SOWJET-UNION Ohne Gnade
Sie ignorieren durchgezogene weiße Linien, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Verbotsschilder und rote Ampeln. Mit Hup- und Lichtzeichen schaffen sie sich Raum auf Moskaus Straßen.
Auf den Boulevards haben sie gar eine Sonderspur. Sobald sich eine Limousine nähert, die, im Dienste des Staates oder der Partei rollt, scheuchen beflissene Polizisten die anderen Fahrzeuge sofort beiseite.
Die Chauffeure der Obrigkeit mit ihren meist schwarzen Autos sind die Herren des sowjetischen Asphalts. Nur selten stoppt sie ein Verkehrshüter und meistens auch nur dann, wenn der Fond leer ist und der Beamte ein Stück des Weges mitgenommen werden möchte.
Die Spitzen von Partei, Militär und Oberstem Sowjet fahren im handgefertigten »Sil«, so auch Generalsekretär Michail Gorbatschow, dessen Limousine Blau- und Rotlicht auf dem Dach führt. ZK-Sekretäre und Minister, auch der oberste Feuerwehrmann Moskaus, werden in einer etwas kleineren »Tschaika« (Möwe) befördert. Generalen, Kosmonauten, Industriebossen oder Abteilungsleitern steht der solide, aber altmodische »Wolga« zu, je nach Bedeutung persönlich oder auf Bestellung aus dem Fuhrpark.
Da es auch private Wagen dieses Typs gibt, sind die offiziellen mit einem besonderen Nummernschild gekennzeichnet - für viele Fahrer ein Freibrief für kühne Manöver. Die Buchstabenkombination MOS etwa weist auf Parteikader der Hauptstadt hin, Autos mit den Lettern MKO, MOK und MOL gehören zur Fahrbereitschaft des Staatssicherheitsdienstes KGB.
Nun soll Schluß sein mit der Diktatur der schwarzen »Wolgas«, forderte jüngst die Regierungszeitung »Iswestija«, ganz im Sinne von Parteichef Gorbatschow, der selbstherrliche Untergebene gern zur Rechenschaft zieht. Eine Reihe von »ernsthaften Unfällen«, klagte das Blatt, sei durch unverantwortliches Verhalten der Fahrer von Partei- und Ministerial-Behörden verursacht worden.
Nur die mit Martinshorn und Blaulicht ausgerüsteten Wagen dürfen die Verkehrsregeln ignorieren, und auch das nur bei »besonderen Einsätzen«. Die »ständige Demokratisierung unserer Gesellschaft«, kommentierte die »Iswestija«, verlange: »Verkehrsregeln müssen für alle gleich sein.«
Gemeint sind kaum die Karossen der höchsten Genossen. Angesprochen sind vielmehr die Chauffeure der kleinen und mittleren Funktionäre, die sich, wie die »Iswestija« bedauert, nicht von Gesetzen leiten ließen, sondern »vom Rang jener, denen sie dienen«.
Korrespondenten der Regierungszeitung und des Fachblattes »Hinter dem Lenkrad« wollten im Beisein von Polizisten auf den Straßen Moskaus ein Exempel statuieren. Resultat: »Wolga«-Lenker fühlten sich durch die Stoppzeichen der Polizei überhaupt nicht angesprochen, sie verwiesen vielmehr auf das wichtige Amt ihres Herrn.
Der Fahrer des »Wolga« 00-03 MMM, Jewdokimow, der durch schneidige Überholmanöver auffiel, ließ sich erst nach längerer Verfolgung stellen. Dabei ergab sich, daß der Chauffeur des stellvertretenden Chefs der Moskauer Verwaltung für Leichttransportwesen gerade eine Privattour unternahm. Immerhin hatte er den Fünfsitzer nicht zum _(Mit einem Sonderfahrzeug zur ) _(automatischen Stau- und Tempokontrolle. )
illegalen Taxi umfunktioniert, eine bei vielen seiner Kollegen beliebte Methode zur Aufbesserung des schmalen Lohns.
Bei einer Kontrolle in der Provinz in der armenischen Hauptstadt Eriwan erwischte die Polizei den Chef-Fahrer des Modehauses »Erebuni«, der besten Gewissens zum Flughafen gefegt war, Gäste abzuholen. Um hohen Rang vorzutäuschen, hatte er sich ein gelbes Signallicht und eine Antennen-Attrappe auf das Wagenddach montiert.
Allerorts in der Sowjet-Union stoppen die Verkehrspolizisten Eigner von Privatfahrzeugen ohne Gnade selbst aus nichtigen Gründen. Wer eine weiße Linie kreuzt oder zu schnell fährt (Geschwindigkeitsbegrenzung in der Stadt 60 km/h, auf dem Land 90), riskiert Strafen zwischen drei und zwanzig Rubel.
Der Polizist kann zudem - nach seinem Ermessen - noch ein Loch in den dem Führerschein beigelegten Talon knipsen. Kriegt der Fahrer innerhalb eines Jahres drei Löcher, entscheidet die Polizei, ob er erneut zahlen muß (zwischen 50 und 100 Rubel) oder ob er seine Fahrberechtigung für ein halbes Jahr verliert - dies gilt auch, wenn er zum Beispiel nur dreimal falsch geparkt hat.
Wird der Bürger betrunken am Lenkrad erwischt, ist der Führerscheinentzug nicht obligatorisch: Er kann auch mit einem Bußgeld von 100 Rubel davonkommen; für viele ist das ein Monatslohn. Hat er aber einen Unfall verursacht, ist er sein rotes Büchlein je nach Fall bis zu drei Jahre los. Wiederholungstäter können im Arbeitslager landen.
Die Polizisten lassen Behördenfahrer jedoch meist ungeschoren, weil sie Ärger fürchten. Der Oberst Oganjan von der armenischen Verkehrspolizei übte laut »Iswestija« selbst in Gegenwart von Zeitungsleuten Vorsicht, als er nach einer Straßenkontrolle die Liste der Sünder durchsah: »Ein Wagen der Staatsanwaltschaft? Einer der Volkskontrolle? Das lohnt sich nicht zu erwähnen. Unbequem.«
Oganjan, zweithöchster Verkehrspolizist seines Bundeslandes, empfahl den Journalisten, in ihrem Artikel nur Fahrer aufzuführen, die Personen niederen Ranges beförderten. Schließlich ist es Polizeibrauch, gegen Fahrer höherer Chargen keine schriftlichen Anzeigen zu erstatten. Treiben die es allzu arg, erhält allenfalls der Fuhrpark einen Mahn-Rapport.
Solche Berichte, so weiß der Genosse Tschulkow, Verkehrssicherheitschef der Gewerkschaft in Moskau, haben keinerlei »Rechtskraft«.
Die »Iswestija« plädiert deshalb dafür, Strafen fortan wie für jeden normalen Bürger gleich am Tatort zu verhängen. Dafür nannte das Regierungsorgan ein schlüssiges Argument: Die Verkehrsrowdys im Dienstwagen gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch andere - ihre wichtigen Fahrgäste.
Mit einem Sonderfahrzeug zur automatischen Stau- und Tempokontrolle.