Wolfgang Müller

Offener Brief in »Emma« Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur

Wolfgang Müller
Ein Debattenbeitrag von Wolfgang Müller
Man darf sagen, dass man lieber feige als mutig wäre. Man sollte aber einen Kotau vor dem Recht des Stärkeren nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen. Eine Entgegnung auf den »offenen Brief« deutscher Promis.
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Julian Stratenschulte / dpa

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Wie viele andere habe ich mich sehr über den offenen Brief an Olaf Scholz von Alice Schwarzer und diversen anderen Kulturschaffenden aufgeregt. Ich will das Thema einmal auf das meiner Meinung nach Wesentliche herunterbrechen.

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privat

Wolfgang Müller, Musiker, Jahrgang 1975, lebt in Hamburg und schreibt Songs, Gedichte, Essays und Kritiken. Betreibt sein kleines Label »Fressmann« aus Leidenschaft und ist Mitbegründer der Kinderlied-Reihe »Unter meinem Bett«. Sein Text erschien zunächst auf seiner eigenen Website .

Ich bin in Hessen aufgewachsen, zwischen Frankfurt und Gießen, und eine wiederkehrende Erinnerung meiner Kindheit waren die Hände, die ich auf meine Ohren drückte, wenn wieder zwei Kampfjets im Tiefflug über unser Dorf donnerten, weil ich den Knall fürchtete, der beim Durchbrechen der Schallmauer ertönt. Regelmäßig wurde ABC-Alarm geprobt, gerne ohne Vorwarnung. Dann heulten über die Dörfer und das ganze Tal die Sirenen, und anders als bei normalem Feueralarm stieg und fiel der Ton der Sirenen kontinuierlich auf und ab wie bei Fliegeralarm in alten Filmen.

Blick von einem einstigen Beobachtungsturm der Amerikaner am Point Alpha zwischen Geisa (Thüringen) und Rasdorf (Hessen) an der ehemaligen innerdeutschen Grenze

Blick von einem einstigen Beobachtungsturm der Amerikaner am Point Alpha zwischen Geisa (Thüringen) und Rasdorf (Hessen) an der ehemaligen innerdeutschen Grenze

Foto: Hendrik Schmidt/ picture-alliance/ dpa

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, was für ein gespenstischer Moment das war, wenn man an einem warmen Sommertag mit dem Fahrrad fuhr und auf einmal die Apokalypse angekündigt wurde. Ich erinnere mich, dass ich dann immer panisch in die Pedale trat, als sei der Teufel hinter mir her, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Ich hatte jedes Mal höllische Angst, dass es dieses Mal keine Übung sein würde, sondern wirklich gleich eine Atombombe über uns explodiert.

Und ab und zu rollten Militärkonvois mit Tiefladern mit Panzern durch die Stadt. Militärische Präsenz war ein konstanter Teil meiner Jugend, und ich kann nicht behaupten, dass ich das schön fand. Wirklich nicht. Es war überaus beängstigend und bedrohlich. Und gleichzeitig völlig normal. Es gehörte völlig selbstverständlich zu unserem Leben, dass es die reale Möglichkeit gab, dass gleich der Krieg ausbrechen würde. Auch wenn ich damals noch klein war, spürte ich diese Bedrohung sehr, sehr deutlich.

»Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr«

Dasselbe Gefühl habe ich heute. Für die letzten dreißig Jahre war diese Bedrohung verschwunden, und wer erst Mitte / Ende der Achtzigerjahre geboren wurde, kennt das nicht. Ich schon, wie viele meiner Generation, besonders aber die, die im Frankfurter Raum aufgewachsen sind. Wir wären damals neben der Eifel und Heidelberg ein sicheres Ziel gewesen. Die atomare Bedrohung war sehr real, allgegenwärtig, und gefühlt völlig unberechenbar, so wie jetzt. Das Gefühl war furchtbar. Aber gerade deswegen glaube ich, ist es wichtig, sich nicht von dieser Angst leiten zu lassen. Bei der Frage, ob wir aufrüsten müssen, oder Waffen an die Ukraine liefern, rückt die eigentliche Frage völlig in den Hintergrund – nämlich die, wer wir sein wollen. Wie wir leben wollen: in Angst oder in Würde.

Briefe-Initiatiorin Alice Schwarzer

Briefe-Initiatiorin Alice Schwarzer

Foto: Oliver Berg / picture alliance / dpa

Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, respektive das Vergewaltigungsopfer als mitverantwortlich für einen drohenden Massenmord durch seine provozierende Gegenwehr zu brandmarken, ist zumindest bemerkenswert. Insbesondere, da es eine bedeutende Zahl tatsächlicher Vergewaltigungen in diesem Krieg gibt.

Auch wenn in diesem offenen Brief auf das Leid der ukrainischen Zivilgesellschaft referenziert wird, das enden sollte (als ob es das nach einer Kapitulation tun würde), scheint die Hauptangst die um das eigene Wohlergehen zu sein. Salopp formuliert: Schatz, gib dich lieber hin, sonst schlachtet er dich und unsere ganze Familie ab. Der wohl perfideste Satz in diesem Brief ist die Warnung vor dem »Irrtum, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.« Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur.

»Die brennende Angst, dass man selbst Opfer werden könnte, muss umgewandelt werden in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst ein markiertes Ziel ist»

Dazu kommt: Die Idee, dass durch angstvolles Agieren diese Bedrohung abgewendet werden könnte, ist völlig absurd. In russischen Medien, und auch von russischen Offiziellen wird schon seit einiger Zeit Deutschland als Nazi-regiert dargestellt, angefangen von angeblichen Biowaffenlaboren vom Bernhard-Nocht-Institut in der Ukraine bis hin zu der Behauptung, der Zweite Weltkrieg hätte nie aufgehört und Deutschland wäre nach wie vor ein faschistisches Land. Es liegt also offen auf der Hand, dass wir als legitimes Angriffsziel markiert werden, völlig unabhängig davon, wie wir uns verhalten oder nicht. Und zwar einzig und allein aus dem Grund, weil wir als demokratisches und wirtschaftlich mächtigstes Land der EU das größte Hindernis für eine russische Dominanz auf dem eurasischen Kontinent darstellen. Wir könnten uns gar nicht genug verzwergen, um nicht aus dem Weg geräumt werden zu müssen für russische Großmachtfantasien.

Zerstörte ukrainische Stadt Mariupol

Zerstörte ukrainische Stadt Mariupol

Foto: IMAGO/Alexey Kudenko / IMAGO/SNA

Von Anfang an war der Krieg in der Ukraine von Russland in mehreren Aussagen der russischen Führung als Auftakt zu einem Krieg gegen den Westen definiert. Dieses Ziel wird nicht verschwinden, wenn wir hundertmal erklären, dass wir wirklich keine Bedrohung sein wollen und auf gar keinen Fall einen Atomkrieg möchten. Und ganz sicher nicht, wenn wir uns auf den Boden legen, unseren Bauch zeigen und klar signalisieren, dass wir uns nicht wehren werden, egal was passiert.

Die brennende Angst, dass man selbst Opfer werden könnte, muss umgewandelt werden in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst als Ziel markiert ist und diese Markierung auch durch noch so viel Appeasement nicht abwaschen kann. Die Frage, ob die Unterzeichner dieses offenen Briefs auch dann noch unterschreiben würden, wenn nicht Kiew, sondern Berlin bombardiert werden würde, und die reale Gefahr der Vergewaltigung und Auslöschung der eigenen Familie, der eigenen Kinder besteht, sei mal dahin gestellt. Ich habe meine Zweifel, dass Juli Zeh dann einen Brandbrief an die Amerikaner schreiben würde, lieber nicht einzugreifen, weil sonst alles nur viel schlimmer werden würde.

»Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren»

Wenn also, wie schon bei der Ukraine, Kriegsgründe beliebig erfunden werden können, und jüdische Präsidenten als Nazis und demokratische Länder als faschistisch bezeichnet werden, wenn also die Bedrohung völlig unabhängig vom eigenen Verhalten und objektiven Realitäten existiert und weiter existieren wird, erübrigt sich die Frage, was man tun kann, um den Konflikt, der ja keiner ist, sondern eine einseitige Aggression, zu entschärfen, bzw. nicht eskalieren zu lassen. Denn die Antwort lautet: nichts. Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren.

Man darf sagen, dass man eine Heidenangst vor der eigenen Courage hat, ja. Man darf auch sagen, dass man lieber feige und lebendig als mutig und tot wäre, auch das ist nachvollziehbar und menschlich. Man sollte es aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen, denn de facto wäre das in diesem Fall ein Kotau vor dem Recht des Stärkeren, oder wie Desmond Tutu sagte: »Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bist, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt.« Das kann realpolitisch manchmal notwendig sein, aber sollte ganz sicher nicht zur Handlungsmaxime erhoben werden.

»Wer zu erkennen gibt, dass er sich niemals wehren wird, ist ein attraktives Ziel«

Darüber hinaus: Wer sich hinstellt und sagt, dass der Krieg mit Waffenlieferungen nur verlängert werden würde, verkennt, dass es sich vermutlich genau umgekehrt verhält. Wer zu erkennen gibt, dass er sich niemals wehren wird, ist ein attraktives Ziel. Ich habe große Angst, dass der Krieg sich ausbreitet, und wir wirklich einen dritten Weltkrieg erleben. Aber noch größere Angst habe ich davor in einer Welt zu leben, in der Demokratien aus Angst vor Faschisten die Segel streichen. Die Drohung mit Atomwaffen ist so entsetzlich, dass sie gleichzeitig irrelevant wird. Wie der Tweet, den Sascha Lobo schon in seinem hervorragenden Essay zum Lumpenpazifismus zitierte, ausdrückt: »Weil wir nicht genau wissen, was Russland alles als Kriegserklärung verstehen könnte, habe ich mich entschieden, die Spülmaschine heute nicht auszuräumen.«

Wenn Russlands Drohung, Atomwaffen einzusetzen, einmal Wirkung zeigt, wird sie immer wieder ausgesprochen werden, und früher oder später wird der Punkt kommen, an dem man es darauf ankommen lassen muss, will man nicht alles verlieren. Dann besser jetzt. Es ist meiner Meinung nach keine Alternative, zurückzuweichen, denn das Endziel ist erklärtermaßen die Vernichtung der freien Welt.

Frische Gräber auf einem Friedhof in Butscha bei Kiew

Frische Gräber auf einem Friedhof in Butscha bei Kiew

Foto: Zohra Bensemra / REUTERS

Womit wir wieder bei der Ursprungsfrage wären: Wie wollen wir leben? Und im Zweifel – wie wollen wir sterben? Für alle in Westdeutschland aufgewachsenen Menschen erschien diese Frage lange Zeit reserviert für billige Filmplots, aber tatsächlich stellt sich diese Frage für sehr viele Menschen auf der Welt jeden Tag. Israel wird seit seiner Gründung durchgehend mit Vernichtung gedroht. Warum sollten wir davon ausgenommen sein? Warum sollte es uns besser ergehen als den Ukrainern? Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir zwei oder vier Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an dem man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich Möchtegern-heroisch.

Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschließlich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden.

»Viele können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschließlich an Ideologie, Dominanz und Gewalt«

Daher geht es hier nicht um »Kriegsbegeisterung« oder hastig über den Haufen geworfenen Pazifismus. Und schon gar nicht um die Gefahr, besser keine »Gründe« zu liefern um in den Konflikt »hineingezogen« zu werden. Sondern darum anzuerkennen, dass man einer Bedrohung gegenübersteht, die durch Verhandlungen, Appeasement oder Zugeständnisse nicht abgewendet werden kann, und aus dieser Erkenntnis heraus Verantwortung zu übernehmen. Nicht mehr und nicht weniger, egal wie beängstigend das ist, denn die Alternative ist Unterwerfung, und ob das dann das Überleben sichert, ist keinesfalls erwiesen. Wenn das Deutsche »Nie wieder« in Bezug auf Faschismus nicht weiterhin eine reine wohlfühlige Nostalgie-Posse sein soll, ist es alternativlos, Haltung zu zeigen. Und ja, ich habe große Angst, wie vermutlich jeder.

Demonstranten am 1. Mai in München erinnern an die Toten von Butscha

Demonstranten am 1. Mai in München erinnern an die Toten von Butscha

Foto: IMAGO/Alexander Pohl / IMAGO/aal.photo

Aber die Frage, die einzige Frage, die man sich immer wieder stellen muss, ist: Wer will ich sein und wie will ich leben? Dieses Mal ist es die Ukraine, das nächste Mal Moldau, übernächstes Mal Polen, dann vielleicht Berlin. Wo ist die Grenze? In der Krise zeigt sich der Charakter, sagt Helmut Schmidt. Faschisten sind bereit, jedes Leben und jeden Wohlstand zu opfern, um ihre Ziele zu erreichen, und alle freien Gesellschaften sind Putins erklärte Feinde. Ich fürchte, dass diese Gesellschaften, dass WIR ebenfalls bereit sein müssen, alles zu riskieren, um zu bestehen. Das Bedrohungsszenario ist austauschbar, der Anspruch an die eigene Haltung sollte es nicht sein. Selbst wenn man seinen eigenen Idealen nicht immer entsprechen kann, sollte doch wenigstens klar sein, was die Ideale sind. Und nicht die Angst um das eigene Überleben mit selbstgerechtem Wohlfühl-Pazifismus übergepudert werden.

»Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.« Und wenn man das einmal wirklich in letzter Konsequenz begriffen hat, fällt die Entscheidung, was man tun sollte, nicht mehr schwer.

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