USA Öffentlich blamiert
Seit vorigem Dienstag kennen die Amerikaner Gordon Thompson aus Tennessee. Der Mann arbeitet in einer Reifenfabrik und ist ein Jugendfreund von Vizepräsident Al Gore.
Der hat dem alten Kumpel bessere Zeiten und einen sicheren Job versprochen, weil Reifen demnächst leichter nach Mexiko exportiert werden könnten. Dafür müsse der Kongreß in Washington nur die richtige Entscheidung treffen - so Gore in der CNN-Show »Larry King Live«.
Bei Talkmaster Larry King saßen sich der Vizepräsident und der Polit-Populist Ross Perot gegenüber, um ein Thema zu diskutieren, das die Nation spaltet wie keine andere Streitfrage.
Mindestens zwölf Millionen Amerikaner schauten sich die Debatte an, die Gore für sich entschied und die wieder mal bewies, daß Perot niemandem zuhört außer sich selbst. Gedacht war die Show allerdings hauptsächlich für eine Minigruppe in Washington.
Präsident Clinton wollte mit dem TV-Schlagabtausch etwa 30 widerspenstige Abgeordnete dazu bringen, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) zu billigen. Am Mittwoch dieser Woche stimmt der Kongreß über die Vereinbarungen ab, die schon George Bush mit Mexiko und Kanada ausgehandelt hatte und die am 1. Januar in Kraft treten sollen.
Obwohl Clintons Demokratische Partei im Repräsentantenhaus über eine sichere Mehrheit verfügt, steht das Abkommen auf der Kippe. Fiele es im Kongreß durch, hätte Clinton die schlimmste Niederlage seiner bisherigen Amtszeit erlitten, wäre seine Glaubwürdigkeit auch international verbraucht.
Wieder einmal hätte der Kongreß dann der isolationistischen Versuchung nachgegeben, sich nach dem Sieg im Kalten Krieg hinter die eigenen Landesgrenzen zurückzuziehen und auf eine Ausweitung amerikanischer Einflußnahme zu verzichten.
Nafta ist beinahe im ganzen Land zum Symbol für die Angst der Fabrikarbeiter um ihre Jobs geworden. Ihre Gewerkschaften fürchten nicht ganz zu Unrecht, durch das Abkommen, das die größte Freihandelszone der Welt mit 370 Millionen Menschen schaffen soll, würden US-Firmen massenhaft ins Billiglohnland Mexiko abwandern.
Der lauteste Nafta-Kritiker ist der kauzige Texaner Ross Perot, Multimilliardär und gescheiterter Präsidentschaftskandidat von 1992. In Fernsehspots agitierte er mit hemmungslos übertriebenen Zahlen gegen das Abkommen: 5,9 Millionen Arbeitsplätze seien gefährdet.
In der Bevölkerung nahm so die Zahl der Nafta-Gegner stetig zu. Die Kongreßabgeordneten bekamen in ihren Wahlkreisen die wachsende Sorge der Amerikaner über die Konkurrenz jenseits des Rio Grande zu spüren.
Clinton verkannte die Schärfe des Konflikts und ließ die Nafta-Widersacher zunächst gewähren. Viel zu spät - erst im September - versuchte der Präsident, die Stimmung zu wenden. Sämtliche noch lebenden Ex-Präsidenten bat er um Hilfe bei der Werbung für Nafta. Wirtschaftsmagnaten wie der ehemalige Chrysler-Boß Lee Iacocca oder der Software-König Bill Gates rühmen jetzt in TV-Spots den Handelspakt.
Tatsächlich ist die Angst vor dem südlichen Nachbarn kaum begründet. Das Nafta-Abkommen wird vor allem die Exporte der USA nach Mexiko erhöhen. Neu entstehende Arbeitsplätze können den Verlust ausgleichen, der durch Firmenabwanderung entsteht. Die meisten Experten rechnen sogar damit, daß schon in den ersten beiden Jahren etwa 200 000 zusätzliche Jobs entstehen werden.
Kippt der Kongreß das Abkommen, das Kanadas Parlament bereits ratifiziert hat, stehen die USA international blamiert da. Die mächtigste Wirtschaftsnation der Welt, die einzige verbliebene Supermacht, hätte zugegeben, daß sie sich vor dem armen Mexiko fürchtet.
Schon seit seinem Amtsantritt versucht Clinton den Eindruck zu erwecken, die USA seien wie keine andere Nation dem freien Welthandel verpflichtet. Japan forderte er drohend auf, den Inlandsmarkt endlich für ausländische Produkte zu öffnen. Der EG wirft er vor, das Gatt-Abkommen über freien Welthandel zu verzögern.
»Das ist ein Test für unsere Vertrauenswürdigkeit«, hält der Präsident deshalb den zaudernden Parteifreunden entgegen. Der Ex-Außenminister und Nafta-Befürworter Henry Kissinger sprang ihm bei: »Es gibt bis zum Ende dieses Jahrzehnts nichts Wichtigeres, das der Kongreß auf dem Gebiet der Außenpolitik zu beschließen hätte.«
Vor allem die Mexikaner müßten sich von den USA gedemütigt fühlen, wenn Nafta scheiterte. Staatspräsident Carlos Salinas hat seit seinem Amtsantritt 1988 _(* Am Dienstag voriger Woche. ) systematisch den Pakt mit dem großen Bruder im Norden angestrebt.
In der Hoffnung auf das Abkommen verordnete er Mexiko eine rücksichtslose Sanierung. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, senkte er die Schutzzölle für die heimische Industrie und ließ zu, daß die Reallöhne sanken.
Ohne Nafta stünde Salinas am Ende seiner Amtszeit im kommenden Sommer mit leeren Händen da, und in Mexiko würde der traditionelle Haß gegen die Gringos wieder auflodern.
Der mexikanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Octavio Paz hat die USA schon gewarnt: »Das würde eine Welle von antiamerikanischen Gefühlen freisetzen, die schnell auf ganz Lateinamerika übergriffe.« Y
* Am Dienstag voriger Woche.