SOWJET-AUTOREN Ohne Lizenz
Den Chefredakteur der Hamburger Illustrierten »Der Stern«, Henri Nannen, erreichte kürzlich ein Anruf aus Paris. Agent Edmond Lutrand, der dort den »Stern« und den Rowohlt-Verlag vertritt, teilte seinem Chefredakteur mit, daß mit einer regulären Lizenz für die deutsche Buchausgabe des Romans »Nicht vom Brot allein« nicht zu rechnen sei. Autor des Romans ist der sowjetrussische Schriftsteller Dudinzew.
Chefredakteur Nannen, der seiner Illustrierten vor einiger Zeit den »Verlag der Sternbücher« angehängt hat, war von der Auskunft wenig überrascht. Er beschloß, es mit den Lizenzen in der Literatur nicht genauer zu nehmen als sowjetische Verlage und den Roman von Dudinzew auf eigene Faust übersetzen zu lassen. Mitte Januar veröffentlichte er im »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel« eine zweiseitige Annonce, in der eine deutsche Buchausgabe von Dudinzews Roman - zum Preise von etwa 12,80 Mark - angekündigt wurde. »Die erstmalige Buchausgabe«, hieß es in dem für Buchhändler bestimmten Inserat, »wird in der gesamten westlichen Welt eine literarische Sensation sein. Wegen der zahlreichen Pressekritiken wird die Nachfrage groß sein. Sichern Sie sich deshalb durch rechtzeitige Vorbestellung genügend Exemplare.«
In der Tat hat eine deutsche Dudinzew-Ausgabe alle Chancen, die erste Buchausgabe dieses Romans überhaupt zu sein. Obwohl der Roman in der Sowjet-Union das unbestritten sensationellste literarische Ereignis des vergangenen Winters war, dem auch zahlreiche westliche Zeitungen in ausführlichen Kritiken ihren Tribut zollten, ist Dudinzews Werk bisher noch nicht als Buch erschienen und wird möglicherweise in der Sowjet-Union auch nicht mehr als Buch erscheinen.
Der Roman des Autors Dudinzew, der früher einem technischen Beruf nachgegangen sein soll, war im Juli, August und September 1956 von der sowjetischen Kulturzeitschrift »Nowy Mir« (Neue Welt) fortsetzungsweise in drei aufeinanderfolgenden Heften veröffentlicht worden und hatte in der sowjetischen Öffentlichkeit ein außerordentliches Echo gefunden. Die Kritik nämlich, die Autor Dudinzew an den Verhältnissen in der Sowjet-Union übte, ging beträchtlich über das hinaus, was sich in Ilja Ehrenburgs Roman »Tauwetter« und ähnlichen ersten literarischen Freiheitsregungen ans Licht gewagt hatte.
Dudinzew plädierte für nicht weniger als für das Recht des Individuums gegenüber dem Kollektiv, für das Recht des »Einzelgängers« gegenüber der in der Sowjet-Union herrschenden Schicht, die der Autor obendrein verbrecherischer Machenschaften bezichtigte. Bisher war in allen sowjetischen Kritiken am sowjetischen System die Partei zwar zuweilen durch selbstsüchtige oder auch verbrecherische Funktionäre kompromittiert, vielleicht sogar vorübergehend vom rechten Wege abgedrängt gezeigt worden - insgesamt aber lief es immer darauf hinaus, daß die Partei sich nur auf ihre alten, echten Ziele zu besinnen brauche, um ihren Marsch um so siegesgewisser fortsetzen zu können. Bei Dudinzew ist davon nicht mehr die Rede. Er beschreibt die Kämpfe, die Niederlagen und den Triumph eines Mannes, der sein besseres Recht gegen das Unrecht behauptet, das die herrschende Schicht tut. Dudinzews Held heißt Lopatkin, er war Frontoffizier im zweiten Weltkrieg, später Mittelschullehrer und ist am Ende Erfinder einer Maschine zur Herstellung von Röhren. Gegenspieler Lopatkins, der in einer kleinen sibirischen Stadt lebt, ist der Leiter eines großen Industriekombinats, ein Mann namens Drosdow, der zur herrschenden sowjetischen Funktionärsschicht zählt, die ihr luxuriöses Dasein gegen alle Eindringlinge vollständig abschließt. Drosdow gehört, laut Dudinzew, zum »Geheimbund der Monopolisten«, der allein darüber entscheidet, was als Recht oder Unrecht, als fortschrittlich oder klassenfeindlich zu gelten hat.
Dem Drosdow, der in seinem Kombinat wie ein absoluter Fürst herrscht, legt Lopatkin seine Erfindungen vor; er wird jedoch von dem Funktionär hinausgeworfen, weil »die Sowjetgesellschaft mit Individualisten nichts zu tun haben will«.
Der lästige Lopatkin wird verfemt, sogar - da auch die Polizei ein Instrument jener »Monopolisten«-Clique ist - des Verrats militärischer Geheimnisse bezichtigt und zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Am Ende aber gelingt es einigen Offizieren, den Erfinder zu rehabilitieren, er darf seine Maschine bauen, er gewinnt sogar die Frau seines Gegners Drosdow.
Solange die drei Roman-Teile im »Nowy Mir« erschienen, wurde das Blatt bis zum letzten Exemplar ausverkauft. Der sowjetische Kritiker Slawin nannte den Roman »ein nicht nur literarisches, sondern ein soziales Ereignis«, und der sowjetische Schriftsteller Dujetschkin bewunderte öffentlich »den Mut dieses Autors«. Der sowjetische Schriftsteller Prustowski attestierte in einer Diskussion, die später in der Literaturzeitschrift »Literaturnaja Gaseta« abgedruckt wurde, Dudinzews Buch sei »die unerbittliche Wahrheit, die allein das Volk nötig braucht«.
Während einer Diskussion in der Moskauer Universität bemühten sich die Hochschullehrer vergebens, den Autor Dudinzew vor den stürmischen Ovationen Tausender von Studenten zu schützen. Auch die Tatsache, daß Ende Januar der sowjetische Schriftstellerverband offiziell Dudinzews Buch verdammte, kann nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß Lopatkin das Idol vieler Sowjetbürger geworden ist - der Erfinder ohne Furcht und Tadel, der seinem Gegner, dem Funktionär, die Stellung, die Ehre und die Frau wegnimmt.
Um sich die deutschen Rechte an diesem Buch zu sichern, das offenbar alle schon geläufige sowjetische Selbstkritik übertraf, beauftragte »Stern«-Chefredakteur Nannen seinen Pariser Agenten Lutrand, sich an die »Agence Littéraire et Artistique« in Paris zu wenden, die für sowjetische Lizenzen zuständig ist. Gleichzeitig wurde der Ostberliner Verlag »Kultur und Fortschritt« befragt, der sich für das Gebiet der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik die Optionsrechte auf Dudinzews Roman gesichert hatte. Der Ostberliner Verlag antwortete: »Nachdem wir uns mit dem Autor direkt in Verbindung setzten, verbat er sich, eine Übersetzung nach dem Vorabdruck in der Zeitschrift »Nowy Mir« anzufertigen, und wünschte, daß zunächst eine Überarbeitung seines Werkes abgewartet werde.« Ebenso abschlägig war der Bescheid der Pariser Agentur.
Möglicherweise hat die Ankündigung des »Verlages der Sternbücher« im Börsenblatt, daß er dennoch eine deutsche Buchausgabe veröffentlichen werde, bei einigen östlichen Instanzen einen Stimmungsumschwung bewirkt: Wenn schon eine Veröffentlichung nicht zu verhindern war, so sollte wenigstens der Wortlaut dieser Veröffentlichung unter östlicher Kontrolle bleiben.
Die Pariser Agentur für sowjetische Literatur hatte allerdings schon vor der Ankündigung des Sternbücher-Verlages eine Lizenz an den Verleger Juillard in Paris gegeben, freilich unter der Bedingung, daß der kommunistische Autor Louis Aragon mit der Übersetzung und Bearbeitung beauftragt werde. Nun rief die »Agence Littéraire et Artistique« auch bei dem Agenten Lutrand an und teilte ihm mit, er könne jetzt eine deutsche Lizenz des Dudinzew bekommen - für den Rowohlt-Verlag. Das Manuskript werde aber bereits in deutscher Sprache geliefert und müsse in der vorgelegten Form gedruckt werden. Sollte der Verlag die Übersetzung auf jeden Fall selbst vornehmen wollen, so müsse sie »der Lizenzgeberin« zur Genehmigung und Prüfung eingereicht werden.
Inzwischen hatten sich auf die Börsenblattanzeige bei Nannen bereits einige der gewichtigsten Verlagshäuser gemeldet: Verleger Knopf aus New York, Garzanti aus Mailand, Hutchinson aus London. Ediciones Dinor aus Spanien und zwei holländische Agenten. Sie fragten an, ob der Stern-Verlag ihnen Lizenzen übergeben könne. Nannen stellte den ausländischen Kollegen anheim, es doch genau wie er zu machen: ohne Lizenz zu drucken und das Honorar auf ein Sperrkonto zu überweisen. Aber diesem Rat scheinen die ausländischen Verleger zur Zeit noch nicht folgen zu können, weil die drei Nummern von »Nowy Mir« in Westeuropa offenbar nicht aufzutreiben sind.
So warten die interessierten Verlage auf die deutsche Übersetzung, um sie aus dem Deutschen ins Englische, Spanische, Italienische und Holländische zu übertragen. Von zwei anderen deutschen Verlagen, die ebenfalls auf die Idee gekommen waren, den Roman von Dudinzew zu veröffentlichen, hat mindestens einer, der Langen Müller-Verlag in München, inzwischen seinen Plan wieder aufgesteckt.
Den Russen wird nun ihr Optionsangebot an Rowohlt nichts mehr helfen. Denn ihr Hintergedanke, einem deutschen Verlag eine »gereinigte Ausgabe« mit Lizenz zu übergeben, damit dieser dann seine illegalen deutschen Kollegen verklagt, wird nicht aufgehen, und zwar nicht nur, weil Rowohlt bei diesem Stand der Dinge das Buch gar nicht mehr verlegen wird:
»Stern«-Chefredakteur Nannen hat sich ein Rechtsgutachten anfertigen lassen, aus dem hervorgeht, daß die Sowjet-Union der »Berner Übereinkunft« über die Urheberschutzrechte nicht angehört. Folglich genießen auch ihre Autoren nicht den Schutz, der anderen ausländischen Schriftstellern in Deutschland zukommt.
Inzwischen wird im Verlag der Sternbücher hektisch an der Übersetzung des Buches gearbeitet. Denn der Hamburger Verlag ist nicht davor geschützt, daß ein anderer deutscher Verlag unter anderem Titel das Buch ebenfalls herausbringt.
So haben die Bearbeiter denn auch die schwierigen Recherchen eingestellt, die ergeben sollten, wie Dudinzew mit Vornamen heißt. In der Zeitschrift »Nowy Mir« nennt er sich W. Dudinzew. Der Verlag der Sternbücher hat ihn kurzerhand Wassilij Dudinzew getauft.
»Stern«-Chefredakteur Nannen Wir nannten ihn Wassilij