen Widerstand hier zu brechen. Wir werden nicht dulden, daß Polen in die Hände der amerikanischen Imperialisten fällt.«

Gegen 18 Uhr wurde das Wort-Massaker Im Belvedere-Palais ergebnislos abgebrochen. Als authentisch kann gelten, daß die Sowjets in ultimativer Form forderten, Rokossowski solle nicht nur Verteidigungsminister Polens, sondern auch Mitglied des Politbüros bleiben, und daß sie ferner verlangten, in das neue Politbüro - müßten außer Rokossowski noch weitere Mitglieder der »Natolin«-Gruppe gewählt werden.

Von 18 bis gegen 23 Uhr diskutierten die Polen im Ministerpräsidentenbau das sowjetische Ultimatum. Dann kehrte die Kommission in das Belvedere-Palais zurück, wo die Polen mit der Kreml-Abordnung erneut, und zwar bis gegen zwei Uhr morgens, verhandelten. Auch diese Konferenz endete ohne ein praktisches Ergebnis. Zwar verkündete ein am Sonnabend veröffentlichtes Kommuniqué, daß man in »freundlicher Weise und im Geiste der

Parteiverbundenheit« miteinander gesprochen habe, doch konkrete Aufschlüsse gab das Kommuniqué nicht.

Erst aus späteren Informationen und Ereignissen konnte man ablesen, wie erbittert auch die zweite Auseinandersetzung im Belvedere-Palais gewesen sein muß. Am Sonnabend - nachdem Chruschtschew, Molotow, Kaganowitsch und Mikojan wieder nach Moskau abgeflogen waren - griff die »Natolin«-Gruppe in der Sitzung des Zentralkomitees den Sekretär der Arbeiterpartei-Organisation Warschaus an, weil er Betriebsbelegschaften gegen Rokossowskis Truppen mobilisiert hätte. Tatsächlich waren am 19. Oktober die Arbeiter mehrerer Fabriken Warschaus in ihren Betrieben zusammengehalten, wenn auch nicht bewaffnet worden.

In der Debatte über diese Vorwürfe wies die Gomulka-Gruppe auf Rokossowskis Truppenkonzentrationen im Raum Warschaus hin. Rokossowski kalauerte soldatisch-herausfordernd, die Soldaten kehrten soeben von der Kartoffelernte zurück, womit er einen Heiterkeitserfolg erzielte.

Mitglieder der Cyrankiewicz-Gruppe bestätigten Anfang letzter Woche dem Korrespondenten des Pariser »Monde«, Philippe Ben, daß die inoffiziellen Nachrichten über militärische Konzentrationen zutreffend gewesen seien. Man habe sie offiziell nicht bekanntgeben können, sei aber sehr froh gewesen, daß die ausländische Presse darüber berichtet habe.

Daß Chruschtschew Warschau grollend verlassen hatte, zeigte sich in der Sonnabend-Ausgabe der Moskauer »Prawda«. Das offizielle sowjetische Parteiblatt erschien mit drei Stunden Verspätung und enthielt einen bösen Artikel gegen Polen.

Der Aufsatz stammte von dem Warschauer »Prawda«-Korrespondenten und war offenkundig in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend, nach dem Abbruch der polnisch-sowjetischen Verhandlungen im Belvedere-Palais, formuliert worden - wahrscheinlich auf Anweisung Chruschtschews und seiner drei Partner. Das erklärt, warum die »Prawda«-Redaktion das Eintreffen des Aufsatzes abwarten und ihren Druck um drei Stunden verzögern mußte.

Der Aufsatz kritisierte einleitend einige Äußerungen der polnischen Presse, die zum Beispiel die polnische Arbeiterpartei aufgefordert habe, mit der Parole »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« Schluß zu machen. Der »Prawda«-Artikel erklärte dazu: »Es ist doch so, daß derartige Aufsätze in den letzten Tagen immer häufiger in Warschauer Zeitungen zu lesen sind, und - ob die Führer der ideologischen Front in Polen es wollen oder nicht - sie sind ein umfassender Feldzug, der die Grundfesten der volksdemokratischen Ordnung erschüttert.«

Mit der Wendung »Ob die Führer der ideologischen Front es wollen oder nicht« formulierte der »Prawda«-Artikel augenscheinlich den Standpunkt, den Chruschtschew, Molotow, Kaganowitsch und Mikojan in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend gegenüber den Polen eingenommen hatten.

Ob ihr Polen es wollt oder nicht - so könnte man danach rekonstruieren, was Chruschtschew den Polen sagte -, eine nationalistische Entwicklung wird euch entgleiten. Sie führt zwangsläufig aus den Bahnen des Sozialismus in die einer nationalen und antikommunistischen Revolte.

Die Polen beugten sich dieser Argumentation nicht. Am Sonntag wählten sie ein Politbüro, in dem Gomulka amtiert, Rokossowski dagegen fehlt, und in dem die »Natolin«-Gruppe nur durch ihren schwächsten Gefolgsmann vertreten ist. Sie beließen den Marschall zwar in seinem Amt als Verteidigungsminister, setzten ihm aber einen persönlichen Feind, den langjährigen Häftling General Spychalski, als Stellvertreter und Leiter der politischen Abteilung ins Amt. Und schließlich wurde Gomulka, den Chruschtschew einen »Verräter« genannt habe, sogar zum Ersten Sekretär der Partei gewählt.

Die Sowjets hatten eine schwere Niederlage erlitten. Ihr Kosakenritt nach Warschau - als Gewaltunternehmen zur Einschüchterung der Polen gedacht - hatte nichts bewirkt. Gleichzeitig demonstrierte dieses Scheitern die große Uneinigkeit im Kreml.

Wenige Wochen vor dem Besuch in Warschau hatten Molotow und Kaganowitsch im Zentralkomitee der sowjetischen KP gegen den Widerstand Chruschtschews ein Rundschreiben an die KP-Organisationen der Satellitenländer durchgesetzt, in dem der Führungsanspruch der sowjetischen KP ausdrücklich festgestellt und Gehorsam gefordert wurde. Der Verlauf der polnisch-sowjetischen Besprechungen im Belvedere-Palais zeigte deutlich, daß den Polen demonstriert werden sollte, wie einig sich die Kreml-Herren über die in jener Direktive festgelegte Marschroute sind.

Als dann aber die Polen sich nicht einschüchtern ließen, fiel die sowjetische Führung wieder in ihre beiden Fraktionen auseinander. Man konnte sich weder darauf einigen, zu schießen, noch darauf, das Gomulka-Experiment anzuerkennen. Statt dessen verbrüderte man sich bei der Abfassung eines Schimpfartikels, der schlechthin nutzlos und weiter nichts als der Ausbruch einer ohnmächtigen Empörung war.

Katholisch statt sozialistisch

Die Einmütigkeit des Kreml wurde erst in Moskau einigermaßen wiederhergestellt

- und zwar nicht auf der Basis der ZKDirektive über den Führungsanspruch der sowjetischen KP, sondern indem man anerkannte, was inzwischen in Polen geschehen war: Chruschtschew beglückwünschte Gomulka telephonisch zu seiner Wahl zum Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei.

Als der Kreml diesen Rückzug antrat, stand er bereits unter dem Eindruck der Ereignisse In Ungarn. Dort zeigte sich, daß es ein Fehler des Kreml gewesen war, die nationalkommunistische Entwicklung in den Satellitenländern zu verzögern. Ein rechtzeitig ins Amt des Ministerpräsidenten zurückberufener Imre Nagy hätte wahrscheinlich die blutigen Ereignisse in Ungarn verhindern können.

Wenn Gomulka demnächst nach Moskau fliegt, kann er im Kreml darauf hinweisen, daß er eine unaufhaltsame nationalistische Bewegung auf polnischem Boden in kommunistische Bahnen gelenkt hat, während die entsprechende Entwicklung in Ungarn, die man von Moskau aus zu bremsen versuchte, den Kommunisten entglitten ist.

Gleichwohl besteht die Gefahr einer antikommunistischen Entwicklung nach wie vor auch für Polen. Gomulka ist noch kein Tito. Er Ist noch weit davon entfernt, ein nationales, souveränes, sozialistisches Polen zu repräsentieren:

- Der jugoslawische Staatschef hat der

Presse seines Landes nie große Freiheiten gewährt. In Polen dagegen schäumte In den letzten Wochen die Meinungsfreiheit über alle Schranken der Pressezensur. Eine Massenversammlung in Stettin forderte die Aufhebung der Zensur schlechthin.

- Die jugoslawischen Kommunisten haben Konzessionen an die antikommunistischen Kräfte ihres Landes nie zu machen brauchen. In Warschau brachte in einer Versammlung von Studenten und Arbeitern eine Gruppe den Antrag ein, Polen solle sich in Zukunft nicht mehr einen sozialistischen«, sondern einen »katholischen Staat« nennen.

- Tito hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Kollektivierung der Landwirtschaft sein Endziel sei. Gomulka mußte in seiner Antrittsrede den polnischen Bauern versichern, daß nun die Zeit der erpreßten Kollektivierung vorbei sei.

- In Jugoslawien hat es nie ein Streikrecht gegeben. In Polen hat Gomulka es ausdrücklich bestätigt.

Streikrecht, Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit nichtkommunistischer Kreise und das Geschiebe der wirtschaftlichen Kräfte freier Bauern! Die Frage ist, ob Polens knapp zwölf Jahre alte sozialistische Gesellschaftsstruktur stabil genug ist, alle die Kräfte, die mit der Gewährung solcher Rechte frei werden müssen, in Schach zu halten. Und ob - mit anderen Worten - das sozialistische Polen schon wirklich souverän in dem Sinne ist, daß es sich selbst beherrschen und die unstreitig divergierenden Kräfte in seinem Innern bändigen kann, ist ebenfalls mehr als fraglich.

Polens Geschichte ist voller warnender Beispiele. Sie kennt viele nationale Aufstände. Allzuoft gingen sie traurig aus.

Nach den europäischen Freiheitskriegen gegen Napoleon gewährte der russische Zar Alexander 1. seinen Untertanen im Königreich Polen größere Freiheiten - ähnlich wie Chruschtschew im Zuge der Entstalinisierung den Druck auf das heutige Polen verminderte. Damals brachte die Lockerung der russischen Zwangsherrschaft revolutionäre Kräfte nach oben. Am 29. November 1830 vertrieben die Polen den Statthalter des Zaren, den Großfürsten Konstantin. Unter dem Fürsten Adam Czartoryski bildete sich in Warschau eine Rebellen-Regierung. Doch schon ein Jahr später - am 7. September 1831 - mußte Czartoryski das Land verlassen. An Stelle des Großfürsten Konstantin zog nun der Feldmarschall Paskewitsch als russischer Statthalter in Warschau ein. Er hob alle nationalen Freiheiten auf und regierte mit grausamer Härte Der Mythos Polens

Damals entstand in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit der Mythos vom »edlen unglücklichen Polen«. Adlige Emigranten, die vor Paskewitsch geflohen waren, sprachen in revolutionären Zirkeln. Presse und Literatur zeichneten den schmachtenden Typ des schwermütig-feurigen polnischen Revoltitionärs in Pelzbarett und keck taillierter, geschnürter Samtjacke. Als aber im Jahre 1846 in den preußischen und österreichischen Teilen Polens Aufstände ausbrachen, blieb es im russischen Polen totenstill.

Dem Aufstand Czartoryskis gegen den Großfürsten Konstantin ähnelt in mancher Hinsicht der Aufstand Gomulkas gegen Konstanty Rokossowski, den sowjetischen Marschall polnischer Herkunft, der bis zur Stunde noch als Platzhalter des Kremls in Warschau gilt. Doch Gomulka machte, anders als die Polen von 1830, kurz vor der Vertreibung Rokossowskis halt.

Gleichgültig, ob dieser Verzicht Gomulkas auf die Genugtuung, den sowjetischen Satrapen Rokossowski schmählich abreisen zu sehen, endgültig ist oder nicht, auf jeden Fall zeigt er, daß Polens neuer Parteichef realistischer handeln will als einst Czartoryski.

Mitte voriger Woche gab Gomulka bekannt, daß er zu Verhandlungen nach Moskau fliegen will. Er dürfte bei dieser Gelegenheit hauptsächlich wirtschaftliche Forderungen vorbringen:

- Gewährung einer sowjetischen Wirtschaftshilfe für Polen;

- Aufwertung des polnischen Zloty im

Verhältnis zum Rubel. (Der zur Zeit noch gültige amtliche Wechselkurs des Zloty ist so ungünstig angesetzt, daß Polens Ausfuhr in die Sowjet-Union nur einen geringen Teil des Rubel-Betrages erbringt, den Polen braucht, um sowjetische Waren einführen zu können.) Ob Gomulkas Politik Erfolg hat, wird zum größten Teil davon abhängen, ob der Kreml bereit ist, die einmal in Polen ausgelöste Entwicklung mit großzügigen und schnellen wirtschaftlichen Hilfen zu beschwichtigen. Das aber dürfte die Wirtschaftsoffensiv-Pläne des Kreml in Südasien schwer beeinträchtigen. Was man den Polen gibt, kann man den Indonesiern kaum noch gewähren. Darüber hinaus: Eine fühlbare Verbesserung des Lebensstandards in Polen muß zwangsläufig auf die Sowjet-Union zurückschlagen. Auch die Sowjetbevölkerung wird mehr Konsumgüter verlangen. Und schließlich: Auch andere Satellitenvölker würden erkennen, daß man den Sowjets mit nationaler Widerspenstigkeit wirtschaftliche Zugeständnisse abringen kann.

Der Kreml steht vor schwierigen Problemen, wirtschaftlichen und - nicht zuletzt - auch psychologischen. Der Nationalismus der Völker Osteuropas ist mit religiösen und geistigen Bewegungen westlicher Tradition verknüpft. »Nowa Kultura«, die führende polnische Literaturzeitschrift, veröffentlichte jüngst ein Gedicht, das den Konflikt der Polen zwischen der religiösen - katholischen - Überlieferung und dem Kommunismus schildert. Der Dichter Janucz Koniusz* klagt in einem »Brief an die Mutter":

Wir können nicht zusammenkommen,

denn wir sind zwei Gewissen,

walzen uns unaufhörlich im Kampf.

Mein erstes Gewissen,

mit Deinen Tränen verklebt,

in Kirchen erfleht,

ist demütig, ruhig und stumm.

Das zweite Gewissen, in den Stein des

Wissens gehämmert

mit scharfem, parteiischem Meißel.

Welches wählen? Ich weiß es selbst nicht.

Daher bei mir diese Marter,

Daher unter uns die Zwietracht

Wie Feuer und Wasser

Daher Dein Schmerz, Deine Qual,

oh, Mutter. Deine Qual

* Zitiert nach: Harald Laeuen: »Polnische Tragödie: Steingrüben Verlag, Stuttgart, 1955; 359 Seiten; 11,80 Mark.

Moskaus Platzhalter Rokossowski

»Die Soldaten ernteten Kartoffeln«

Warschaus neuer Kommunistenführer Gomulka: Dahinter das feurige Polen

Polens Aufstand gegen Rußland 1830/31: Freiheit unterm Kreuz

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