Stasi Oft nur peinlich
Die Überraschung steckte in einem der prall gefüllten Papiersäcke, die das Volk während der Wende vor dem Zugriff der Stasi gerettet hat.
Die Beutel, angefüllt mit zerfledderten und kleingerissenen Akten des DDR-Geheimdienstes, sollten nach dem Wendeherbst 1989 eigentlich im Reißwolf landen. Doch der Sturm auf die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) am 15. Januar 1990 stoppte die Aktion.
Sechs Jahre später setzten Gaucks Rechercheure aus den Schnipseln von »Sack Nummer 957« eine Akte zusammen, deren Inhalt - rund 300 Seiten - einen evangelischen Oberhirten schwer belastet: den früheren thüringischen Landesbischof Ingo Braecklein. Nach Aktenlage war der Theologe Braecklein rund 30 Jahre lang unter dem Decknamen »Ingo« ein williges Werkzeug des ostdeutschen Geheimdienstes.
Die Akte des Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters (IM) »Ingo« diskreditiert nicht nur den evangelischen Bischof und seine Kirche, sondern auch den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, den die Stasi zu DDR-Zeiten ebenfalls, unter dem Decknamen »Sekretär«, als IM geführt hat. Denn Braecklein gehört zu jenen acht angeblich untadeligen Kirchenmännern, die Stolpe als Kronzeugen für seine eigene Integrität aufgeboten hat.
Im Mai 1992 präsentierte Stolpe die acht als seine Mitverschworenen, die wie er selbstlos mit SED- und Stasi-Größen »verhandelt« hätten, um Schaden von ihrer Kirche zu wenden.
Die Akte »Ingo« schildert detailliert, wie Stolpes Bürge mit der Stasi verwoben war. Mit Hilfe des MfS, das enthüllen die zusammengepuzzelten Dokumente, gelang Braecklein eine steile Karriere - vom Pfarrer zum Landesbischof und Mitglied der höchsten Leitungsgremien der DDR-Kirche.
Der Kirchenmann revanchierte sich fürstlich: Laut Akten denunzierte er jahrzehntelang die eigenen Amtsbrüder, lieferte Spitzelberichte über seine Pfarrer und versprach der Stasi, mißliebige Angestellte zu feuern.
Das MfS dankte ihm die Zuträgerei nicht nur mit Hilfen beim Weg nach oben, sondern auch mit Geschenken: mit einer Brecht-Ausgabe etwa, einem kostbaren Teeservice oder echten Kristallgläsern. Ab und zu gab es für den Ober-Christen ein »festliches Essen mit mehreren Gängen« im Interhotel.
An einem konspirativen Gelage mit »Ingo« in einer Ost-Berliner Stasi-Dependance im Oktober 1976 nahm die ganze Stasi-Generalität der für die Kirchen zuständigen Hauptabteilung XX/4 teil, vom Chef, Generalmajor Paul Kienberg, bis zu Manfred Stolpes Führungsoffizier Klaus Roßberg. Dabei überreichten die MfSler »Meißner Porzellan im Wert von 1500 Mark« in einer »dem Anlaß und der hohen Stellung des IM entsprechenden Umrahmung«.
Wie die »Umrahmung« aussah, ist in der Akte »Ingo« penibel festgehalten:
Aperitif, Vorspeise, Suppe, Hauptgericht, Dessert mit div. Mosel- oder Rheinweinen und Sekt, Gebäck und Mokka, anschließend kaltes Bufett mit Kognak. Servierung durch Kellner. Konzertante bzw. Estradenmusik (Tonband).
Verdient hatte sich Braecklein soviel Stasi-Ehre, weil er »entscheidend« geholfen habe, die staatliche Politik »durch seinen persönlichen Einsatz« in der Kirche durchzusetzen.
Bräcklein erinnerte sich in der vergangenen Woche gut an das Treffen: »Kienberg ließ sich einfach nur mit ''General'' anreden. Das Porzellan wurde mir in den Wagen getragen, schön verpackt.«
Die thüringische Landeskirche, der Braecklein bis zu seiner Pensionierung 1978 vorstand, hat alle Verdächtigungen gegen ihren Altbischof stets als »Verleumdungen« zurückgewiesen. Braecklein wurde sogar zum Chef des Vertrauensausschusses berufen, der nach der Wende die Stasi-Verstrickungen kirchlicher Mitarbeiter untersuchen sollte. Doch das Gremium entdeckte kaum Fehlverhalten und stellte seine Arbeit sang- und klanglos ein.
Kontakt zu Braecklein, damals Superintendent in Weimar, hatte die Stasi 1956 aufgenommen. Ohne weitere Vorbehalte, so die Akte »Ingo«, erklärte der Kirchenmann gegenüber den Besuchern, die sich als MfS-Mitarbeiter auswiesen, er sei »zu solchen Gesprächen immer bereit«. Als die Stasi um Konspiration bat, antwortete Braecklein, er erwarte dasselbe auch vom MfS, um keine Schwierigkeiten zu bekommen.
Schon früh führte das MfS Braecklein mit einer eindeutigen Perspektive: Stasi-Vorsteher Erich Mielke schrieb 1957 an SED-Chef Walter Ulbricht, das MfS werde »unseren inoffiziellen Mitarbeiter Superintendent Braecklein« zum Bischof machen.
»Erste Etappe«, resümierte 1966 der MfS-Major Franz Sgraja von der Stasi-Kirchenabteilung, »war die Beförderung zum Oberkirchenrat«, dann Braeckleins »Wahl in die Kirchenleitung«. Das MfS benutzte, um Braecklein zu fördern, andere Stasi-Mitarbeiter in höherer Kirchenfunktion. Es mußten, so Sgraja, »die Stellung von ''Ingo'' unter den Pfarrern der Landeskirche gefestigt werden« und »mehrere Kräfte für den Plan gewonnen werden«, den IM »Stellv. Bischof werden zu lassen«.
Im Juni 1970 war es soweit: Im Interhotel in Potsdam gratulierten die Führungsoffiziere Hans Buhl und Hartmut Kullik ihrem Mitarbeiter »Ingo« zur Bischofswahl. Bei dieser Gelegenheit plauderte Braecklein, so die Akten, sämtliche Interna der zum gleichen Zeitpunkt in Potsdam laufenden Bundessynode aus.
Bei den Treffen von »Ingo« mit dem MfS ging es, wie die Unterlagen belegen, nicht um »Verhandlungen« oder »Hilfe für Menschen« - Vokabeln, mit denen Stolpe und andere Kirchenleute ihre Stasi-Kontakte gern rechtfertigen. Die Protokolle sind oft nur peinlich.
Braecklein zieht darin ungeniert über Amtsbrüder her. Etwa über den Berliner Oberhirten Gottfried Forck: »Als Bischof eine Null; kann sich weder amtlich noch als Mensch durchsetzen; falsches Demokratieverständnis; vom ehemaligen Offizier ist nichts mehr zu spüren; nicht in der Lage, für Ordnung und Disziplin zu sorgen.«
Oder über seinen Thüringer Kollegen und späteren Nachfolger im Bischofsamt Werner Leich. Der sei zu fromm, geizig und habsüchtig. Seine Wohnung habe er »von oben bis unten mit geschenkten Gegenständen aus der BRD ausgefüllt«.
Hohes Lob zollte Braecklein vor den Stasi-Ohren dagegen Manfred Stolpe. Der habe »Kirchengeschichte mitgeschrieben«, an dessen »Weitblick und Realitätssinn kommt fast keiner« in der Kirche heran.
Selbst nach seiner Pensionierung 1978 blieb Braecklein der Stasi treu, obwohl er sich als Ruheständler erst recht nicht auf ein »Verhandlungsmandat« der Kirche berufen konnte. Der letzte erhaltene Treffbericht ist von Februar 1987. Im Gespräch mit Oberstleutnant Roßberg lobt »Ingo« bei dieser Gelegenheit die langjährige »konstruktive Zusammenarbeit« und spricht ihm und den anderen MfS-Mitarbeitern »seine Achtung« aus.
»Ingo«, heißt es in einer MfS-Einschätzung aus dem Jahr 1960 ebenso lapidar wie stolz, »erkennt als leitender Geistlicher voll die DDR als seine ''Obrigkeit'' an.«
Bischof Braecklein äußerte sich letzte Woche zu den neuen Akten gegenüber dem SPIEGEL: »Ich habe alles Notwendige bereits an der Seite von Manfred Stolpe 1992 in Potsdam gesagt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.« Damals habe er betont: »Wir haben mit dem Gegner geredet und eigene Ziele dabei verfolgt.« Vor dem thüringischen Überprüfungsausschuß, der Ende letzter Woche eilends zur internen Sitzung zusammengerufen wurde, bestätigte er jedoch im Grundsatz die Akten.
Der Fall Braecklein ist für die evangelische Kirche doppelt unangenehm, denn die wendige Anpassung an die Obrigkeit hatte der Geistliche schon vor dem real existierenden Sozialismus eingeübt. Kaum hatte Adolf Hitler 1933 die Wahlen gewonnen, trat der junge Pfarrer in die NSDAP ein. Weil er in seinem Thüringer Dorf die »Volksgemeinschaft so positiv erlebte« (Braecklein), engagierte er sich auch gleich in der SA.
An Festtagen ließ Braecklein die Hakenkreuzfahne am Kirchturm von Allendorf wehen. 1940 meldete sich der Kleriker freiwillig zum Kriegsdienst.
Als der Faschismus zusammenbrach und die Rote Armee in Thüringen einrückte, stand es schlecht um Pfarrer Braecklein, doch die Nachbarn schützten ihn. Er wurde nur als »Mitläufer« eingestuft. Seither sprach man in der Kirche über seine Vergangenheit nicht mehr.
Am Donnerstag dieser Woche wird Altbischof Ingo Braecklein 90 Jahre alt. In dem von der thüringischen Landeskirche verschickten Lebenslauf des Jubilars wird die Nazi-Zeit mit keinem Wort erwähnt.
Die Kirchenleitung wird ihren Altbischof mit einem »Festakt« ehren. Die Einladung dazu ziert eine Lieblingslosung Braeckleins, die er als Leitwort für das Bischofsamt gewählt hat: »Ein Mensch kann sich nichts nehmen, es wird ihm gegeben von oben herab.«
Aperitif, Vorspeise, Suppe, Hauptgericht, Dessert mit div.
Mosel- oder Rheinweinen und Sekt, Gebäck und Mokka, anschließend
kaltes Bufett mit Kognak. Servierung durch Kellner. Konzertante
bzw. Estradenmusik (Tonband).
* Bei der Amtseinführung im Juni 1970 in Eisenach; nebenBraecklein Vorgänger Moritz Mitzenheim, rechts dahinter derOst-Berliner Bischof Albrecht Schönherr.* Bei Stolpes Pressekonferenz im Mai 1992.