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Rußland Ohne Schuß, mit Gas

Zum Verteidigungsminister stieg ein General auf, dem der Dichter Jew-tuschenko einmal »Grausamkeit« vorgeworfen hat.
aus DER SPIEGEL 30/1996

Die waffenlosen Protestler vor dem Regierungsgebäude von Tiflis beteten gerade das Vaterunser, am 9. April des Revolutionsjahres 1989, da schlug die russische Ordnungsmacht zu.

Ihr Einsatzleiter war der Befehlshaber des Wehrbezirks Transkaukasus, der Afghanistan-erfahrene General Igor Nikolajewitsch Rodionow. Er hatte aus Moskau Weisung erhalten, um jeden Preis die 100 000 Demonstranten für den Austritt Georgiens aus der UdSSR niederzuschlagen - aber ohne zu schießen.

Rodionows Männer, dabei Fallschirmjäger aus Tula und Sonderpolizisten, führten außer vier Panzern denn auch keine Waffen mit. Sie benutzten Feldspaten und chemische Kampfstoffe. Nachher lagen 19 Tote auf dem Rustaweli-Boulevard, darunter zwei erwürgte Mädchen und ein geköpftes Kleinkind. 138 Opfer kamen mit Symptomen der Einwirkung eines Nervengases ins Krankenhaus. Kein Schuß war gefallen.

Ein Fallschirmjägerregiment hatte jener Alexander Lebed kommandiert, der jüngst zum obersten Verantwortlichen für Rußlands Sicherheit aufstieg. Tiflis, so Lebed, war einer jener »Brennpunkte«, über die er in der Umbruchzeit »spazierte«. Sein Wunschkandidat wurde vorige Woche Verteidigungsminister Rußlands: der Spaten-und-Gas-General Rodionow, 59.

Präsident Boris Jelzin, 65, bildet nach dem Wahlsieg seine neue Regierungsmannschaft. Von Wahlreisen in 30 Regionen erschöpft, über drei Wochen lang dem Blick seiner Untertanen entrückt, ließ Jelzin einen minderrangigen Besucher einen Tag warten, bis er ihn - den US-Vizepräsidenten Al Gore - im Regierungssanatorium Barwicha bei Moskau vorließ.

Beim Fototermin erschraken Beobachter über das blasse, starre Antlitz Jelzins, der mühsam durch den Raum tappte wie einst der Sowjetchef Leonid Breschnew in seinen letzten Jahren. Staatsgast Gore aber huldigte dem Symbol russischer Staatsmacht, er sei gut in Schuß, gar lustig gewesen.

Nach dem starken Votum der Bevölkerungsmehrheit für diesen Präsidenten (eher: gegen seinen kommunistischen Rivalen) hat Jelzin die Machtverhältnisse im Kreml jetzt geordnet. Wie einstmals Deutschlands Reichspräsident Hindenburg kann er beruhigt eine zweite Amtsperiode antreten: Lebed sorgt für Sicherheit; der altneue Premier Wiktor Tschernomyrdin beschafft mit seinen Rohstoffexporten Devisen und, im Westen ist er hoch angesehen, Kredite.

Zur Besänftigung der Reformer und Intellektuellen zog Jelzin als Dritten im Bunde einen studierten Wirtschaftsingenieur wieder an sich, der als eine Art russischer Treuhandchef die Privatisierung der Volkswirtschaft durchgesetzt hat, erst im Januar von Jelzin abgesetzt und dann mit der Organisation des Wahlkampfs beauftragt war: Anatolij Tschubais, 41.

Der wurde Jelzins »Erster Berater« und Leiter des Präsidialamts. Nicht einmal der Reform-Zar Alexander II., rühmte er seinen Herrn, habe soviel wie jener für Rußland getan.

Die drei Machthaber lassen sich - ein bewährtes Herrschaftsmittel - gegeneinander ausspielen: Es geht darum, wer in vier Jahren, wenn Jelzin laut Verfassung nicht noch einmal antreten kann, ihm nachfolgen wird. Lebed blieb versagt, gleich Vizepräsident zu werden; am Wahltag soll er (was er dementiert) Jelzins Leibwächter mit Anrufung der vierten Gewalt der USA bedroht haben: »Wenn Ihr mich nicht zum Präsidenten durchlaßt, gehe ich zu CNN und verkünde, Jelzin sei tot.«

Er bekam seinen Wunschkandidaten Rodionow an der Spitze der Militärgewalt. Und der rügte Tschernomyrdins Kurs als »gegen das Militär gerichtet und prowestlich«. Mit der Tiflis-Expedition in der Personalakte, äußerte sich Rodionow aber zurückhaltend: Die Armee habe auf einem »innenpolitischen Kampffeld nichts verloren - und nichts zu gewinnen«.

Der »Schlächter von Tiflis«, wie er bis heute in Georgien genannt wird, hatte seinerzeit die lokale Jugendzeitung mit einem Massaker-Bericht einstampfen und bereits ausgelieferte Exemplare aus den Briefkästen fischen lassen. Als Moskauer Schriftsteller einen von Jewgenij Jewtuschenko formulierten Protest gegen »die Grausamkeit der Armee« unterstützten, übernahm Rodionow für das Gemetzel die Verantwortung.

Dabei hätte er »alle Anschuldigungen sofort abschmettern können«, erinnert jetzt sein damaliger Untergebener Lebed, aber dafür sei er eben »zu edel und zu diszipliniert« gewesen: Rodionow befolgte, wie das Generäle so tun, nur einen Befehl von oben, von der Partei.

Das bestätigte ihm zwei Jahre später eine Untersuchungskommission, die herausbekommen wollte, wer denn den Befehl erteilt habe. Im Politbüro der KPdSU war damals der Außenminister Eduard Schewardnadse zuständig, Landsmann der Demonstranten und vormals ihr Polizei- und Parteichef. Freund Michail Gorbatschow, der Oberste, hob die Hände: Er selbst sei erst am Vorabend aus England zurückgekehrt (von wo er jedoch schon zwei Tage vorher abgeflogen war).

Rodionow schied ehrenhaft aus dem aktiven Truppendienst aus, trat an die Spitze der Generalstabsakademie in Moskau und mischte sich in die Politik ein. Auf dem KPdSU-Parteitag 1990 setzte er Flugblätter gegen den libera-len Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew in Umlauf: Der habe nach einem neuen »Hitler« gerufen.

Als der Volksdeputierte Alksnis, ein reaktionärer Obrist, ein halbes Jahr vor dem Putsch von 1991 den Sturz Gorbatschows forderte, empfahl er, wer einer neuen Regierung angehören müsse: Rodionow.

Voriges Jahr beschuldigte Rodionow die politische Führung einer schlechten Vorbereitung des Tschetschenien-Krieges und pries den Zentralismus der Sowjetzeit. Er verdammte die Journalisten als Dreckschleudern wider »das Heiligste des Heiligen, den Patriotismus der Soldaten« und plädierte für einen »effektiven Apparat zur geistig-ideologischen Beeinflussung« der Truppe. Jetzt empfahl Jelzin ebendas: die »Ausarbeitung« einer alle einigenden Weltanschauung der »nationalen Idee«.

Auf einer Wahlveranstaltung Lebeds wetterte Rodionow, die Welt sei nicht, wie sich das Gorbatschow einst gedacht habe, von »allgemein-menschlichen Werten« bestimmt, sondern vom Wettkampf ums Überleben im 21. Jahrhundert.

Kurz vor seiner Berufung zum Minister empfahl sich der Panzersoldat aus der Provinz, geboren in einem Dorf bei Pensa, mit Vernunft: Rußland solle die Kontakte zur Nato weiter ausbauen , »wo immer es geht«, und auch nicht mehr zu beweisen suchen, daß die Probleme in Europa und anderen Weltgegenden nur mit Rußland gelöst werden könnten. So etwas diene nur dazu, »unseren Größenwahn zu rechtfertigen«.

Rodionow riet dringend, »daß ein Zivilist Verteidigungsminister wird, allerdings einer mit etwas Ahnung von operativer und strategischer Führung. Mindestens ein dreimonatiges Seminar an unserer Akademie muß er hinter sich haben«.

Kaum war er selbst Minister geworden, schlug Rodionow schon wieder eine Volte. Er kommandiert nun eine demotivierte, unterernährte und kaum besoldete Armee von 1,3 Millionen Mann - und hochmoderne U-Boote mit 20 Raketen, die je 10 Atomsprengköpfe tragen.

Diese Armee müsse kraft »gesunden Nationalismus« wieder an Ansehen gewinnen. Für den Fall, daß das nicht gelänge, prophezeite Rodionow eine Lage im Land, welche äußerste Maßnahmen erfordere: »den Einsatz der Streitkräfte«.

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