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Ohne Geld, ohne Moral

aus DER SPIEGEL 26/1996

Nur drei Monate lang erfüllte Mischa Kubarski, 19, aus Ja- roslawl seine vaterländische Pflicht. Zur Ausbildung als Panzersoldat im Fernen Osten eingesetzt, befielen ihn bald Kreislaufschwäche und Übelkeit. Der Militärarzt sah den Fall als ernst an.

Er überwies den Rekruten ins 150 Kilometer entfernte Chabarowsk, den Standort des Divisionslazaretts. Weil der Krankenwagen des Regiments seit Monaten kaputt war, trat Kubarski die Reise per Anhalter an. Er überstand sie nicht.

Die Ärzte diagnostizierten Herzversagen bei starkem Untergewicht. Im patriotischen Dienst mit lediglich Kohl als Grundnahrungsmittel war Kubarski binnen kurzem auf 42 Kilogramm abgemagert.

Der Skandal von Chabarowsk ist kein Einzelfall. Schon vor drei Jahren verhungerten im fernöstlichen Militärbezirk vier Marinekadetten. Zwar stehen laut Instruktion jedem Soldaten täglich Lebensmittel für 8735 Rubel zu, den Preis einer Büchse Fleisch - »aber selbst die haben wir oft nicht«, gestand Generalleutnant Wjatscheslaw Sawinow, Versorgungschef im Mos- kauer Verteidigungsministerium.

»Der Zustand der Armee ist kritisch«, warnt ein Fachmann, General Lew Rochlin. Der jetzige Vorsitzende des Duma-Komitees für Verteidigung hatte sich als Kommandeur im Tschetschenien-Krieg einen Namen gemacht: Aus Scham über die blutige Militäraktion lehnte er die von Oberbefehlshaber Boris Jelzin verliehene Auszeichnung eines »Helden Rußlands« ab.

Generalskollege und Innenminister Anatolij Kulikow fühlt sich inzwischen gar an den Februar 1917 erinnert: »Damals zerschlugen die Bolschewiki die Armee, jetzt wird sie von Geldmangel und Unprofessionalität erwürgt.«

Vor vier Jahren hatte Jelzin seinem getreuesten Kabinettsmitglied Pawel Gratschow die Reform der russischen Streitkräfte übertragen, er scheiterte. Der »beste Verteidigungsminister in den letzten zehn Jahren« (Jelzin 1994), der vielen Untergebenen schon lange als Symbol militärischer Inkompetenz galt, verlor vergangene Woche seinen Posten.

Katastrophaler Geldmangel, Korruption, grassierende Wehrdienstverweigerung und der stümperhafte Kaukasus-Feldzug haben das Ansehen der einst ruhmreichen Truppe völlig verschlissen und einen Großteil der Offiziere zu Anti-Jelzin-Wählern gemacht.

Höchstens ein Drittel der Bewaffnung entspricht modernen Standards. Die Mi-24-Hubschrauber (Armee-Slang: »Kamikaze") stiegen in Tschetschenien nur auf, wenn die Piloten mindestens zwei Kilometer Sichtweite hatten.

Auch die Flotte darbt: Wie einst nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg 1905 rief der Chef der Pazifik-Armada die Bevölkerung jetzt zu Spenden auf - um 8 auf Kiel liegende Schiffe fertigzustellen. Von einst rund 1000 Kriegsschiffen sind nur noch 540 im Dienst, die meisten reparaturbedürftig.

Im ersten Quartal dieses Jahres fehlten der Armee 5,8 Billionen Rubel, das entspricht ungefähr dem Budget für Waffenforschung. So kann Rußlands schimmernde Wehr ihre Rechnungen für Treibstoff und Strom nur noch sporadisch bezahlen. Im Baikal-Militärbezirk verweigerten im März die Eisenbahner jegliche Truppentransporte auf Kredit. In den Kleiderkammern fehlen sechs Millionen Uniformen und zwei Millionen Stiefel. Kurz nach Beginn seiner Amtszeit als Präsident hatte Jelzin versprochen, hinreichend Unterkunft für Militärangehörige zu schaffen. Doch immer noch sind 260 000 Offiziersfamilien ohne Quartier.

Mieser Sold, Gewalt gegen Rekruten - manchmal bis zum Mord - und die Furcht, nach Tschetschenien abkommandiert zu werden, verleiten immer mehr junge Männer zur Flucht vor der Einberufung: Mit 31 000 Verweigerern meldeten die Militärkommissariate letzten Herbst einen Rekord. Freistellungen vom Armeedienst, etwa durch gefälschte Atteste, waren bislang auf dem Schwarzmarkt für 500 Dollar zu haben. Jetzt stieg der Bestechungspreis auf 6000 Dollar, den Wert eines Autos der Marke Lada.

Um den Personalmangel zu beheben, ließ die Armeeführung den Wehrdienst auf zwei Jahre verlängern und lockt per Kontrakt Freiwillige an. Doch nun kommen die Falschen: Wer überhaupt noch einrücke, sei »unsportlich, ungebildet oder kriminell«, befanden Experten des Verteidigungsministeriums in einer Studie: Nach ihrem Personalstand »ist die Armee schon längst nicht mehr kampffähig«.

Den Abgeordneten Rochlin erinnert die bisherige Armeereform an das »wahllose Abbrechen einzelner Eisstücke von einer Eisscholle«. Die Truppe wurde inzwischen zwar von 3,5 Millionen auf 1,7 Millionen Mann reduziert. Doch aufgebläht ist sie noch immer: Weitere 2 Millionen Uniformträger stehen außerhalb des Verteidigungsministeriums unter Waffen, als Polizei-, Wach- und Sondertruppen.

Die Armee entzieht sich weiterhin jeder zivilen Kontrolle. Ungestraft darf sich die Generalität von ihren Soldaten 250 neue Datschen rund um Moskau bauen lassen - Einzelwert bis zu 900 000 Dollar -, während Tausende Offiziere in Zelten hausen.

Eine Revision deckte jüngst Unregelmäßigkeiten in der Finanzverwaltung des Verteidigungsministeriums auf: 200 Milliarden Rubel waren aus den Kassen verschwunden, das Dreifache klagten Banken als Schulden ein. Die Summe hätte gereicht, um die gesamte Armee zweieinhalb Monate zu ernähren.

Minister Gratschow hatte die 75 wichtigsten Posten in Ministerium und Generalstab mit ehemaligen Kameraden aus den Luftlandetruppen, dem Afghanistan-Krieg und der Generalstabsakademie besetzt.

Nie zur Riege gehörte Generalstabschef Michail Kolesnikow, 56, den Jelzin jetzt als Interimsminister einsetzte. Der gelernte Panzermann - Spitzname »Puma« - diente vier Jahre bei den Sowjetstreitkräften in der DDR. Er gilt als fähiger Militär und ehrliche Haut. »Der hat nicht einen einzigen Soldatenlöffel privatisiert«, schwärmt einer seiner Stabsoffiziere.

Nun kommt General a. D. Lebed mit dem Ruf des zupackenden Saubermanns, zur Freude seines Kameraden Rochlin vom Duma-Verteidigungsausschuß: »Mit dieser Aktion«, urteilte Rochlin, »begleicht der Präsident so etwas wie seine Schuld gegenüber dem Volk.«

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