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SOWJET-UNION / AGROSTÄDTE Ohne Privatkuh

aus DER SPIEGEL 40/1960

Einem Aufsatz des Professors Stanislaw Gustawowitseh Strumilin, 83, konnten die Leser der »Stroitelnaja gaseta«, des Zentralblattes für das sowjetische Bauwesen, vor kurzem entnehmen, was bislang von der offiziellen Kreml-Propaganda verschwiegen wird: Die Sowjet-Union ist dabei, das Beispiel der geschmähten chinesischen Volkskommunen nachzuahmen.

Der Moskauer Wirtschaftstheoretiker ließ freilich durchblicken, daß die projektierten Sowjet-Kommunen allenfalls den Namen, keineswegs aber die Primitivität mit dem chinesischen Vorbild gemein haben werden. Prophezeite Altbolschewik Strumilin: »Es wird in den künftigen Kommunen keine elenden Gemeinschaftshäusergeben, mit gemeinsamen Küchen und dem ewigen Gezänk der gequälten Frauen und Mütter. Die Kommunen werden aus Häusern bestehen, die wie Erholungsstätten mit Speisehallen und vollständiger Bedienung eingerichtet sein werden ...«

Zugleich deutete der Professor an, wozu so günstige Voraussetzungen die Sowjet-Menschen beflügeln wollen: »In den ... Kommunen (werden) alle Empfindungen des Menschen vollblütiger, sein Schaffen freudvoller, sein ästhetischer Geschmack feiner, die Moral höher ... sein denn je.«

Der Gelehrte ließ allerdings offen, bis zu welchem Zeitpunkt dieser Zustand sozialistischer Glückseligkeit in

der Sowjet-Union erreicht werden soll. Doch war seinen Andeutungen zu entnehmen, daß er dafür das Jahr 1985 vorgesehen hat.

In diesem Punkt weicht indes die-Prognose des Professors von den offiziellen Sowjetplänen ab. Der Initiator des Kommunenprojekts, Nikita Chruschtschow, hält eine Vorbereitungszeit, von 20 Jahren für ausreichend: Der Sowjetboß hat es etwas eiliger als der greise Prophet der »sozialistischen Zukunft des Sowjetmenschen«, weil er die noch immer überaus rückständige Landwirtschaft mit Hilfe der Kommunen endlich dem Entwicklungsstand der Sowjetindustrie angleichen möchte. Der Wunsch, den Chinesen anhand russischer Kommunen wahren Kommunismus zu demonstrieren, tritt dabei zugunsten wirtschaftlicher Überlegungen in den Hintergrund.

Chruschtschows Plan, die verrotteten Bauerndörfer des Sowjetreichs durch moderne Agrostädte und die Kolchos -Schlamperei durch kollektive, auch die bisherigen Staatsgüter (Sowchosen) einbeziehende Wohn- und Arbeitsgemeinschaften zu ersetzen, entstand schon Anfang der fünfziger Jahre. Damals hatte der Amateur-Agronom, zu jener Zeit Erster Parteisekretär des Gebietskomitees Moskau, die Umwandlung der Landwirtschaft in eine straff sozialistisch organisierte Wirtschaftsgruppe vorgeschlagen. Aber Stalin hielt von solchen Neuerungen nichts.

Erst nach dem Tode des georgischen Diktators fand der nun selbst zur Führungsspitze aufgerückte Nikita Chruschtschow Gelegenheit, seine Lieblingsidee wieder hervorzukramen. Gegen den Widerstand einiger Mitglieder des Zentralkomitees entwickelte der rustikale Sowjetboß einen Reorganisationsplan, der die Landwirtschaft rationeller und damit produktiver machen soll.

Stalin hatte - mit Erfolg - den Aufbau der sowjetischen Industrie forciert, darüber aber die Entwicklung der Landwirtschaft vernachlässigt. Die landwirtschaftliche Produktion hatte acht Jahre nach Kriegsende einen absoluten Tiefstand erreicht. Anhand sowjetischer Statistiken errechnete der deutsche Ostwirtschafts-Experte Günther Wagenlehner*, daß die sowjetische Landwirtschaft im Jahre 1953 über weniger Vieh verfügte als zur Zarenzeit und trotz gestiegener Bevölkerungszahl nur unwesentlich mehr Getreide produzierte als das zaristische Rußland vor dem Ersten Weltkrieg.

Derart mißliche Umstände erzwangen eine Zwischenlösung: Die Nachfolger Stalins gestatteten den Kolchos-Bauern, ihren privaten Viehbesitz zu vergrößern. Innerhalb von zwei Jahren stieg daraufhin die sowjetische Fleisch- und Milch -Produktion beträchtlich, aber der wirtschaftliche Erfolg stand in krassem Gegensatz zur kommunistischen Ideologie. Von den Sowjetkühen waren (1955) rund 57 Prozent in privatem und nur noch 43 Prozent in staatlichem oder genossenschaftlichem Besitz.

Für den plötzlichen Eifer der Kolchosniki gab es eine einfache Erklärung. Da

die private Produktion nicht vom Staat erfaßt und aufgekauft wurde, konnten diese Erzeugnisse zu freien Preisen auf den Märkten gehandelt werden. Das Ergebnis: Die Leistungsfähigkeit der Kolchosen sank von Jahr zu Jahr, die Privateinnahmen der Kolchosniki stiegen.

Gleichzeitig besserte sich jedoch die Versorgung mit - privat produzierten - landwirtschaftlichen Produkten, so daß die Sowjetführung zunächst nur behutsam gegen diesen Rückfall in den bäuerlichen Kapitalismus vorging. Kritisierte Landwirtschaftsreformer Chruschtschow: »In einigen Gebieten wächst die Zahl der Kühe hauptsächlich dank der Vergrößerung des (privaten) Viehbestands der Kolchosmitglieder, während die Zahl der Kühe in den Kolchosen und Sowchosen entweder gleichbleibt oder sich gar vermindert.«

An die Stelle der attraktiven Formel »Kommunismus plus Privatkuh« trat inzwischen das Zukunftsbild der Chruschtschowschen Agrostädte. Die ersten vorbereitenden Schritte wurden bereits getan: Um die Kolchosen leistungsfähiger zu machen, wurden ihnen die staatlichen Maschinen-Traktoren -Stationen übergeben.

Gleichzeitig gingen zahlreiche Kolchosen dazu über, ihren Mitgliedern nach, dem Beispiel der Industrie genormte Arbeitslöhne auszuzahlen. Außerdem wurden die 83 100 Kolchosen der Sowjet -Union in den Jahren 1956 bis 1959 zu 59 600 Großbetrieben zusammengelegt. Und schließlich erhielten alle Kolchosbauern in diesem Jahr ein Arbeitsbuch, dessen Eintragungen künftig über ihre Arbeitsleistungen Aufschluß geben sollen.

Trotz fortschreitender Mechanisierung der Landwirtschaft ist es nämlich bislang nicht gelungen, die Arbeitsproduktivität der Kolchosniki wesentlich zu steigern: Während in den USA - so berechnet Günther Wagenlehner - 13,5 Prozent der Bevölkerung ausreichen, um die Gesamtbevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, sind 56,6 Prozent der Sowjetbevölkerung nicht in der Lage, jeden Sowjetmenschen hinlänglich mit Lebensmitteln zu beliefern.

Dieses für die Sowjets weder wirtschaftlich noch propagandistisch besonders günstige Ergebnis schreckt indes die Moskauer Agro-Planer nicht. Sie verweisen auf das Nahziel für 1965 bis dahin soll in der Sowjet-Union der gleiche Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln erreicht werden wie in den USA - und setzen ihre Hoffnungen auf den Zwanzigjahresplan Chruschtschows, der die Agrarstruktur Sowjetrußlands vollständig umstülpen soll.

Chruschtschows Ziel: die Bauern als Berufsstand endgültig abzuschaffein und durch landwirtschaftliche Facharbeiter zu ersetzen, die dann - von der letzten Privatkuh befreit - tagsüber nach den rationellen Produktionsmethoden der Industrie auf den Feldern arbeiten und sich abends in urbaner Umgebung erholen.

Die ersten - freilich noch bescheidenen - Ansätze dieses Mammutprojekts sind bereits erkennbar: In einigen Gebieten der Sowjet-Union ist mit dem Abbruch der Bauernhütten und dem Aufbau von Städten inmitten der Großgüter begonnen worden. Das Zentrum

dieser Agrar-Fabriken bilden städtische Wohnsiedlungen, Internatsschulen, Hospitäler und Kulturhäuser. Jede dieser neuen Agrostädte ersetzt bis zu 20 alte Dörfer. Die Durchschnitts-Einwohnerzahl soll 2000 bis 3000 Menschen beträgen.

Wenn die Umwandlung, - etwa 1980

- abgeschlossen ist, sollen,

- 100 000 Dörfer durch 10 000 Landstädte ersetzt,

- sieben Millionen Wohnhäuser und

- Internatsschulen für 3,8 Millionen Kinder gebaut worden sein.

Sowjetbürgern, die noch an dem unaufhaltsamen Siegeszug der kommunistischen Zivilisation auf dem Dorf zweifeln, verspricht Professor Strumilin Kinos, Theater, Klubs, Sportanlagen und Bibliotheken, die sich von den künftigen »Gemeinschafts-Wohnpalästen« - so Stanislaw Gustawowitsch - »vor den Gefahren des modernen Verkehrs vollkommen geschützt ... in weniger als zehn Minuten Fußweg« erreichen lassen.

* Günther Wagenlehner: »Das sowjetische wirtschaftssystem und Karl Marx«; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 1960; 352 Seiten; 15,80 Mark.

Strumilin

Agro-Prophet Chruschtschow, Kolchos-Bauern: 1980 in Wohnpalästen

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