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Ohrfeigen für den Parteisekretär

In der Arbeiterstadt Ursus begannen die Proteste gegen die geplanten Preiserhöhungen ähnlich wie in Radom: als spontane Streiks und friedliche Demonstrationen. Aus Furcht vor den empörten Arbeitern schlug die Polizei erst nachts nach Auflösung der Kundgebungen zu und machte wahllos Jagd auf Menschen. Die Verhafteten wurden geprügelt, einige vor Gericht gestellt, alle aus ihrem Betrieb gefeuert. Ein Parteibefehl sorgte dafür, daß sie auch andernorts keine Arbeit fanden. Das belegen Berichte, die eine Gruppe polnischer Menschenrechtler gesammelt und dem SPIEGEL zur Verfügung gestellt hat.
aus DER SPIEGEL 48/1976

In den Morgenstunden des 25. Juni war fast die gesamte Belegschaft der »Mechanischen Werke Ursus« (Traktorenwerk) in Streik getreten. Zunächst warteten die Arbeiter auf dem Werksgelände auf die Vertreter der Direktion, und gegen neun Uhr verließen sie das Gelände und zogen vor das Direktionsgebäude. Sie forderten Konsultationsgespräche mit Vertretern der höchsten Instanzen. Nachdem die Direktion diese Forderung abgelehnt hat, stiegen die Arbeiter auf die nahe liegenden Eisenbahngleise und stoppten den Zugverkehr auf den Strecken Warschau-Kutno (Fernverbindung zwischen Moskau-Warschau-Berlin-Paris) und Warschau-Skiernewice. Ziel dieser Aktion war, daß möglichst viele Leute über den Streik erfahren.

Die Protestaktion verlief eine ganze Zeit lang ziemlich ruhig. Die Miliz hat nicht interveniert, es wurden nur große Einheiten in Bereitschaft gebracht und auch ständige Observation von einem Helikopter aus geführt.

Von den wichtigeren Zwischenfällen wäre zu nennen: Der Erste Sekretär der Partei-Werksorganisation und der Direktor der Ursus-Werke sind, nachdem sie in ihren Reden die Streikenden kritisiert hatten, von einer Arbeiterin geohrfeigt worden. Züge, darunter ein internationaler, sind gestoppt worden. Es wurden Eisenbahnschienen demontiert. Es wurde ein (übrigens mißlungener) Versuch unternommen, die Schienen mit Hilfe eines Azethylenbrenners durchzuschneiden.

Eine Lokomotive wurde in die Lücken zwischen den Schienen geschoben. Ein Lieferwagen mit Eiern ist beschlagnahmt und die Eier an die streikenden Arbeiter und an Straßenpassanten verteilt worden. Ein Lastwagen mit Zucker wurde gestoppt und ein Teil seiner Ladung verteilt.

Gegen 20 Uhr hörten die Arbeiter die Fernsehansprache des Premierministers, in der mitgeteilt wurde, daß die verordneten Preiserhöhungen zurückgenommen sind. Danach fingen die Streikenden an, nach Hause zu gehen. Gerade in diesem Augenblick gingen die Milizeinheiten zum Angriff über; sie beschossen die nach Hause gehenden Arbeiter mit Splitter-Geschossen und Tränengas und bearbeiteten sie mit Schlagstöcken und Fußtritten.

Während des Milizangriffs entzündete sich (wahrscheinlich durch ein Geschoß oder durch die Ladung) ein Speisewagen. Der Werkschutz versuchte den Brand zu löschen, jedoch war seine Aktion durch die sich wiederholenden Attacken der Miliz erschwert, und der Speisewagen sowie ein Teil eines Passagierwaggons wurden vernichtet. Danach veranstaltete die Miliz in der ganzen Stadt Ursus eine regelrechte Menschenjagd. Die Leute auf den Straßen, hauptsächlich Jugend, wurden brutal zusammengeschlagen. Uniformierte und nichtuniformierte Milizeinheiten verfolgten die Leute in der Nähe des Werksgeländes, auf den Hauptstraßen der Stadt, an den Peripherien; auch unbeteiligte Passanten.

Die Festgenommenen wurden mit Stöcken, mit Autorad-Schlüsseln, mit Gürtelklammern geschlagen, sie wurden mit den Absätzen getreten, oft bis zur Bewußtlosigkeit. Die Aktion dauerte bis zu den Morgenstunden.

Hier einige Beispiele für das Verhalten der Ordnungskräfte:

* Ein Arbeiter, der von der zweiten Schicht auf dem Weg nach Hause war, wurde festgenommen und geschlagen. Noch in dem Polizeiauto wurde er weiter mißhandelt. > Ein Arbeiter ging seiner Frau entgegen, die nach ihrer Schicht zu Fuß aus dem Städtchen Wlochy zurückkehrte. Er wurde vor ihren Augen festgenommen, geschlagen und an den Beinen zum Milizauto geschleppt. > Ein Arbeiter. der mit seiner hochschwangeren Frau nach Hause ging, wurde von ihr weggerissen und in den Milizwagen gestoßen.

* Ein Arbeiter, der abends auf dem Weg zu seinem Arbeiter-Wohnheim war, wurde von einer Gruppe Zivilisten festgenommen, in ihren (ebenfalls zivilen) Wagen geschleppt und dort blutig geprügelt.

* in der »Helden-von-Warschau«-Straße, in der Nähe der Milizkommandantur, wurde eine Gruppe junger Leute von Milizionären umzingelt und geschlagen. Als einer von ihnen bewußtlos war und umfiel, haben die Milizionäre den Liegenden weiter mißhandelt. Später wurde er von einem Rettungswagen weggebracht.

* Einem jungen Arbeiter wurde durch einen Schlag mit dem Knüppel der Kiefer an zwei Stellen gebrochen.

* In die Milizkommandantur in Ursus gebracht, mußten alle Festgenommenen zunächst, manche sogar zweimal, ein Milizionär-Spalier passieren, wobei sie von beiden Seiten mit Schlagstöcken mißhandelt wurden. Innerhalb des Gebäudes befand sieh ein spezieller Raum, in den man die Verhafteten einzeln hereinstieß. Drinnen standen einige Milizionäre, die alle Delinquenten mit Knüppeln schlugen und traten.

Es sind Fälle bekannt, in denen den Festgenommenen Rippen gebrochen wurden. Hinter dem Gebäude wurde ein »Gesundheitspfad« eingerichtet: Die Festgenommenen mußten im Kreise laufen -- unter einem Hagel von Knüppelschlägen.

Es ist bis heute kein einziger Fall bekannt, in dem ein Festgenommener nicht geschlagen wurde, Insgesamt wurden in jener Nacht 200 bis 300 Menschen verhaftet.

Die Verhafteten wurden anschließend zu dem Mostowski-Palast (Polizei-Hauptkommandantur in Warschau) gebracht. Diejenigen, die infolge der Mißhandlungen nicht mehr imstande waren zu gehen, wurden an den Füßen geschleppt und in die Milizautos gestoßen. In dem Mostowski-Palast wurden von ihnen Photoaufnahmen gemacht und Fingerabdrücke genommen.

Danach wurde im Licht von Ultraviolett-Lampen nach Spuren von Pulver gesucht, mit dem die Geschosse der Miliz während der Pazifizierungsaktion in Ursus gefüllt waren. In der Kommandantur fanden auch die ersten Verhöre statt; danach wurden die Verhafteten in die Rakowiecka-Straße (Gefängnis in Warschau) gebracht.

Am Sonntag, dem 27. Juni 1976, hat das »Strafbestimmende Kollegium« seine Tätigkeit aufgenommen. Die Verhafteten wurden beschuldigt, Milizionäre angegriffen, den Befehl zum Auseinandergehen mißachtet, Geschäfte demoliert zu haben. In den meisten Fällen handelte es sich um falsche Beschuldigungen. Als Zeugen fungierten meistens nicht diejenigen Milizionäre, die die Beschuldigten festgenommen hatten; die Verhandlungen verliefen aufgrund einer schriftlichen Aussage des abwesenden Zeugen der Anklage. Fast alle Beschuldigten wurden verurteilt; sie erhielten Geldstrafen (zwischen 1 51)<) und 500<) Zloty*),

* Kaufkraft: ca. 150 bis 500 Mark

»Arbeitsstrafen« (einige Dutzend Arbeitsstunden ohne Belohnung) oder Arreststrafen mit Bewährungsfrist. Die meisten verurteilten Arbeiter wurden nach 48 Stunden freigelassen.

Am Montag (dem 28. Juni 1976) nahmen die freigelassenen Arbeiter ihre Arbeit wieder auf. Manche von ihnen mußten jedoch, infolge der erlittenen Mißhandlungen, zu Hause bleiben. Nach einigen Tagen wurden alle zuvor festgenommenen Arbeiter fristlos entassen -- als Begründung wurde der Artikel 52 Paragraph 1 des Arbeitsgesetzes genannt. Diejenigen, die in dem Arbeiter-Wohnheim lebten, mußten am Tag nach ihrer Entlassung ausziehen.

Aber nicht nur die Festgenommenen haben ihre Arbeitsplätze verloren; die Entlassungsaktion umfaßte eine breitere Gruppe. Als Grund für diese Entlassungen dienten die von der Miliz gemachten Photoaufnahmen, Aussagen mancher Werksleiter und Denunzianten. Dabei wurden auf drastische Weise die Arbeiterrechte verletzt. Hier nur einige Beispiele:

* Fristlose Kündigung eines Arbeiters, der seit längerer Zeit krankgeschrieben war und eine ärztliche Bescheinigung darüber hatte. Er war wegen seiner Erkrankung an dem fraglichen 25. Juni überhaupt nicht im Werk.

* Fristlose Kündigung eines Arbeiters, der während der Ursus-Unruhen in Urlaub war.

Da am 25. Juni fast alle Arbeiter in Ursus gestreikt hatten, konnte man auch jeden rausschmeißen, wenn er der Werksleitung nicht gefiel.

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