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Ölversorgung: Konjunktur der Angst

Fünf Jahre nach der ersten globalen Energiekrise ist es wieder soweit: Der zweitgrößte Öllieferant der Welt fällt monatelang aus; auch danach wird weniger 01 aus dem Iran fließen. Die Industriestaaten sind kaum besser als 1973/74 vorbereitet. Als Nutznießer des Ölschocks sehen sich schon die Propagandisten der Atomenergie.
aus DER SPIEGEL 8/1979

Ein alter Mann, den kaum einer kannte, hat Persien die Revolution gebracht. Die Länder des Westens trieb Ajatollah Chomeini in die Hysterie.

US-Präsident Jimmy Carter forderte die Amerikaner auf, ihre Thermostaten auf 18 Grad Celsius zu stellen. Frankreichs Premier Raymond Harre entwarf einen Alarmplan, mit dem die Energiepreise im Lande kontrolliert werden sollen.

Bonns SPD-Minister Herbert Ehrenberg und Volker Hauff gaben der Nation zu verstehen, daß es ohne Kernkraft nun nicht mehr gehe. Und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Hans Koschnick riet gleich zu Geschwindigkeitsbegrenzungen auf deutschen Autobahnen.

Bundeskanzler Helmut Schmidt, sonst stets bemüht, keine Krise ungenutzt vorüberziehen zu lassen, mußte sich ausgerechnet von Oppositionschef Helmut Kohl vorwerfen lassen, er bagatellisiere das Geschehen im fernen Persien. So ist es: Schmidt hält sich bewußt zurück, um keine Panikstimmung zu fördern.

Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff dagegen begann schon gleich nach dem Sturm der Schiiten auf den Schah-Palast mit leichter Seelenmassage für das Volk: Energie müsse gespart werden, verkündete der Minister vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages; und die Abgeordneten nickten.

Währenddessen aber waren die Preise für leichtes Heizöl am Ölbasar Rotterdam schon von 250 Mark je Tonne im vergangenen Sommer auf 560 Mark Mitte vergangener Woche geklettert. Mana Said el-Oteiba, Ölminister der Vereinigten Arabischen Emirate, nannte die Buhmänner: Die Multis, sagte der Mann aus dem Morgenland, nutzten die Lage in Persien, um »gewaltige Profite zu scheffeln«.

Mehr noch als die Multis suchten die freien Ölhändler schnell Anschluß an die neue Konjunktur der Angst.

Die deutsche Ölhandelsfirma Mabanaft, die größte Europas, stoppte Lieferungen an den Heizöleinzelhandel, dessen Kundschaft verschreckt zu den Händlern von Markenheizöl lief.

Dort aber wurde sie zumeist abschlägig beschieden: Die Konzerne, so die Auskunft der Händler, lieferten nicht genug Stoff und hätten ihnen empfohlen, neue Kunden nicht zu werben. »Selbst bei Stammkunden haben wir 14 Tage Lieferzeit«, berichtet die norddeutsche Esso-Tochter Hans D. Schumacher.

50 Pfennig je Liter und mehr (Oktober 1978: 29 Pfennig) verlangt der freie Heizölhandel von Kunden, die kleinere und mittlere Partien haben wollen. Und je länger der Norden Deutschlands unter Schnee und Eis liegt, desto größer die Versuchung, beim Öl für den kleinen Mann schnelles Geld zu machen. »Der Heizölmarkt ist in einem Zustand«, so ein Händler, »in dem einfach alles geht.«

Nach Jahren der Ordnung, nach einer ganzen Saison stabiler Preise für das meistgefragte Produkt des Ölmarkts geriet die Branche des Brennstoffhandels in die Nähe der Subkultur.

Freie Händler mit Sitz im Rheinland und in Norddeutschland hamsterten auf dem heimischen Markt die letzten Tonnen preiswerten Konzernheizöls und karrten es per Lastzug nach Rotterdam.

Dort kaufen die Perser inzwischen für die eigene Versorgung ein; dort holen sich israelis und Südafrikaner, die bisher großenteils von Persien beliefert wurden und nun ziemlich auf dem trockenen sitzen, alles, was sie kriegen können. Folge: Eine Tonne leichten Heizöls wird in dem holländischen Superhafen derzeit mit 470 Mark gehandelt. in Duisburg mit 325 Mark.

Berliner Brennstoffhändler setzen ihre Tanklaster über die verschneite Interzonen-Autobahn in Marsch gen Westen, um mühsam an die Spree geschafftes Heizöl wieder nach Westdeutschland zurückzubringen; denn da gibt es mehr Geld für die Ware als in West-Berlin.

Unkontrollierbare Preishysterie und geballtes Mißtrauen, Verbraucherangst vor kalten Wohnzimmern und die Furcht des Autofahrers vor rapider Teuerung, wenn nicht gar Rationierung des Sprits -- die gesamte Szenerie der Jahreswende 1973/74, als die Opec ihren histerischen Ölschock austeilte, erlebt in diesen Tagen eine zweite, verbesserte Auflage.

Wie damals, so nutzen auch heute Politiker und Energiemanager die Gunst der Stunde, um den Bürgern einzutrichtern, ohne baldige Kraftwerksneubauten sei nach 1983 die Stromversorgung der Republik gefährdet; vor allem aber: Ohne Atomkraft ginge bald nichts mehr in Westdeutschland.

Und das alles hat mit seinen Gläubigen der Ajatollah Chomeini geschafft.

Zwei Tage nach Weihnachten, um die Zeit, da im Norden der Bundesrepublik mit Orkan, Schnee und arktischer Kälte die neue Eiszeit anbrach, stoppten die schiitischen Revolutionäre die Ölforderung im Lande Iran.

Mit der Flucht des Schah Resa Pahlewi nach Ägypten fehlten zehn Prozent der Rohöllieferungen für den Westen. Nur gut die Hälfte davon konnte durch zusätzliche Leistungen anderer Ölförderländer ausgeglichen werden. Eine kleine Lücke von fünf Prozent genügte, den scheinbar so glatten Lauf der westlichen Wirtschaftsmaschine ein zweites Mal zu stören.

Was zuerst nur eine theoretische Betrachtung sogenannter Pessimisten gewesen ist, wurde in der zweiten Februarwoche sichere Gewißheit. Denn jetzt, sieben Wochen nach Beginn des Förderstopps im Iran, fehlen in den Kopfstationen der westlichen Verbraucherländer jene paar Supertanker aus Persien, die fest in das Verteilungssystem der Mineralölmultis eingebaut waren.

Im deutschen Ölport Wilhelmshaven ist schon seit Wochen kein einziges Schiff aus dem Iran mehr eingelaufen. Das letzte, der 213 842-Tonner »Tsurumi Maru«, kam am 10. Januar.

Im internationalen Ölhafen Rotterdam pumpte Ende vergangenen Monats der 317 000-Tonnen-Tanker »Lottia« der Deutschen Shell AG das letzte Persien-Öl für seinen Konzern ab.

Amerikas Pazifik-Häfen erwarten diese Woche das letzte Schah-Öl, und das total auf Ölimporte angewiesene Kaiserreich Japan zahlt inzwischen jeden Preis für jede zusätzliche Menge Öl, die es bekommen kann. Der letzte Preisrekord war über 20 Dollar je Barrel, fünfzig Prozent mehr als der amtliche Preis für Opec-Öl.

Die Bonner Energieexperten schrieben in ein vertrauliches Papier, das vorigen Mittwoch der Kabinettsrunde vorlag: »Denkbar sind Versorgungsschwierigkeiten im vierten Quartal (79) wegen des nicht zulänglichen Bestandsaufbaus.« Soll heißen: Weil die Ölfirmen nicht wie üblich im Sommer Öl bunkern können, wird es im Herbst, wenn die Kälte kommt, knapp.

Und es wird knapp bleiben. Nie mehr, so wissen die Top-Leute der Ölmultis inzwischen, wird Persien soviel Rohöl exportieren wie in den letzten Jahren des Schah.

Der Ausfall Persiens, so die Internationale Energieagentur in Paris, die Krisenzentrale der westlichen Industrieländer, ist der zweitschlimmste aller denkbaren Einzelfälle.

Er ist vielleicht sogar der schlimmste. Zwar liefert das Königreich Saudi-Arabien dem Westen mit rund 390 Millionen Tonnen Rohöl im Jahr noch wesentlich mehr als der Iran mit bisher 220 Millionen Tonnen. Aber der Iran war für die westlichen Industrieländer mehr als ein schierer Öllieferant. Er hatte begonnen, selbst ein Industrieland zu werden und sich damit nahtlos in das westliche System von Wohlstand und Wachstum einzupassen.

Im Eilverfahren wollte der Kaiser auf dem Pfauenthron seinem unterentwickelten Land die Industrialisierung bescheren, wollte es zu einer der mächtigsten Industrienationen verwandeln und das Kräftedreieck Nordamerika-Westeuropa-Ostasien durch einen neuen Schwerpunkt in ein Viereck verwandeln.

Kaum waren die Anzahlungen für erste Teillieferungen der geplanten Industrie- und Militärmaschinerie geleistet, da drehte sich die dank der vielen Öldollar zunächst positive Zahlungsbilanz der Perser ins Negative.

Der zweitgrößte Rohöllieferant der Welt hatte seine Unabhängigkeit und damit seine Machtposition gegenüber den Industrieländern aufgegeben. Er wollte ein Teil ihres Systems werden und geriet in ihren Schlepp. Den westlichen Wirtschaftsführern und Politikern erschien der islamische Staat Persien nun so sicher, als läge er mitten in Europa und als ruhten seine Ölquellen direkt vor der eigenen Tür.

Für die Industriegesellschaften geriet der Iran mithin zum Juwel mit doppelter Leuchtkraft: Er stabilisierte die Exportkonjunktur, und er sicherte auf lange Sieht enorme Öllieferungen.

Das Persien des Resa Pahlewi ließ die Lehren aus dem ersten Ölschock 1973/74 fast wieder vergessen. Das expandierende Industrieland Iran repräsentierte einen neuen Wachstumsrausch und eine neue Ölschwemme, von der West und Nahost wechselseitig glaubten profitieren zu können.

Um so härter trifft nun der Machtwechsel in Teheran, der wohl dauerhafte Ausfall von fünf Prozent der Welt-Ölmenge. In der kurzen Zeit von vier Monaten hat der Schiiten-Sturm jenes bequeme Gleichgewicht im Nahen Osten zerstört, das auf Persiens Militär, Saudi-Arabiens Geld und beider Länder Öl beruhte.

Sehr plötzlich sind die Industrienationen des Westens nur noch auf einen einzigen Großlieferanten angewiesen, dessen Einfluß auf den Ölmärkten nun ebenso wächst wie seine politische Gefährdung: Saudi-Arabien.

Sollte jetzt auf den Ölfeldern in Saudi-Arabien, wo vornehmlich Ägypter und Pakistanis die Arbeit verrichten, gestreikt werden, dann gingen auf der nördlichen Halbkugel tatsächlich die Lichter aus.

Unklar scheint auch, ob Verlaß auf die politische Spitze des Feudalreichs ist. Die Ölprinzen in Riad wissen zwar, daß sie eine Konfrontation mit den USA nicht wagen können, ohne letztlich von ihren weniger feudalen Nachbarstaaten im Nahen Osten annektiert zu werden. Sie wissen aber auch, welchen Preis und welche Mengenbeschränkung sie dem Westen zumuten können, bevor es überhaupt zur Konfrontation kommt.

Schon auf mittlere Sicht ist wohl unvermeidlich, daß sich die Vorstellungen der westlichen Politiker von denen der Saudis entfernen. Sachte aber sicher müssen die Herrscher in Riad sich dem Druck der Nachbarn und der übrigen Opec-Länder beugen, wenn es um Lieferbegrenzungen und um höhere Preise geht.

Wie einst 1973/74 signalisieren die Ölminister der Opec-Staaten bereits neue Preiserhöhungen. Die internationalen Öleinkäufer haben sich darauf eingerichtet, daß die Opec-Staaten ihre 14,5 prozentige Teuerungsrate für 1979, die voll erst Ende des Jahres wirksam werden sollte, vorziehen werden.

Und selbst mit mehr Geld ist nicht mehr Öl zu kriegen: So bedeutende Ölförderländer wie Venezuela und Kuweit haben sich geweigert, den ungezügelten Wünschen des Westens nach zusätzlichem Öl nachzukommen.

Wieder einmal, ein zweites Mal in sechs Jahren, stehen die Signale der Industriegesellschaften auf Rot. Wieder ist vom Wachstumsstopp die Rede, vom Energiesparen, vom Aufreißen neuer, teurer, dem Opec-Kartell nicht zugänglicher Energiequellen.

Wieder steht der Westen dort, wo er 1973/74 schon einmal gestanden hat. Neu ist nur, daß fünf Jahre leichtfertig verspielt wurden -- auch, und vor allem, in der Bundesrepublik Deutschland.

»Wir haben«, so bekannte vorige Woche der Sozialdemokrat Hans Koschnick, »nach dem Ölpreisschock von 1973/74 streckenweise so getan, als sei nichts Einschneidendes geschehen.«

Dazu trug sicher auch bei, daß die Bundesdeutschen besser als viele andere Industrievölker die erste Energiekrise überstanden hatten. Der Heizölpreis schoß damals zwar um rund 130 Prozent in die Höhe, und an vier autofreien Sonntagen mußten die Bundesdeutschen auf ihr bevorzugtes Wochenendvergnügen verzichten. Doch die Krise zog vorüber, ohne daß deswegen jemand gefroren hätte, ohne daß Gas oder Benzin rationiert werden mußten.

»Episode oder Ende einer Ära?« fragte nach monatelangen Förderkürzungen der Araber die »Zeit«. Für die meisten Deutschen, vor allem für ihre politische Elite, war die Krise offenbar wirklich nur ein Spuk.

Wenigen war klargeworden, daß der Ölnotstand eine Wende signalisierte: Nach einem Vierteljahrhundert nahezu ungebremsten Wirtschaftswachstums, in denen sich das Bruttosozialprodukt verzehnfacht hatte, zeichnete sich ein Ende dieser historisch beispiellosen Boom-Periode ab.

Bei der Versorgung der Industriegesellschaften mit Energien wie Öl und Gas war die Endzeitrechnung schon für die Jüngeren unter den jetzt Lebenden aufzumachen.

Doch statt den Bürgern einzuhämmern, daß, wie es der US-Futurologe R. Buckminster Fuller eindringlich darstellte, das »Raumschiff Erde« nur begrenzte Vorräte hat, mit denen vernünftig gewirtschaftet werden muß, wurde weiter aus dem vollen gelebt. Wachstum über alles -- so hieß nach wie vor die Devise, in Bonn wie in den anderen Hauptstädten der westlichen Welt.

Nur mit jenen schlichten Rezepten, mit denen sie bislang so erfolgreich gearbeitet hatten, glaubten die Staatslenker, der Million an Arbeitslosen wieder Jobs verschaffen, die Renten sanieren und die Ansprüche der Wohlstandsbürger an staatliche Subsidien befriedigen zu können.

Statt Perspektiven für eine Gesellschaft zu entwerfen, die nicht mehr alle Schwierigkeiten durch immer neue Produktionsrekorde löst, die sich allmählich auf dem erreichten Wohlstandsniveau einpendelt, resignierten die Herrschenden vor den sogenannten Sachzwängen.

Warum sollten sie auch neue Wege einschlagen, warum womöglich mit dem Durchsetzen von Unannehmlichkeiten die Abwahl riskieren? Für das Ende des Ölzeitalters war doch bestens vorgesorgt: Die Energieexperten hielten die Atomkraft als wohlfeile Alternative zum Öl parat. Grund zur Beunruhigung gab es nicht.

Erst als die Regierten zur grenzenlosen Überraschung der Regierenden massiv gegen diese Wunderwaffe aufmuckten, als ein Kernkraftwerksneubau nach dem anderen blockiert wurde -- erst da dämmerte den politischen Spitzen aller Richtungen, daß sie neu nachdenken mußten.

Viel kam dabei nicht heraus. In der Zweiten Fortschreibung zum Energieprogramm von Ende 1977 hielten die Regierungsplaner zwar fest: »Schwerpunkt des hier vorgelegten Programms ist es, den langfristigen Zuwachs der Energienachfrage zu verringern ...« Doch es blieb bei der Ankündigung.

Das hehre Ziel wäre in einer Marktwirtschaft am ehesten durch höhere Preise für Energie zu erreichen. Dieses Mittel war den amtlichen Wirtschaftslenkern, die weiter aufs Wachstum fixiert bleiben, aber zu radikal.

Teurer machten die Sozialliberalen nur das Heizöl um einen Pfennig pro Liter. Mit Recht fragte da sogar der christdemokratische Abgeordnete Heinz Riesenhuber: »Geht die Regierung tatsächlich davon aus, daß dies von irgendeinem Verbraucher als Signal verstanden werden kann, nachdem die Verdoppelung der Heizölpreise nach der Ölkrise ohne entscheidende Wirkung auf den Verbraucher geblieben ist?«

Halbherzig wie der Zuschlag auf die Heizölsteuer war alles andere, was Kanzler Schmidt und seine Mannschaft zum Energiesparen auf den Weg brachten.

Eine knappe Milliarde Mark soll alljährlich bis Ende 1982 dafür ausgeworfen werden, daß die Deutschen das rare Gut Energie vernünftiger einsetzen -- durch Zuschüsse für die Wärmedämmung von Fenstern etwa oder durch Hilfen für den Umbau der Zentralheizung. Doch eingespart wird damit gerade ein halbes Prozent des gesamten Energiebedarfs, den die Bonner für Ende 1982, wenn das Programm ausläuft, errechnet haben.

Als »eine der Schicksalsfragen unserer Generation« erschien dem Forschungsminister Volker Hauff vor knapp einem Jahr, bei seiner ersten Minister-Rede im Bundestag, die »rationelle und sparsame Energieverwendung«. Und, noch eine Tonlage höher: »Man wird die Politik unserer Zeit einmal daran messen, wie wir mit diesem Problem umgegangen sind.«

Wenn dem so ist, dann dürfte es ein vernichtendes Urteil werden.

Mit mageren 680 Millionen Mark, zwei Prozent der Agrarsubventionen, gehen Bund und Länder eines der aussichtsreichsten Energiespar-Projekte an: die sogenannte Wärme-Kraft-Koppelung; dabei wird die von den Elektrizitätswerken erzeugte Abwärme, die rund 60 Prozent der eingesetzten Energie frißt, nicht mehr durch die Schornsteine gejagt, sondern in Fernwärmenetze eingespeist.

Oder: Fünf Jahre nach der ersten Energiekrise können sich die monopolistischen Elektrizitätsversorgungs-Unternehmen immer noch dagegen wehren, Industriestrom, den die Fabriken mit ihrer Abwärme produzieren, in ihr Netz zu übernehmen. Fachleute schätzen, daß mit dieser Industrieenergie, die gegenwärtig die Atmosphäre aufheizt, zusätzlich 10 000 Megawatt Strom im Jahr produziert werden können -- soviel, wie acht Kernkraftwerke vom Typ Biblis bringen.

Wenig, viel zuwenig haben die Regierenden auch unternommen, um mit technisch längst erprobten Anlagen den nutzlos verkommenden Müll für die Energieproduktion zu nutzen; um den preisgünstigen Bau von Sonnenkollektoren zu fördern; um die Bundesbürger zum Einbau energiesparender Wärmepumpen zu drängen.

Und während Hauff goldene Worte drechselt, betreibt sein Kollege Kurt Gscheidle eine Verkehrspolitik, die ganz unverdrossen aufs energiefressende Automobil setzt: Mit Rekorden an neuen Autobahnkilometern animiert der Minister auch den letzten Automuffel, sich ein eigenes Gefährt anzuschaffen; mit der Weigerung, den Lkw-Ferntransport härter zu besteuern, entzieht Gscheidle der energiesparenden und umweltfreundlichen Bahn immer mehr Gütertransporte.

Bringen die Bonner denn doch einmal etwas Vernünftiges auf den Weg, dann schießen obendrein noch die Länder im Bundesrat quer. Eine längst überfällige Reform der Stromtarife -- noch immer wird hoher Elektrizitätsverbrauch durch Mengenrabatte prämiert -- blockierten alle Bundesländer gemeinsam.

Angesichts solch konzertierter Anstrengungen, geschlossen in die Energiekatastrophe zu marschieren, klingt es schon wie eine Satire, wenn die Bundesbeamten in das jüngste Energieprogramm den futuristisch anmutenden Satz schrieben: »Eine verantwortungsbewußte Energiepolitik muß schon heute das Jahr 2000 in ihre Überlegungen einbeziehen.«

Die Sozialliberalen mühen sich in ihrer Energiepolitik eher, das Unmögliche möglich zu machen: gleichzeitig die Wirtschaft mit Volldampf nach oben zu fahren -- und Energie zu sparen.

Um vier Prozent soll das Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik bis 1985 jährlich wachsen, danach bis 1990 um jährlich 3,5 Prozent. So lautet die Vorgabe desselben Energieprogramms, das die Sparsamkeit zum »Schwerpunkt« befördert.

Die unbekümmerte und ungebrochene Verschwendungssucht, die in der Bundesrepublik wie in den anderen Industriestaaten auch nach dem 73er Schock weiter grassierte, irritierte sogar die am Massenkonsum verdienenden Chefs der großen Ölgesellschaften. Früher und eindringlicher, als es je ein Bonner Minister tat, warnte beispielsweise der oberste Esso-Statthalter in Deutschland, Wolfgang Oehme, die Bundesrepublikaner, die eingeübte Energieverschwendung fortzusetzen.

In den sechziger Jahren noch hatten die Ölmultis ihre Kundschaft mit kessen Werbeslogans ("Pack den Tiger in den Tank") zu verschwenderischem Konsum überreden wollen. Der Ölnotstand von 1973/74 veranlaßte die multinationalen Ölmanager dann zu einem totalen Umschalten. Sparen war für jene, die am besten über die Knappheit ihrer Ware Bescheid wissen, auf einmal die letzte Weisheit.

Nur für die Finanzen der eigenen Branche sollte das nicht gelten. Die schier unvorstellbare Summe von tausend Milliarden Dollar, so rechnete die im Ölgeschäft engagierte New Yorker Chase Manhattan Bank aus, müßten die Unternehmen binnen fünfzehn Jahren in neue Anlagen stecken, die der Energieförderung dienen. Und keinesfalls, verkündete Exxons vormaliger Chef John Kenneth Jamieson, könne ein Ölmulti nur noch ein reines Ölunternehmen bleiben.

Das Geschäftsprogramm der Exxon Corporation, des vor General Motors größten Wirtschaftsunternehmens der Welt, nimmt sich denn seither auch wie das Energieprogramm einer Weltregierung aus.

Exxon bohrt in Opec-fernen Gebieten wie Alaska, Malaysia und der Nordsee; Exxon experimentiert mit Sonnenenergie, versucht sich in der Kernfusionstechnik und stellt Brennstäbe für Atomkraftwerke her. Nebenher noch wurde der Konzern eine der größten Kohlegesellschaften der Welt.

Ähnlich Exxon investieren auch die anderen Ölkonzerne in sämtlichen Sparten des großen Energiegeschäfts. Die Großen des Ölbusineß kassieren Millionen für öffentliche Forschungsaufträge und schrieben an den Programmen fast jeder Regierung eines Industrielandes mit. Rund um den Erdball wurden die Multis zur einzigen Internationale der Energiepolitik.

Hoch in den Zentralen der Energiekonzerne in Manhattan (Exxon, Mobil Oil), San Francisco (Socal), London (BP) und Den Haag (Shell) erarbeiten die bp-Manager Strategien, die sämtlich darauf hinauslaufen, daß Öl teuer, also zu Knappheitspreisen, verkauft werden muß und daß die Opec ihre Preise ruhig rasch erhöhen soll.

Nur ein hoher Rohölpreis, so die Multi-Manager, kann sie dazu bringen, außerhalb der Opec nach teurer Energie zu fahnden. In dem neuen Debakel sehen die Ölchefs denn auch einen unbedingten Vorteil -- es schärft das Krisenbewußtsein der Bürger besser, als es die teuerste Kampagne könnte.

*Kollektoren auf einem Hamburger Einfamilienhaus,

Vorerst jedoch, bis zur Jahrtausendwende, ist auch für die Multis das Öl die Säule der westlichen Energieversorgung. Denn noch bleibt Öl ein konkurrenzloser Stoff, noch ist Öl für das industrielle System so praktisch, so universal und so effektiv, daß auch erhebliche Preiserhöhungen seinem massiven Einsatz nicht viel anhaben können.

Der vor Jahrmillionen entstandene Stoff hat unter der Erde schon jene Verfeinerung erfahren, die andere Energieträger erst nach komplizierten industriellen Prozessen erreichen können. Die Industriegesellschaften scheuen

denn auch kein Geld, wenn es darum geht, außerhalb des Nahen Ostens neue Quellen aufzutun.

Kosten-Rekordhalter bei den Schlachten ums Öl ist Alaska. In dem US-Bundesstaat, wo für neun Milliarden Mark eine 1300 Kilometer lange Rohrleitung gebaut werden mußte, verschlingt die Förderung fünfzehnmal mehr als in Nahost. In der Nordsee, wo die Bohrlöcher bis zu 3500 Meter unter dem Meer liegen, liegen die Kosten noch zehnmal so hoch wie in Arabien.

Zu der Nordsee und Alaska kam mit Mexiko in den letzten Monaten eine dritte Region, die Ersatz für das Nahost-Öl bieten könnte. 1973 noch waren die Ölvorkommen Mexikos auf zwei Prozent der saudiarabischen Ölreserven geschätzt worden. Neuerdings stuft das Georgetown Center for Strategic and International Studies die Mexiko-Reserven als zweitgrößte hinter denen Saudi-Arabiens ein. Das Institut ist damit vorsichtiger als eine Weltbank-Studie, die Mexiko schon als Nummer eins sieht (siehe Seite 148).

Gewaltige Ölreserven stecken auch in den kanadischen Teersänden oder im Bergschiefer der Rocky Mountains. Beim gegenwärtigen Ölpreis kann nur ein sehr geringer Teil dieser Vorräte rentabel abgebaut werden.

Lange auch wird die Menschheit noch vom ersten Grundstoff ihrer Industrialisierung zehren, der Kohle. Die besonders in Nordamerika, Australien und Südafrika konzentrierten Kohlevorkommen der Welt reichen nach Schätzungen zwischen 250 und 500 Jahre. Mit bereits entwickelten Techniken kann ein Teil der Kohle in absehbarer Zeit schon zu wirtschaftlichen Kosten in Gas verwandelt werden und damit jene Erdgaslücke schließen, die sich am Anfang des nächsten Jahrtausends auftun wird.

Doch Kohle oder gar Ölschiefer ersetzen das gegenwärtig fehlende Rohöl nicht, sie werden es auch in fünfzehn Jahren nicht ersetzen können. Denn der finanzielle und technische Aufwand ist selbst für die riesigen Ölmultis in so kurzer Zeit kaum zu schaffen.

Um das Wachstum der westlichen Gesellschaften dennoch zu sichern, propagieren Regierungen, Energiemultis und Industrielle unverdrossen die Kernenergie. Sie ist der Alleskleber der Wohlstandsgesellschaft.

Bei jeder Krise der Energieversorgung, bei internationalen Boykotts und nationalen Blackouts kommt die Atomlobby daher und preist ihre perfekte Endlösung an: erst die sauberen, sicheren und preiswerten Kernkraftwerke herkömmlichen Typs, dann -- rechtzeitig vor dem Versiegen des Atombrennstoffs Uran -- die Schnellen Brutreaktoren, die mehr spaltbares Material erzeugen, als sie verbrauchen. Schließlich die gelobte Kernfusion -- die gebändigte Wasserstoffbombe, eine Energiereserve, die angeblich schier unendlich ist.

Der Dreistufenplan des Atom-Establishments hat mächtige Fürsprecher und kann über unbegrenzte finanzielle Mittel verfügen. Es ist ein Plan der konventionellen Wachstumsstrategen und soll dazu dienen, das mit dem billigen Öl dereinst begonnene Tempo von Konsum, Expansion und Materialverschwendung zu verewigen, obwohl dessen logische Grenzen längst absehbar sind. Wenn vom Atom die Rede war, dann immer nur unter einem rein materiellen Wachstumsaspekt. Das Humane blieb zu vernachlässigen.

Um die Bevölkerung für die Kernenergie zu ködern, entwarfen die Atomfreunde immer neue Horrorvisionen. Doch keine der Prophezeiungen wurde bislang Wirklichkeit.

Die Prognose-Pleiten hinderten Siemens-Chef Bernhard Plettner, der in Persien die Aufträge für seine Kernkrafttochter KWU wanken sieht, nicht, jetzt neue Schreckensbilder zu malen.

Wer den Verzicht auf Kernkraft fördere, so Plettners Herrschaftswissen, gefährde die Energieversorgung und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Bis zum Jahre 2020, so hätten Fachleute aus 77 Ländern exakt vorausberechnet, müßten in der Welt etwa 4000 Kernkraftwerke arbeiten. Und: »Wenn nichts geschieht, sind wir in fünf Jahren am Ende.«

Am schlechteren oder am besseren? Wenn es geschieht, daß beispielsweise die industrielle Prozeßwärme beizeiten zur Stromerzeugung für das öffentliche Netz und für Fernheizungen benutzt wird, dann sind zusätzliche Kernkraftwerke auch noch in Jahren überflüssig.

Selbst ein Mann wie der niedersächsische Wissenschaftsminister Eduard Pestel, Mitglied der CDU- Regierung Albrecht, möchte Kernkraftwerke nur noch als Brücke sehen, über die es dann zu unverbrauchbaren Energiereserven, wie etwa der Sonne. gehen könne.

Ohnehin haben Kernkraftwerke des gegenwärtigen Typs nur eine geringe Überlebenschance. Denn je mehr von ihnen arbeiten, desto eher werden die letzten Reserven des Brennstoffs Uran angekratzt, die nach gegenwärtiger Rechnung nur noch 50 Jahre halten.

Atomkraftwerke vom Typ des Schnellen Brüters wiederum werfen zwar keine Probleme mit dem Brennstoff auf, wohl aber mit dem überschüssigen Plutonium, das viele tausend Jahre strahlt und in großen Mengen verläßlich kaum irgendwo abgelagert werden kann.

Kernkraftwerke des dritten Typs, die Energie aus verschmolzenen Wasserstoffkernen holen, sind exotisch. Die dabei nötigen Dauertemperaturen von über hundert Millionen Grad wurden trotz dreißigjähriger Forschung auch im Laboratorium nicht entfernt erreicht; ihre tückischen Detailprobleme sind deshalb noch nirgends gelöst.

Auf die Kernfusion zu setzen ist daher aberwitzig. Wenn sie wirklich einmal kommt, steht sie in Idealkonkurrenz zur Sonnenenergie, die von der Menschheit mit größerer Aussieht auf Erfolg genutzt werden kann.

Dennoch weichen sämtliche Energiepropheten, wenn es um eine Lücke zwischen dem gewünschten Wachstum und dem möglichen Energieeinsatz geht, immer wieder in die Kernkraft aus -- so als handle es sich bei ihr um den Posten »Sonstiges«. Sie würden sich aber alle rasch aus ihren Argumenten herausstehlen, wenn einmal jener Fall einträte, vor dem sieh jeder im Innersten fürchtet: der wie die Techniker sagen -- »größte anzunehmende Unfall«.

Beim Ölkraftwerk wäre dies die Explosion der Anlage, und wenn sie geschehen ist, wird der Schaden übersehbar. Beim Kernkraftwerk wäre es die Entfesselung der Radioaktivität, und wenn dies geschehen ist, werden die Schäden über Generationen unübersehbar bleiben. Das ist der qualitative Unterschied, an dem gern vorbeigeredet wird.

Ölkrisen sind jedenfalls verantwortlich durch Kernkraftwerke nicht zu meistern. Sie lassen sich nur durch eine Strategie der Vielfalt lösen -- durch weniger und anderes Wirtschaftswachstum, durch sparsamen Energieverbrauch und durch Entwicklung alternativer Kraftquellen.

Längst etwa haben US-Techniker eine perfekte Entgiftung von Kohlekraftwerken ersonnen. Hunderte von Unternehmen beschäftigen sich mit der als exotisch verachteten Sonnenenergie. Respektable Firmen wie der Flugzeugkonzern Boeing experimentieren mit Windmühlen zur Stromerzeugung.

Die Wachstumsstrategen kritisieren, Sonne und Wind könnten das Energieproblem auch nicht entfernt lösen. weil sie sich nicht speichern lassen. Aber in die Konservierung von Sonnenenergie wurden bisher so wenig Mittel gesteckt, daß sie sich gegenüber dem Aufwand für die Kernenergie nur in Promille ausdrücken lassen.

Der Vorsprung der Kernkraft liegt allein in der gegenwärtigen Fähigkeit, verhältnismäßig billig Strom zu liefern. Auf die Dauer aber sind die Kosten der Atomenergie nicht berechenbar, sie bleiben mit Unsicherheiten behaftet bis zum Ende der Welt,

Die Atomenergie, so der amerikanische Energiewissenschaftler Barry Commoner, sei der wissenschaftlich und technisch aufwendigste Weg, »um Wasser zu kochen«, Denn nur Dampf, nichts als Dampf erzeugen die Reaktoren und treiben damit herkömmliche Turbinen.

Ist schon die langfristige Energienot mit Kernkraft nicht besonders attraktiv zu meistern, die Ölkrise dieser Tage ist es erst recht nicht. Daß die Atompromotoren es wagen konnten, das Malheur im Iran propagandistisch zu nutzen, verdanken sie denn auch weniger ihrem eigenen Angebot als den Versäumnissen der vergangenen fünf Jahre. Der in dieser Zeit absolvierte Verdrängungsakt der politisch Verantwortlichen, die so taten, als könne es im alten Trott weitergehen, brachte die Industriestaaten nun noch einmal an den Rand jenes Zustands, bei dem das Krisenmanagement der Internationalen Energieagentur beginnt.

Deren deutscher Chef Ulf Lantzke muß seinen Krisenmechanismus in Gang setzen, wenn weltweit sieben Prozent der Ölzufuhr ausfallen. Dann, so sieht es eine Übereinkunft von 19 Staaten vor, läuft die Zuteilung von Öl nach dem Kommando der Pariser Agentur.

Weder Multis noch Regierungen haben noch irgend etwas zu bestimmen. Sie müssen allein dafür sorgen, daß die Umverteilung von Rohöl funktioniert. Auch Britannien nützt seine Nordsee dann nichts mehr.

Den Sieben-Prozent-Fall aber, so Lantzke vergangene Woche, »sehen wir auch noch nicht für die Mitte des Jahres«. Die Ölgesellschaften nämlich könnten mit den Mitteln der Marktwirtschaft schon »unterhalb dieser Schwelle dafür sorgen«, daß nicht einmal einzelne Länder von echter Energieknappheit befallen werden.

Und brav, wie sie sind, wenn die eigene Strategie darunter nicht leidet, beschlossen die Ölgesellschaften sofort, ihren Stoff achtsam zu verteilen und weiter zum Energiesparen aufzurufen statt zum Konsum.

»Das ist der erste Grundsatz eines Verkäufers«, klärt Shell-Chef Johannes Welbergen den Sachverhalt. »Man soll nie mit einer Ware werben, die man nicht im Laden hat.«

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