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Bundespräsident Offene Partie

Neue Runde im Namenskarussell: Der DDR-Bürgerrechtler Jens Reich soll Bundespräsident werden.
aus DER SPIEGEL 25/1993

Stur pocht der CSU-Landesgruppenvorsitzende Michael Glos auf eine Tradition, die nicht zu halten ist. Wer 1994 Bundespräsident werden soll, das müsse die Union »vertraulich erörtern«.

Anlaß für seinen Groll: Am Montag vergangener Woche hatten 37 Intellektuelle verschiedenster Provenienz den DDR-Bürgerrechtler Jens Reich als Nachfolger Richard von Weizsäckers vorgeschlagen. Noch hält Glos die Empfehlung für einen weiteren »Luftballon«, der auf das öffentliche Spielfeld gepustet wird.

Denn auf die vor zwei Jahren eröffnete Aspirantenliste gelangte der Ostdeutsche erst mit der Startnummer 27. Deshalb fällt Meinungsmachern und Politikern die Prognose leicht. Sachsens Justizminister Steffen Heitmann (CDU), selbst unter den Umschmeichelten, gibt dem neuen, »interessanten« Tip die gleichen Chancen »wie einer Kandidatur des Dalai Lamas«.

Gleichwohl hat kaum ein anderer Außenseiter-Vorschlag ein solches Echo ausgelöst. Die Debatte um das höchste Staatsamt wird, im besten Sinne, politisch. Schon der Kreis der Reich-Sponsoren, den die Zeit säuerlich knapp als »elitären Zirkel« charakterisierte, verblüfft. Politisch repräsentiert die Initiative der »Frankfurter Einmischung« eine große Spanne: Sie reicht vom FAZ-Herausgeber Joachim Fest über Arnulf Baring, Ignatz Bubis, Joachim Gauck, Hans Magnus Enzensberger bis zu Antje Vollmer und Daniel Cohn-Bendit.

Erstmals hat eine Gruppe das tradierte Rechts-Links-Schema durchbrochen - und zugleich den Schritt in die Öffentlichkeit sorgfältig vorbereitet. Um zu vermeiden, daß ihr Projekt als »Idee schöner Seelen« (Vollmer) blitzartig versenkt wird, sondierten die Initiatoren das Terrain in den Spitzen von CDU, FDP und SPD.

Deren machttaktische Arithmetik hat seit der Wahl des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss 1949 die Entscheidung über die meisten der fünf folgenden deutschen Staatsoberhäupter in der Bundesversammlung bestimmt.

Von Bonner Machtkalkül sind auch die meisten Vorschläge für die Nachfolge Richard von Weizsäckers geprägt. Altgediente Westdeutsche wie Johannes Rau (SPD), Hans-Dietrich Genscher (FDP), Hans-Jochen Vogel (SPD) oder Rita Süssmuth (CDU) dominieren das Kandidatenfeld - und werden von den Medien wie eh und je eingeschätzt auf den Signalwert für die Machtkonstellation nach der Bundestagswahl im Herbst 1994.

Solchen Rechnungen widersetzt sich der Frankfurter Kreis. »Wir wollen die Diskussion um den Bundespräsidenten«, proklamiert der frühere Leiter der hessischen Staatskanzlei Alexander Gauland (CDU), »aus den Parteigrenzen herauslösen.«

Gewiß sind nur zwei Faktoren: Übellaunig reagieren die im Frust vereinten Deutschen gegenüber ihren Parteien. Und der sich als Personalchef sonnende Helmut Kohl fand bisher keinen Bundespräsidenten in den eigenen Reihen.

Deshalb kann der Kanzler sich seit letztem Herbst ein ostdeutsches Staatsoberhaupt »sehr gut vorstellen«, ohne daß seine Späher jenseits der Elbe jemanden aufspürten.

Die allgemeine Ratlosigkeit nutzten Zeitungen zu Werbegags. Zunächst enthüllte Bild am Sonntag den »Geheimplan«, Kohl wolle seinen politischen Lebensabend in der Villa Hammerschmidt verbringen. Das taufrische Magazin Focus stieg mit Oldie Genscher ins Gewerbe. Im Februar stellten sich auf dem Westmarkt zwei Wochenblätter vor, indem sie Ignatz Bubis und Regine Hildebrandt (SPD) aus Potsdam empfahlen. Der Stern glaubte an Verfassungsrichter Roman Herzog (CDU). Und Capital fiel es schwer, sich zwischen Edzard _(* Kurz nach seiner Wahl im September ) _(1949 auf dem Weg zu einer Ansprache. ) Reuter und Joachim Gauck zu entscheiden.

Alle parteiunabhängigen Namen, die in die Lottotrommel geworfen wurden, verschwanden nach kurzem Schütteln. Reichs Name könnte sich länger halten.

In Gesprächen mit den Bundestagsparteien überraschte die Frankfurter Initiatoren das »freundliche Interesse«. Gauland: »Klar ist, daß wir nur eine Chance haben, wenn wir die Parteien überzeugen.«

Eine schwere Aufgabe. Die Parteien möchten lieber so weitermachen wie bisher, könnten aber in Personalnöte geraten. Die FDP-Anführer Klaus Kinkel und Jürgen Möllemann etwa forderten beim FDP-Parteitag ihren Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher auf, zu kandidieren. »Die nehmen mich nicht ernst«, knurrte der frühere Außenminister, der offenbar wirklich nicht will. Die SPD setzt intern auf Johannes Rau (siehe Seite 22).

Die Befürworter von Jens Reich hingegen wollen ausdrücklich »die Kluft zwischen Gesellschaft und Politik sowie die zwischen Ost und West schmälern« (Gauland).

Deshalb wirbt Antje Vollmer: »Alle Parteien profitierten davon, wenn sie bei der Präsidentenwahl auf ihren Machtzugriff verzichteten.« Ein Kandidat aus der Gesellschaft und zudem aus dem Osten »brächte den Parteien verlorenen Boden zurück«, lockt Enzensberger. Der konservative Sozialdemokrat und Theologe Richard Schröder, selbst auf der Namensliste, hält das von ihm unterstützte Reich-Projekt für »eine offene Partie«.

Der Dekan von der Berliner Humboldt-Universität: »Wir leben in verrückten Zeiten.«

* Kurz nach seiner Wahl im September 1949 auf dem Weg zu einerAnsprache.

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