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»Obwohl wir nicht die Prozeßführung hatten ...«

Gerhard Mauz vor dem Urteil über Marianne Bachmeier in Lübeck
aus DER SPIEGEL 9/1983

Man hätte ihn als Mörder verurteilt, wäre er nicht vor dem Urteil erschossen worden. Der Verlauf der Hauptverhandlung gegen Klaus Grabowski - bis zu den Schüssen Marianne Bachmeiers am Morgen des 6. März 1981 kurz vor Sitzungsbeginn - läßt keinen anderen Schluß zu.

Fragen an Dr. vom Ende, den Urologen, der Klaus Grabowski mit Hormonen behandelt hatte, waren vom Vorsitzenden Richter Johannes Hopp, heute 53, nicht mehr zugelassen worden, weil sie schon beantwortet seien.

Vor allem aber wurde Dr. vom Ende vereidigt. Das Gericht schloß also aus, daß Dr. vom Ende die Tat, wegen der Klaus Grabowski angeklagt war, die Tötung der siebenjährigen Anna Bachmeier, durch die von ihm vorgenommene Hormonbehandlung begünstigt haben und damit im Verdacht der Tatbeteiligung stehen könnte.

Man muß um so mehr davon ausgehen, daß Klaus Grabowski als Mörder verurteilt worden wäre im März 1981, hätte nicht Marianne Bachmeier ihn erschossen, als die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Lübeck einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Hormonbehandlung und dem Tod des Kindes Anna bestreitet.

Man hat nicht nur in der Hauptverhandlung, die mit Klaus Grabowskis Tod endete, sondern auch nach ihr benutzt, daß der Angeklagte, in panischer Angst davor, er könne für schuldunfähig befunden und wieder in eine Anstalt eingewiesen werden, schwieg und seine Verteidigung massiv behinderte. Es ist schlimm, daß man diese - offenkundige, leicht durchschaubare - Haltung Klaus Grabowskis ausgenutzt und auch nach seinem Tod weiter auszubeuten versucht hat.

Zum Ende der Hauptverhandlung gegen Marianne Bachmeier sieht das nun anders aus. Zwar hat Oberstaatsanwalt Christian Ankermann, 48, auch in seinem Teil der Begründung des Strafantrages gegen Marianne Bachmeier daran festgehalten, daß ein Zusammenhang zwischen der Hormonbehandlung und dem Tod des Kindes Anna nicht erwiesen sei.

Doch der zweite Vertreter der Strafverfolgungsbehörde in dieser Hauptverhandlung, der Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz, 35, hat eingeräumt, als er strafmildernde Gesichtspunkte zugunsten von Marianne Bachmeier anführte, daß die (von der Führungsaufsicht des Landgerichts Lübeck nicht verhinderte und nicht überwachte) Hormonbehandlung so oder so ein Fehler war.

Wären im März 1981 in der Hauptverhandlung gegen Klaus Grabowski die Umstände der Hormonbehandlung, durch die die Tatgefährlichkeit des kastrierten Mannes wiederhergestellt wurde, so schonungslos erörtert worden, wie das nun im Prozeß gegen Marianne Bachmeier geschehen ist - vielleicht hätte sie nicht geschossen.

Wem das zu spekulativ erscheint, der bedenke, daß die Staatsanwaltschaft in Lübeck als erschwerend gegen Marianne Bachmeier vortrug, sie habe Klaus Grabowski getötet, obwohl sie wußte, daß er ein triebgestörter Mensch war, der sich immerhin hatte kastrieren lassen.

Doch Marianne Bachmeier hat Klaus Grabowski 1981 nicht als einen kranken, triebgestörten Menschen kennengelernt in der Hauptverhandlung. Die ging über alles hinweg, bis hin zum Auftritt des Dr. vom Ende, was die Not Klaus Grabowskis hätte sichtbar machen können. Klaus Grabowskis Schweigen ist ausgenutzt worden, sein verzweifelter Wunsch, nicht wieder in eine Anstalt eingewiesen zu werden.

Es wurde darum nicht sichtbar, daß es Narren gibt, die meinen, mit der Kastration sei alles getan. Es wurde nicht erkennbar, daß man Kastrierte leichtfertig in die Freiheit entläßt, ohne für die therapeutische Betreuung zu sorgen, ohne die der Eingriff, auch wenn keine aberwitzige Hormonbehandlung hinzukommt, die Gefährlichkeit eines Triebkranken nicht mit Sicherheit aufhebt.

1981 ist in der Hauptverhandlung gegen Klaus Grabowski nicht bekannt geworden, daß es Juristen gibt, Richter gar, die nicht an Sexualität denken, wenn von Hormonen die Rede ist, nicht einmal im Zusammenhang mit einem Triebtäter.

Da Marianne Bachmeier ihn getötet hat, weiß man nun, was mit Klaus Grabowski geschehen ist. Als einen für seine Tat, den Tod der Anna Bachmeier, in vollem Umfang verantwortlichen Angeklagten würde man ihn heute nicht mehr verurteilen können.

Die Verteidigung Marianne Bachmeiers hat genaugenommen keinen »Prozeß im Prozeß« geführt, denn alles, was sich in der Beweisaufnahme auf Klaus Grabowski bezog, war unentrinnbar Bestandteil der Hauptverhandlung gegen Marianne Bachmeier.

Die Staatsanwaltschaft gab in Lübeck die Anklage wegen Mordes auf und beantragte acht Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags. Sie hat damit viele überrascht. Die Ankläger Ankermann und Schultz werden diese Überraschung nicht verstehen. Sie werden meinen, daß sie erst nach den Gutachten der drei Sachverständigen zu ihrem Verzicht auf den Vorwurf des Mordes kommen konnten.

Die Strafverfolgungsbehörde möchte als eine objektive Behörde gelten. Doch im Fall der Marianne Bachmeier hat die Staatsanwaltschaft Lübeck von Anfang an einen barschen Weg eingeschlagen, der das Vertrauen in ihre Objektivität gefährdete. In der Hauptverhandlung traten die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft dann so auf, als sei die Welt S.103 voller Feinde für sie. Den beiden Sachverständigen, die auf Antrag der Verteidigung vom Gericht geladen worden waren, wurde sogar der Gruß verweigert.

Eine Anklage, die nicht das Gefühl vermittelt, daß sie für jede neue Einzelheit und auch für einen neuen, anderen Blick auf eine bereits bekannte Einzelheit offen ist, ruiniert das Ansehen der Staatsanwaltschaft. Es ist schwer, nachdem man sich einmal zu einer bestimmten Anklage entschlossen hat, für Gesichtspunkte aufgeschlossen zu bleiben, die einen zur Änderung der eigenen Position veranlassen könnten.

Doch nach der Beweisaufnahme und den Plädoyers in Lübeck muß wieder gefragt werden, ob es nicht besser wäre, die Staatsanwaltschaften wenigstens in den Strafsachen, in denen es um Kapitalverbrechen geht, zur Prozeßpartei zu machen (mit allen segensreichen Folgen für die Sauberkeit der Hauptverhandlung, nicht zuletzt der, daß die Sachverständigen von den Parteien zu stellen wären).

Die Staatsanwaltschaft in Lübeck, sie wird doch bitte einen militärischen Vergleich nicht als unangemessen empfinden, glich, als sie vom Mord abließ, einem Soldaten, der feuert, bis der Gegner auf einen Meter heran ist - und der nun die Waffe wegwirft und Verständnis erwartet. Es hätte nicht überrascht, wenn die Anklage trotz der Sachverständigen bei Mord geblieben wäre.

Schlicht peinlich war der Umgang der Anklage mit dem Gericht. Oberstaatsanwalt Ankermann rügte auch die Befragung der Zeugen durch die Verteidigung und fügte hinzu, man habe im schlimmsten Fall eingegriffen, »obwohl wir nicht die Prozeßführung hatten«. Die Leitung der Hauptverhandlung hatte der Vorsitzende Richter Dr. Peter Bassenge, 49, ihm also galt der Jagdhieb.

Und so sei denn gesagt, daß die Leitung dieser Hauptverhandlung durch den Richter Bassenge vorbildlich war; daß er in Augenblicken, in denen man endgültig am irdischen Richten zu verzweifeln drohte, wieder Mut schöpfen ließ. Er war ein Glücksfall für diese Hauptverhandlung, und das muß schon vor dem Urteil gesagt werden - denn das Urteil, das unter diesem Richter zustande kommt, wird Respekt verdienen: Es wird das Ergebnis einer äußersten Anstrengung sein.

Die Verteidigung Marianne Bachmeiers hat Freispruch wegen Schuldunfähigkeit beantragt, sie hat an die Verstrickung der Lübecker Justiz in das Schicksal Klaus Grabowskis erinnert und für den Fall der Verurteilung wegen Totschlags um die Würdigung eines minder schweren Falles von Totschlag gebeten.

Marianne Bachmeier sagte zuletzt freilich nur, sie habe im Prozeß alle Fragen beantwortet und mehr könne sie dazu nicht sagen. Dieses Schlußwort könnte wichtig werden. Denn nun müßte Marianne Bachmeier wissen, wen sie getötet hat.

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