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SOZIALPOLITIK / KRANKENVERSICHERUNG Offen für Wechsler

aus DER SPIEGEL 47/1970

Vier Millionen Angestellte in der Bundesrepublik werden im Januar 1971 günstige Nachricht aus Bonn bekommen -- »auf ihrem Gehaltsstreifen«, so Bundesarbeitsminister Walter Arendt.

Erstmals mit dem Januargehalt nämlich müssen -- laut einstimmigem Beschluß des Bundestages vom 4. November -- die Arbeitgeber allen krankenversicherten Angestellten ohne Rücksicht auf die Höhe des Monatsgehalts einen Zuschuß zum Beitrag zahlen: derzeit monatlich bis zu 60 Mark.

Durch das neue Gesetz wird die Krankenversicherungspflichtgrenze -- sie bezeichnet das Monatsgehalt, bis zu dem jedermann einer Krankenversicherung angehören muß -- von derzeit 1200 auf 1425 Mark erhöht und in Zukunft den steigenden Löhnen und Gehältern jährlich automatisch angepaßt.

Von mehr als sieben Millionen Angestellten in der Bundesrepublik waren bisher nur 3,6 Millionen pflichtversichert, weil sie weniger als 1200 Mark Monatsverdienst erzielten. Zu ihnen stoßen jetzt mit einem Schlage eine weitere Million Angestellte hinzu, die zwischen 1200 und 1425 Mark verdienen.

Sie können einer Kasse der gesetzlichen Krankenversicherung -- also einer Allgemeinen Ortskrankenkasse, Ersatz- oder Innungskasse -- beitreten und müssen dann von Januar 1971 an zunächst etwa 120 Mark Monatsbeitrag (Verheiratete) zahlen, von dem der Arbeitgeber die Hälfte übernimmt.

Wer derzeit mehr als 1200 Mark Monatsverdienst erzielt, hat freilich auch das Recht, den gesetzlichen Schutz abzulehnen. Wenn dieser Angestellte den Abschluß einer zumindest gleichwertigen privaten Krankenversicherung nachweist, kann er sich von der Versicherungspflicht befreien lassen. Ein solcher Entschluß lohnt sich insbesondere für junge, unverheiratete Angestellte, denen die rund 60 privaten Gesellschaften individuelle Tante bieten können, die unter den Einheitsprämien der gesetzlichen Kassen liegen. Aber auch jenen, die sich befreien lassen, muß der Arbeitgeber den halben Beitrag bis zu 60 Mark je Monat vergüten.

Für oder gegen die gesetzliche Krankenversicherung müssen sich auch jene halbe Million Angestellte entscheiden, die schon bei Privatkassen voll gegen Krankheit versichert sind. Ihnen billigte der Bundestag für das erste Vierteljahr 1971 befristet und einmalig das Recht zu, in die gesetzliche Krankenversicherung umzusteigen. Das wiederum kann für ältere Angestellte mit Familie lukrativ sein, denen die private Assekuranz überdurchschnittlich hohe Prämien abzwickt.

Mit einer massiven Anzeigen-Aktion wird der Kölner Verband der privaten Krankenversicherungen noch in dieser Woche versuchen, die gut verdienenden Angestellten von den gesetzlichen Kassen fernzuhalten und an die privaten Versicherer zu binden. »Knallhart werden wir«, so Verbandssprecher Christian Linden, »dabei unser stärkstes Werbeargument herausstellen: den Status des Privatpatienten.«

In der Tat Ist -- angesichts chronisch überfüllter Arzt-Wartezimmer und Krankenhäuser -- für viele Prokuristen, Abteilungsleiter und Chefsekretärinnen der Gedanke erschreckend, In der großen Masse der Kassenpatienten untertauchen zu müssen. Als Privatpatienten haben sie stets eine Chance, buchstäblich hintenherum -- ohne Wartezeit unter Umgehung des Wartezimmers oder außerhalb der Sprechstunde -- in den Ordinationsraum des Arztes eingelassen zu werden.

Gegen die Massenabfertigung im Krankenhaus können sich die Angehörigen gesetzlicher Kassen durch Abschluß privater Zusatzversicherungen schützen. Während die gesetzlichen Kassen lediglich die Kosten der dritten Klasse voll ersetzen, übernehmen die privaten -- freilich gegen monatliche Prämien, die bei einer Durchschnittsfamilie leicht 120 Mark erreichen -- sowohl die höheren Pflegekosten der besseren Klassen als auch die Operationskosten.

Die Kosten der ambulanten Privatbehandlung in der Arztpraxis hingegen können durch den Abschluß von Zusatzversicherungen nicht gedeckt werden. Gleichwohl können sich auch Mitglieder der gesetzlichen Kassen beim Arzt wie Privatpatienten behandeln lassen, sie müssen jedoch zuvor die Erlaubnis ihrer Kasse einholen. Stimmt diese zu, kann der Patient auch ohne Krankenschein den Arzt aufsuchen, der ihm anschließend eine private Rechnung zustellt. Die Kassen erstatten ihren Mitgliedern später die einfachen Gebührensätze des amtlichen Honorar-Katalogs.

Allerdings kann das Status-Denken teuer werden. Denn es steht den Ärzten frei, die finanziellen Verhältnisse der Privatpatienten selber zu taxieren. Je nach dem Hubraum des Wagens oder der Qualität des Pelzes können die Mediziner Beträge bis zum Sechsfachen jener einfachen Gebührensätze liquidieren, die von den gesetzlichen Kassen erstattet werden. Zwar geben sich die Ärzte im allgemeinen mit dem Eineinhalb- bis Zweifachen zufrieden, doch empfiehlt es sich vorsichtigen Patienten, einen Kostenvoranschlag einzuholen und außerdem in sauberer, aber älterer Kleidung beim Arzt zu erscheinen.

Trotz solcher Schwierigkeiten schätzt das Bonner Arbeitsministerium, daß rund 300 000 der 500 000 bisher privat versicherten Angestellten nunmehr in die gesetzlichen Kassen hinüberwechseln und sich lediglich mit einer privaten Zusatzversicherung (Operationskosten, Tagegeld) begnügen.

Das Risiko einer Doppelmitgliedschaft und damit doppelter Beiträge schloß der Gesetzgeber aus. Wer beispielsweise im Frühjahr einer Ersatzkasse beitritt, aber seinen privaten Versicherungsvertrag nicht vor dem Jahresende lösen kann, dessen Beitragspflicht ruht bei der gesetzlichen Kasse -- höchstens freilich ein Jahr.

Der Schutzbehauptung des SPD-Arbeitsministers Arendt, das neue Gesetz sei kein »tödlicher Aderlaß der privaten Krankenversicherung«, pflichtet mittlerweile überraschend sogar der Verband der Versicherer bei. Aus dem offiziellen Bonner Sozialbericht 1970 hat die Assekuranz errechnet, daß der Durchschnittsbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung bereits 1975 monatlich 200 Mark überschreiten werde. Verbandssprecher Linden: »Dann sind wir auch für ältere Familienväter wieder interessant.«

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