Zur Ausgabe
Artikel 36 / 121

Katholizismus Oasen für die letzten Christen

Von Hannes Stein
aus DER SPIEGEL 51/1996

Er gilt als stockkonservativ, als unduldsamer Dogmatiker, als autoritäres Fossil und Verwalter einer Firma, die ideologisch längst bankrott ist. All jene, die schon immer ganz genau wußten, daß Joseph Kardinal Ratzinger, 69, ein würdiger Nachfahre der mittelalterlichen Inquisitoren ist, können ihre Einschätzung jetzt überprüfen: Soeben ist von ihm unter dem Titel »Salz der Erde« ein Interviewband erschienen*. So offen und auskunftsfreudig wie in diesem Buch hat sich bislang noch kein hohes Mitglied der Kurie gezeigt. Auch bei Berufsatheisten und sogar bei leidenschaftlichen Kirchenkritikern könnte die Vision, die hier entworfen wird, für fruchtbare Verwirrung sorgen.

Denn Joseph Ratzinger hat einen Traum ohne alle Illusionen. Der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation ahnt dunkel, daß das Zeitalter der Volkskirche unwiderruflich passé ist: Das Christentum, meint er, stelle viel zu hohe Ansprüche, als daß es noch zur Massenreligion taugen könnte. Der Kardinal rechnet deswegen damit, daß uns eine »neue Epoche der Kirchengeschichte« bevorstehe. Nicht im Mainstream werde der katholische Glaube überleben, sondern nur gegen ihn: Künftig werde sich das Christentum »in scheinbar bedeutungslosen, geringen Gruppen« manifestieren. Sogar katholische Kibbuzim in Europa kann sich der Kirchenfürst vorstellen. Geht der Vatikan bald in den Untergrund?

Des Papstes Chefideologe will, daß die traditionsreiche Kirche, der er angehört, ein Ärgernis bleibt: ein Skandalon, ein Stolperstein. Aus diesem Grund möchte er mit den Heiden lieber keine Kompromisse schließen. Der Mann, der für die Interpretation und Verteidigung der kirchlichen Lehre zuständig ist, hält es mit dem heiligen Augustinus, der erklärte, es gebe keinen Frieden mit dem Götzen Belial und seinem Reich.

Freundlich, aber bestimmt widerspricht der Kardinal der populären These, die Glaubenssysteme ähnelten sich wie eine lockere Schraube der anderen. Die verschiedenen Religionen seien einander im Kern keineswegs wesensverwandt:

Zwar weiß Ratzinger, daß Menschenop-

* Joseph Kardinal Ratzinger: »Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende«. Ein Gespräch mit Peter Seewald. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 304 Seiten; 39,80 Mark.

fer »einen Teil der Religionsgeschichte in schrecklicher Weise« prägten, wie etwa bei den Azteken oder den Inkas. Auch ins Christentum seien aus dem Germanischen solch pathologische Formen der Religiosität vorgedrungen, als im Spätmittelalter der Glaube schwach wurde - so sei es zu den Hexenverbrennungen der Neuzeit gekommen. Dennoch gebe es eine Einmaligkeit des katholischen Glaubens, und die gelte es zu verteidigen.

Entschieden verweigert sich der Kardinal dem modischen Run auf die ganzheitliche Spiritualität. Die Vergöttlichung des Kosmos, wie sie von den New-Age-Esoterikern betrieben werde, richte sich gegen das Christentum; und der Kult der Mutter Erde sei unvereinbar mit dem Glauben an den biblischen Gott.

Auch dem Versuch, die Religion zu einer psychologischen Heilkur zu degradieren, erteilt Ratzinger eine Absage. Zwar antworte der Katholizismus auf Urängste der Menschheit und versuche, sie mit Hilfe großartiger Bilder zu bewältigen. Aber diese Bilder könnten nur heilsam wirken, solange das, wofür sie als Metaphern stünden, wirklich ernstgenommen und geglaubt werde. Andernfalls verkomme das Christentum zum »psychotherapeutischen Trick«.

Der Spitzenmanager weigert sich also, das alte Firmenangebot durch eine Erweiterung der Produktpalette für breitere Käuferschichten attraktiv zu machen. Der Kardinal möchte keine ecclesia triumphans, wie sie als allegorische Figur am Portal des Straßburger Münsters zu sehen ist, sondern eine Kirche der Unscheinbarkeit - kleine Oasen in der Wüste, deren Bewohner geradezu biblisch verstockt sind gegenüber dem breitgefächerten Angebot an psychologischen und anderen Erlösungslehren.

Aus welcher gemeinsamen Quelle aber soll sich die Religiosität dieser verstreuten Christenmenschen speisen? Die Antwort mag manchen überraschen: aus dem Judentum. »Der Stern zeigt auf Jerusalem«, schreibt Ratzinger. »Er erlischt und geht neu auf im Wort Gottes, in der Heiligen Schrift Israels.«

Anders als der Kirchenkritiker Eugen Drewermann, der dem christlichen Glauben bescheinigte, er habe »aufgrund seiner spezifisch semitischen, jüdischen Geistesart« einen »außerordentlich gewalttätigen Charakter«, plädiert der Kardinal dafür, die Beziehung zum Judentum auf eine fundamental neue Grundlage zu stellen. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sei auch der Gott der Christenheit: Jesu Bedeutung für die gesamte Menschheit sei nicht von der Tatsache zu trennen, daß er zum auserwählten Volk gehöre. Nur als Jude konnte Christus seine universale Mission erfüllen.

Beschnittene und Getaufte haben gemeinsam, daß beide sich auf die hebräische Bibel berufen. Gerade darum wurde sie ihnen immer wieder zum Anlaß eines theologischen Erbschaftsstreites, der nun schon bald 2000 Jahre dauert. Wer hat das Copyright für das Alte Testament, die Juden, die es geschrieben haben, oder die Christen, die es als Vorspann zu ihrem Neuen Testament betrachten? Ratzinger spricht über das umstrittene Buch ohne jeden Besitzanspruch, er sagt: »... wir müssen neu lernen, es recht zu lesen.« Ein großer, schlichter Satz - vor einem halben Jahrtausend wäre der Kardinal dafür womöglich als sogenannter judaisierender Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet.

Es ist also nichts als Eigeninteresse, wenn Ratzinger befindet, daß die Hierarchie innerhalb der Kirche nichts mit Herrschaft zu tun haben dürfe. Die Zuständigkeiten der Geistlichen seien nicht mit Macht zu verwechseln. Auch sein eigenes Amt hält Ratzinger nicht für einen Kommandoposten - der Präfekt der römischen Kongregation für die Glaubenslehre versteht sich vor allem als »Moderator einer großen Arbeitsgemeinschaft«. Die Arbeit finde »sozusagen in großen Ringen« statt, mit vielen Institutionen, in denen beraten und endlich beschlossen werde. Nebenbei: Dieser Würdenträger ist überzeugt, es sei »dem Wesen der Kirche gemäß, daß sie vom Staat getrennt ist und daß ihr Glaube nicht vom Staat auferlegt werden darf, sondern auf frei gewonnener Überzeugung beruht«.

Indes: Die Rede ist immer noch von demselben Kardinal, der Roms Kampf gegen die »Theologie der Befreiung« in Lateinamerika zu verantworten hat; demselben, der den innerkirchlichen Widersachern Küng und Drewermann die rote Karte zeigte. Der Kardinal findet seine Entscheidungen von damals immer noch richtig. Apropos Hans Küng merkt er an: »Ich respektiere seinen Weg, den er seinem Gewissen gemäß geht, aber er sollte dann nicht auch noch das Siegel der Kirche dafür verlangen, sondern dazu stehen, daß er nun eben in wesentlichen Fragen zu anderen, ganz persönlichen Entscheidungen gekommen ist.«

Zur Theologie der Befreiung meint Ratzinger, es dürfe nicht sein, daß die Religion zur Dienstmagd politischer Ideologien gemacht werde. Die Autonomie des Christentums müsse gegen bewaffnete weltrevolutionäre Schwärmereien verteidigt werden, auch wenn diese noch so edelmütig gemeint seien.

In der Nachfolge von Bonaventura wendet Ratzinger sich »gegen die Utopie, die den Menschen betrügt«. Und im Geiste von Augustinus bekennt er sich ohne Wenn und Aber zum Rationalismus: »Wenn man die Vernunft ... verdächtigt, wird auch der Glaube verfälscht.« Seine Vorbilder sind Thomas Morus, Kardinal Newman, der vom Anglikanismus zum Katholizismus konvertierte, und der Protestant Dietrich Bonhoeffer, der den Nazis widerstand. Auf die Erkundigung, wie viele Wege zu Gott führen, reagiert der Kardinal mit verblüffender Nonchalance: »So viele«, sagt er, »wie es Menschen gibt.«

Im übrigen treibt ihn eine alte und wahrscheinlich unlösbare Kinderfrage um, die schon Hiob nicht ruhen ließ. Sie lautet: Warum ist das Böse in der Welt so stark? Warum haben die Diktatoren Giftgas und Armeen, warum läßt Gott das zu? An Hegels Weltgeist würde der Kardinal gern mal die Frage richten, wieso er so ohnmächtig bleibt, wieso er »auf diese ganz merkwürdig schwache Art« herrscht, eben »als Gekreuzigter, als einer, der selbst gescheitert« ist. Vermutlich wolle er nicht anders - aber warum nur? Sympathisch berührt, daß auch der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation darauf keine Antwort weiß.

* Joseph Kardinal Ratzinger: »Salz der Erde. Christentum undkatholische Kirche an der Jahrtausendwende«. Ein Gespräch mit PeterSeewald. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 304 Seiten; 39,80Mark.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 36 / 121
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren