Terrorismus Ohne Preis
Die Leiche des Studenten Murat Bayrakli, 22, lag verkohlt auf einer West-Berliner Müllkippe, der junge Kurde war von seinen Peinigern qualvoll erstickt worden: Sie hatten ihn geknebelt und den Kopf mit Klebestreifen umwickelt.
Für den bestialischen Feme-Mord an dem angeblichen Verräter aus einer kurdischen Untergrund-Truppe wurde vor knapp einem Jahr Ali Cetiner, 37, vom Berliner Landgericht verurteilt - zu überaus milden fünf Jahren Haft.
Cetiner, der ausführlich über Verbrechen der Organisation geplaudert hatte, war der erste Straftäter mit terroristischem Hintergrund, der in der Bundesrepublik von der umstrittenen, seit 1989 geltenden Kronzeugen-Regelung profitierte: Je mehr einer singt, desto glimpflicher kann er davonkommen - sofern er nicht in Bayern vor Gericht steht.
Dort, vor dem Staatsschutzsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts in München, wurde am Donnerstag voriger Woche der geständnisfreudige und reuige Ex-Terrorist Werner Lotze, 38, zu zwölf Jahren Haft verurteilt: wegen versuchten und vollendeten Polizistenmordes, dreifachen Mordversuchs beim mißglückten Attentat auf die Wagenkolonne des damaligen Nato-Oberbefehlshabers Alexander Haig 1979 in Belgien und schwerer räuberischer Erpressung.
Richter Ermin Brießmann, 54, setzte sich mit dem Urteil, das - außergewöhnlich - drei Jahre höher als der Strafantrag der Bundesanwaltschaft lag, über das Kalkül der Karlsruher hinweg: Sie hatten im ersten Prozeß gegen einen Kronzeugen aus den Reihen der Roten Armee Fraktion (RAF) inhaftierten und künftigen Aussteigern deutlich zu verstehen geben wollen, daß sich das Ablaß-Geschäft mit dem Staat lohnt.
Herausgekommen ist eine neue Diskussion über das Kronzeugen-Gesetz der Bonner Koalition, das bei den meisten Rechtskundigen - von den Organisationen der Anwälte bis hin zum konservativen Deutschen Richterbund - ohnehin auf schwere Bedenken gestoßen war. Mußten sich Cetiners Richter vorwerfen lassen, sie hätten rechtsstaatlich kaum noch vertretbare Milde walten lassen, steht die Justiz nach dem überraschend harschen Lotze-Urteil nun im Ruch, sie erschleiche sich das Vertrauen von RAF-Aussteigern, ohne die versprochene Gegenleistung für umfassende Geständnisse zu erbringen.
Bei der »ersten großen Bewährungsprobe« habe die Kronzeugen-Regelung »glatt versagt«, kommentierte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Willfried Penner. Sein liberaler Kollege Burkhard Hirsch hält »das Strafmaß für außerordentlich hoch«. Und selbst bei den Christdemokraten stieß der Münchner Spruch auf Unverständnis. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Johannes Gerster fand das Urteil »sehr, sehr hart«. Angebote, die aktiven Terroristen gemacht würden, müßten erst recht für einen Aussteiger gelten, der »seit zehn Jahren in der RAF nicht mehr tätig war«. Gerster: »Das Urteil hat keinen guten Signalcharakter.«
Lotze-Anwalt Dieter Hoffmann beschwor nach dem Urteilsspruch die Gefahr, daß die RAF nebst Sympathisanten im moderaten Auftreten der Bundesanwaltschaft »nur ein neues Gewand für das alte Konzept« sehen werde, »Niederlagen zu bereiten und Rache zu üben«. Reinhard Berkau, Hamburger Anwalt der einsitzenden RAF-Aussteigerin Sigrid Sternebeck, 41, kommentierte: »Mit dem Urteil locken wir doch keinen Hund hinter dem Ofen hervor.«
Das sei auch gar nicht die Aufgabe des Gerichts, argumentierte Richter Brießmann, ehrenamtlicher Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken in Bayern und früher scharfer Staatsanwalt am Landgericht München I. Er halte »jede übertriebene Barmherzigkeit« für fehl am Platze, weil sie »die Abschreckung« anderer Täter vermindere.
Daß die Kronzeugen-Paragraphen aus Barmherzigkeit geschaffen wurden, dürfte selbst ihren christliberalen Erfindern neu sein: Sie hatten sich, nachdem seit 1982 kein Miglied der RAF-Kommando-Ebene mehr gefaßt werden konnte, Vorteile für die Terror-Bekämpfung erhofft. Straffreiheit oder Strafmilderung bis herunter auf drei Jahre bei Mord wird in dem Gesetz für Aussagen angeboten, die zur Ergreifung eines Täters führen, eine Straftat umfassend aufklären oder »insbesondere« künftige Straftaten verhindern können.
Daß Lotze ausführlich über eigene und andere Untaten ausgesagt hatte, so bescheinigte ihm während des Prozesses der Karlsruher Bundesanwalt Wolfgang Pfaff, 56, besitze bei der »Auseinandersetzung mit dem Terrorismus« einen »außerordentlich großen strategischen Wert« und verdiene daher »im Rahmen der Anwendung der Kronzeugen-Regelung eine positive Bewertung«.
Verkehrte Welt: Während der Vertreter der Anklage zusammen mit der Verteidigung für Milde plädierte, suchte der Richter nach Gründen für Härte. Lotze, argumentierte er, habe nur zu einer »historischen Aufarbeitung« vergangener Straftaten beigetragen und sei deshalb kein »klassischer« Kronzeuge.
Dennoch wolle er nicht, wie eigentlich geboten, eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen, sondern einen Kronzeugen-Bonus gewähren - indem er die Gesamtstrafe, rühmte sich Brießmann, »mehr als halbiert« habe. Seine Kalkulation wie auf dem Taschenrechner: 9 Jahre für den Polizistenmord plus 9 Jahre für das Haig-Attentat plus 3 plus 4 Jahre für zwei Banküberfälle macht 25 Jahre geteilt durch 2 ergibt abgerundet 12 Jahre.
Hätte Lotze geschwiegen, wäre er besser davon gekommen: Der ursprüngliche Haftbefehl lautete nur auf einen Bankraub und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, die ohnehin verjährt war. Den Mord, die Beteiligung am Haig-Attentat und einen weiteren Bankraub hatte der Kronzeuge aus freien Stücken gestanden.
Obwohl Lotze, bei bester Führung, nur die Hälfte der Strafe absitzen muß, löste Brießmanns kleines Kronzeugen-Einmaleins bei Bundesanwaltschaft und Sicherheitsbehörden heftigen Groll aus. Ein Terror-Experte: »Von denen, die in der Illegalität leben, hat doch keiner mehr eine Veranlassung, sich den Behörden irgendwie zu nähern.«
Generalbundesanwalt Alexander von Stahl bescherte der Nachkriegsjustizgeschichte ein absolutes Novum: Er legte bereits wenige Stunden nach Verkündung des Brießmann-Spruchs Revision beim Bundesgerichtshof zugunsten des Angeklagten Lotze ein.
Der oberste Ankläger will retten, was zu retten ist: Weitere fünf RAF-Aussteiger, die nach zehn Jahren kleinbürgerlicher Resozialisierung in der DDR letzten Juni gefaßt wurden, warten in den nächsten Monaten auf ihren Prozeß - als nächste sind voraussichtlich Silke Maier-Witt, 41, Henning Beer, 32, und Sigrid Sternebeck dran. Bei ihren Anwälten fühlt sich besonders Stahls Bundesanwalt Pfaff, der in allen Prozessen über den Wert der Kronzeugen-Geständnisse referieren will, in der Pflicht.
Im Lotze-Prozeß sagte er, es liege »eine gewisse Selbstbindung« der Bundesanwaltschaft vor, daß, wo irgend möglich, »großzügig« auf Anwendung der Kronzeugen-Regelung plädiert werden soll. Dafür gebe es, so Pfaff, »ein Vertrauen der Anwälte in meine Person«.
Das Vertrauen kann er, wenn überhaupt, nur retten, falls die nächsten Urteile milder ausfallen. Die Richter stehen erneut vor schwierigen Ermessensentscheidungen, für die es erst nachträglich eine Richtschnur geben wird: wenn der Bundesgerichtshof, mit einer Revisionsentscheidung im Fall Lotze, den Spielraum bei der Anwendung der Kronzeugen-Regelung definiert.
Lotze selber reagierte, so sein Anwalt Hoffmann, auf das Verdikt »relativ gefaßt«. Er habe das umfassende Geständnis abgelegt, »ohne dafür einen Preis zu erwarten«; diesen Schritt bereue er auch nach dem Urteil »in keiner Weise«.
Brießmann kann die Aufregung über sein Rechenexempel nicht so recht verstehen. Er bleibe dabei, daß dieses erste Verfahren gegen einen RAF-Kronzeugen kein Musterfall gewesen sei. Brießmann: »Pilotprozeß, Pilotfunktion - das trifft auf unseren Fall nicht zu.«