
Ein Leserbrief, der mich zum Nachdenken brachte Werden Politiker vom SPIEGEL »niedergeschrieben«?


SPIEGEL-Redakteur Martin Knobbe im Berliner Hauptstadtbüro
Foto: DER SPIEGELEin Leserbrief brachte mich zum Nachdenken, länger, als ich gedacht hätte. Er erreichte mich, nachdem ich im Spätsommer einen kritischen Leitartikel über Olaf Scholz geschrieben hatte.
Der Tenor meines damaligen Textes: Scholz sei ein kluger Stratege, zu einem guten Kanzler mache ihn das noch lange nicht. Für die künftigen Herausforderungen brauchte es meiner Ansicht nach mehr als die »Weiter so« -Attitüde, die Scholz damals ausstrahlte.
Der Leser kritisierte gar nicht so sehr den Inhalt des Kommentars. Er fragte schlicht: Wen sollen wir denn dann wählen? Er sagte, wir, also der SPIEGEL, hätten alle Kandidaten »niedergeschrieben«: Armin Laschet hatten wir im »Asterix«-Stil auf dem Titel als »Häuptling Wirdsonix« persifliert , Annalena Baerbock nach ihren vielen Fehlern ebenfalls scharf kritisiert – eine Woche nach dem Scholz-Kommentar erschien eine kritische Titelgeschichte über die Grünen .
Sind wir destruktiv? Tragen wir zu Politikverdrossenheit bei, wenn wir ständig jede und jeden an der Spitze der Politik kritisieren? Reden wir damit einer populistischen Weltsicht das Wort, in der »die da oben« sowieso unfähig sind? Das sind Fragen, die den SPIEGEL seit Jahrzehnten begleiten. Aber noch nie gingen sie so direkt an mich.
Nun gehört der kritische Blick zur DNA eines seriösen Politikjournalisten, für den SPIEGEL gilt das erst recht. Dass wir bei jeder Politikerin, bei jedem Politiker, egal welcher Couleur, das Haar in der Suppe suchen und hoffentlich auch finden, erwarten unsere Leserinnen und Leser von uns, davon bin ich überzeugt. Dennoch wäre es falsch, wenn nach dem Lesen politischer SPIEGEL-Artikel nur Frust, Resignation oder gar Wut blieben. Was also sind die Lehren aus der Kritik des Lesers? Stand heute sehe ich zwei.
Erstens müssen wir sprachlich abrüsten. Ich weiß nicht, wie oft der SPIEGEL – und andere – in dieser Pandemie von Staats- oder Politikversagen geschrieben haben, aber es war wohl zu oft. Manchmal, wenn offensichtliche und dringend nötige Schritte der Politik bewusst oder aus Unvermögen unterblieben sind, sind diese Wörter angemessen. Zugleich sollte man sich immer vergegenwärtigen, was es heißt, wenn ein Staat so richtig versagt. Historische und aktuelle Beispiele dafür gibt es genug.
Zweitens sollten wir noch öfter aufzeigen, was gut läuft und was ein Vorbild für eine Problemlösung sein kann. Während der Pandemie haben wir das manchmal gemacht, wenn Länder wie Israel es mit engagierten und kreativen Aktionen schafften, die Infektionszahlen nach unten zu drücken. Zu zeigen, wie es gehen kann, zu beschreiben, warum es gut läuft, das sollten wir viel öfter versuchen. Ohne die scharfe Kritik zu unterlassen – wenn sie berechtigt ist.