Zur Ausgabe
Artikel 43 / 67

SOWJET-UNION / KRIM-TATAREN Ohr ab

aus DER SPIEGEL 40/1967

»Ein großer deutscher Kurort« sollte die ganze Halbinsel im Schwarzen Meer werden. »Kraft durch Freude«-Chef Robert Ley wollte dem deutschen Volk ein Erholungs-Eiland schenken, das deutsche Truppen 1942 erobert hatten: die Krim.

»Die Krim«, so befahl Hitler schon drei Wochen nach dem Angriff auf die Sowjet-Union, »muß von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden.«

Deutsche Touristen, die 1967 vom Krim-Kurort Sotschi aus ins Halbinsel-Innere vorstießen, fanden an den Hängen des Jaila-Gebirges verlassene Dörfer und verfallene Moscheen. Ihre einstigen Bewohner, die Krim-Tataren, hatten die Heimat räumen müssen. Doch es war keine deutsche Besatzer-Order, die sie vertrieben hatte, es war ein Ukas ihrer eigenen Sowjetregierung: Die Krim-Tataren hatten mit den Deutschen kollaboriert.

Hitlers Himmler hatte deshalb die geplante Aussiedlung zurückgestellt: »Für die Dauer des Krieges muß jedes Anrühren der Tatarenfrage und auch jedes Umsetzen von ihnen in geschlossene Gebiete unbedingt vermieden werden.« Denn: »Wir dürfen nicht die geringste Unruhe in dieses heute zu uns hinneigende und uns vertrauende Volkstum bringen.«

Die Tataren, in der Pflege ihres mohammedanischen Glaubens von den ungläubigen Bolschewiken bedrängt, hatten die Deutschen als Befreier begrüßt. Die Wehrmacht ließ dafür die tatarischen Kriegsgefangenen frei.

Krim-Kommandeur Feldmarschall von Manstein befahl »Achtung vor den religiösen Gebräuchen« der Tataren und begrenzte die Requisition: »Die letzte Kuh, die Zuchtsau, das letzte Huhn oder das Saatgut« sollten Deutschlands schlitzäugigen Freunden erhalten bleiben.

Manstein-Nachfolger Feldmarschall von Kleist befahl am 17. Februar 1943, die Besetzten -- Nachfahren der »Goldenen Horde« Dschingis-Khans, die jahrhundertelang Rußland beherrschten -- seien »als Bundesgenossen zu behandeln«.

Das Turkvolk, das ein Viertel aller Krim-Bewohner stellte, durfte sich auf lokaler Ebene selbst verwalten; es gab eine Zeitung in türkischer Sprache ("Asat Kirim") heraus. Auf Wunsch der türkischen Regierung, deren Hilfe Hitler suchte, entstand ein »Zentrales Mohammedanisches Komitee«. Der Hitler-freundliche Großmufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, förderte den Plan, ein Krim-Muftiat zu errichten.

Zu diesem Zweck wurde ein emigrierter Tatar, wie es in deutschen Akten heißt, »fernschriftlich aus Rumänien angefordert«. Hitler witzelte: »Bald bin ich der Oberhäuptling der Tataren. Araber und Marokkaner nehmen bereits meinen Namen in ihre Gebete auf. Bei den Tataren werde ich Khan werden.«

Zu einer echten Selbstregierung indessen gelangten selbst die germanophilen Krim-Türken nicht: Der künftige Krim-Kurort sollte letztlich auch tatarenrein werden. Denn die Krim -- und das faszinierte Hitler -- war einst Mittelpunkt des Ost-Gotenreichs.

Hitler wünschte, Simferopol in »Gotenburg« und Sewastopol in »Theoderichhafen« umzutaufen. Er wollte die deutschstämmigen Südtiroler -- deren Siedlungsgebiet er seinem Freund Mussolini vermacht hatte -- ans Schwarze Meer verpflanzen. Der Führer meinte, sie brauchten ja nur einen deutschen Strom, die Donau, hinunterzufahren, dann seien sie schon da.

Vorerst waren noch die Tataren da. In »Freiwilligen«-Verbänden fochten sie fortan auf deutscher Seite gegen ihre einstigen Beherrscher. Sechs rein krimtatarische Bataillone kämpften gegen Sowjet-Partisanen.

Aber das NS-Herrenrassen-Denken machte auch vor den tatarischen Hiwis nicht halt. Auf der Krim wurden zusammen mit Juden auch tatarische Untermenschen ermordet -- weil die Mörder oft nicht wußten, daß auch Mohammedaner sich beschneiden lassen.

Nationaldichter Musa Dschalil wurde wegen »antideutscher Agitation« hingerichtet. Und am 28. Februar 1944 berichtete die Wehrmacht: »In jüngster Zeit haben sich die Tataren als außerordentlich unzuverlässig erwiesen.«

Doch als Wochen danach wieder Rotarmisten auf der Krim einzogen, galten die Tataren als Verräter am Sowjet-Reich. Das Argument dafür hatten die Nazis selbst geliefert: Am 21. Februar 1943 grüßte das Goebbels-Blatt »Das Reich« die »neuen Verbündeten«, die beim planmäßigen Rückzug der deutschen Truppen als fünfte Kolonne zurückblieben. Erst nach fünf Tagen wurde der Artikel zurückgezogen, weil er »die Existenz verschiedener Nationalitäten gefährdet«.

Die krimtatarische Nationalität verlor wegen ihrer Teutonen-Treue fast die Existenz. Stalins NKWD vollbrachte, was Hitlers SS nicht mehr erreicht hatte: Die Tataren wurden von der Krim nach Sibirien und Mittelasien verbannt, viele liquidiert.

Die etwa 300 000 Tataren teilten das Schicksal anderer Nationalitäten, die wegen Zusammenarbeit mit den deutschen Feinden deportiert und deren selbständige Sowjetrepubliken aufgelöst wurden: die Kalmücken von der Wolga, die vom Ostlandreiter und späteren Bundesminister Theodor Oberländer geförderten Tschetschenen, Inguschen und Balkaren im Nordkaukasus -- und die Wolgadeutschen.

Die Wolgadeutsche Republik, deren Territorium deutsche Truppen nie erreicht hatten, war schon am 28. August 1941 wegen »Verrats« aufgelöst worden. Deutsche, Kaukasier, Kalmücken und Krim-Tataren zogen nach Sowjetasien, die meisten nach Kasachstan.

Kasachstan wurde Schmelztiegel der Nationalitäten, Versuchsfeld einer Bevölkerungsassimilation nach amerikanischem Muster.

Diesen gewaltsamen Bruch mit Lenins Grundsatz von der »Selbstbestimmmung der Nationalitäten« beklagte -- nach Stalins Tod -- Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956: »Kein Marxist-Leninist und überhaupt kein vernünftiger Mensch kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker samt Frauen und Kindern, alten Leuten, Kommunisten und Komsomolzen für feindliche Handlungen verantwortlich zu machen und der Not und dem Elend auszusetzen.«

Chruschtschow brachte seine Zuhörer dabei zum Lachen: »Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal allein deshalb, weil sie so zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können.«

Vom Schicksal zweier Nationalitäten sprach Chruschtschow nicht: den Wolgadeutschen und den Krim-Tataren.

Beide wurden auch ignoriert, als 1957 der Oberste Sowjet fünf Völkerschaften rehabilitierte und ihre autonomen Republiken wiederherstellte, um »Unrecht wiedergutzumachen«.

Erst 1964 wurde die Ehre der Wolgadeutschen wiederhergestellt. Doch in ihre Wolga-Heimat durften sie nicht zurück, sie erhielten auch nicht wieder eine eigene Republik. Die tüchtigen Schwaben hatten sich an ihren neuen Arbeitsstellen unabkömmlich gemacht.

Sie haben deutsche Zeitungen, Sibiriens Sender sprechen deutsch für sie; doch eine nationale Gemeinschaft gibt es nicht mehr -- und sie drängen auch nicht danach. »Wenn einem ein Ohr abgeschnitten wurde«, vertraute ein sowjetdeutscher Bauleiter dem SPIEGEL in der Transsibirischen Eisenbahn an, »dann riskiert man nicht auch noch das andere.«

Die letzten diskriminierten Deutschen-Freunde im Russen-Reich erhielten Anfang dieses Monats ihre Rechte zurück: Kurz vor der 50. Jahrfeier der Oktoberrevolution -- und wenige Tage vor dem Moskau-Besuch des türkischen Premiers Demirel -- rehabilitierte ein von Staatspräsident Podgorny unterfertigter Erlaß die Krim-Tataren.

Die Kooperation einzelner mit der deutschen Besatzung, so erklärt das Dekret, »war ungerechtfertigt dazu benutzt worden, der gesamten Tatarenbevölkerung der Krim die Schuld zu geben«. Das Dekret weist die Behörden an, den Tataren »in Anerkennung ihrer nationalen Interessen und Charakterzüge« beizustehen.

Der Erlaß wurde jedoch in Moskau nicht veröffentlicht, er erschien vorerst nur in den Provinzzeitungen Mittelasiens. Eine Rückkehr in die Heimat am Schwarzen Meer ist nur Einzelpersonen gestattet. Ihre frühere autonome Republik wurde mit der ganzen Krim längst in die Ukrainische Sowjetrepublik eingemeindet.

Zur Ausgabe
Artikel 43 / 67
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren