BERLIN Ohne Wert
Im Frühjahr 1976 offerierte die DDR dem Berliner Senat ein ungewöhnliches Geschäft. Die Stadt könne, tickerte es über Fernschreiber der amtlichen Nachrichtenagentur ADN, die ganze S-Bahn im Westen pachten und künftig selber betreiben -- 77 Bahnhöfe, 145 Kilometer Strecke.
Hundert Millionen Westmark, begründeten die Anbieter, hätten sie ihrerseits im Jahr davor draufgelegt -- eine Art verlorener Zuschuß für DDR-Verkehrsminister Otto Arndt. Sein Land könne es sich nicht leisten, auf Dauer »die Bedürfnisse der West-Berliner Bevölkerung« zu finanzieren.
Mit solcher Dialektik bot die SED ihr Recht feil, auch in West-Berlin die Stadtbahn zu betreiben. Denn eben jene »Betriebshoheit« hatten 1945 Sowjets und West-Alliierte der heute in Ost-Berlin residierenden Deutschen Reichsbahn für den Berliner Fern- und Nahverkehr, West wie Ost, zuerkannt -Anlaß für ein Vierteljahrhundert politischen Ärgers in der geteilten Stadt.
Jetzt ist er ausgestanden. und auch die seltsam anmutende Offerte von 1976 hat der West-Berliner Senat in diesen Tagen zu den Akten gelegt: Die West-Berliner wollen die Bahn nicht haben, nicht einmal geschenkt.
Die S-Bahn mit ihren funzelig erhellten Geisterwagen -- was hat sie nicht schon hinter sich. Vor dem Krieg fuhren Züge im 90-Sekunden-Rhythmus. da kamen selbst die Bahnen in New York und London nicht mit. Nach dem Krieg war sie Flüchtlingsschleuse mit täglich Tausenden von DDR-Abgängern, die gleich bis zur S-Bahn-Station Marienfelde durch ins Notaufnahmelager fuhren.
Nach dem Mauerbau standen Streikposten der West-Berliner Gewerkschaften vor den Bahnhöfen des von Ost-Berlin dirigierten Verkehrsmittels. Auf Pappschildern brandmarkten sie Fahrgäste: »Der S-Bahn-Fahrer bezahlt den Stacheldraht«, nachts flogen Pflastersteine gegen die schäbigen Abteile. Boykott in »solidarischer Haltung mit den bedrängten Brüdern im Ostteil unserer Stadt«. wie es Willy Brandt damals formulierte, war das Gebot der Stunde.
Binnen einer Woche blieben vier Fünftel der zuvor nahezu 500 000 Stammfahrer weg. Reklametafeln verödeten. Kiosk- und Budenbesitzer, die ihre Miete nicht gen Osten. sondern dem West-Berliner Finanzsenator überwiesen, schlossen resigniert, Längs der S-Bahn-Trassen richteten die West-Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) mit Millionenverlusten sechs unrentable Parallelstrecken ein. Deutsche Kommunen schickten, Notopfer S-Bahn-Boykott. Busse in die eingemauerte Stadt.
Von diesem Kollaps erholte sich die Stadtbahn nie mehr, obwohl längst nicht mehr jeder Kommunistenfreund sein muß, der die inzwischen eine Mark teure Fahrkarte am Schalter löst. Nicht von ungefähr, daß die DDR das heruntergekommene Verkehrsmittel loswerden wollte.
Offiziell übersah Berlins Regierender Bürgermeister Dietrich Stobbe zwar das Angebot. Bei den Gesprächsrunden seines Reise- und Besuchsbeauftragten in Ost-Berlin war die Bahn ebensowenig ein Thema wie im Parlament. Zum einen, zumindest nach der Meinung westlicher Berlin-Experten, war der Senat nicht der richtige Adressat, hatte die DDR schon gar nicht die Legitimation -- obschon sie das von ihr betreute Bahn-Areal nur zu gern als eigenes Territorium reklamieren möchte.
Zum anderen aber signalisierten die drei westalliierten Stadtkommandanten, denen Aufsicht, Kontrolle und Oberhoheit über das gesamte West-Berliner Reichsbahngelände obliegt, daß sie an der Bahnfront keine einseitigen Veränderungen wünschen. Sie allein hätten mit bindender Kommandantura-Order den Senat anweisen können. gewissermaßen als ihr Agent mit den Betreibern jenseits der Mauer über eine mögliche S-Bahn-Übergabe zu verhandeln.
Intern freilich ließ Stobbe durchaus rechnen, prüfen und gutachten. Und erwartungsgemäß erlebten die Berliner auch bei dieser Bestandsaufnahme ihr blaues Wunder. Schotter und Unterbau der Gleisanlagen sind über weite Strecken erneuerungsbedürftig, die Schienen ausgeleiert, der Wagenpark der traditionell rot-gelb gestrichenen Elektrozüge ist überaltert. Verkehrsangebot wie Verkehrsleistung der ostgesteuerten S-Bahn sind seit Jahrzehnten hinter westlichem Standard zurückgeblieben.
Die Sanierung der Stadtbahn geriete so leicht in die Milliarden. Rund 300 bis 400 Millionen Mark addierten die Experten als anteilige Kosten für den jährlichen Unterhalt und die fällige Modernisierung. Der Investitionsbedarf der nächsten zehn Jahre könnte nach ihrer Rechnung 1,5 Milliarden betragen -- unkalkuliert bislang, wie teuer Stichstrecken zu neuen Trabantenstädten wie etwa dem Märkischen Viertel oder Spandaus Falkenhagener Feld zu veranschlagen wären.
Auch die Neuordnung des gesamten öffentlichen Nahverkehrs, den Totalverbund mit einer westbetriebenen S-Bahn einmal durchgespielt, wäre unumgänglich. Derzeit benutzen im Tagesschnitt 1,5 Millionen Fahrgäste Verkehrsmittel der BVG -- bei gerade 75 000 S-Bahn-Fahrern. Je mehr freilich die Stadtbahn an Attraktivität gewinnen und Benutzer der anderen Verkehrsmittel abziehen würde, um so mehr würde sich auch das BVG-Defizit erhöhen, das schon derzeit pro Jahr an die 375 Millionen heranreicht.
Geradezu minimale Mehrkosten würden dagegen entstehen, wenn die DDR eines Tages ihre Betriebspflicht aufkündigen würde und die bisherigen Fahrgäste von der Eisenbahn auf Bus eder U-Bahn umsteigen müßten. Die Senatsplaner errechneten für diesen Fall einmalige Anschaffungskosten in Höhe von 35 Millionen Mark und eine jährliche Mehrbelastung des Haushalts von elf Millionen. »Der Schaffung eines überdimensionierten öffentlichen Nahverkehrsnetzes zu immensen Kosten«, lautet denn auch ihr Fazit, »steht mithin kein Bedarf gegenüber.
Die Senatsgutachter machen sich offenbar schon mit dem Gedanken vertraut, eines Tages S-Bahn-Anlagen schleifen zu müssen und dort womöglich, wie einer von ihnen schwärmt, »umweltfreundlich« eine Autobahn zu planieren. Denn den wahren Wert der S-Bahn. die einmal Europas schnellste war, sehen sie ohnehin in der Erinnerung an bessere oder turbulente Tage.
»Die Erwartungen, die sich immer wieder an eine Übernahme der S-Bahn in Berlin-West knüpfen. beschreibt es einer der beamteten Eisenhahnfachmänner. müßten »in das Gebiet historischer Reminiszenzen von eisenbahnromantischer Prägung verwiesen werden«.