»Onkel Ho liebt seine Kinder alle gleich«
Schrecksekunde in Saigon: Auf dem Sockel des gestürzten Kriegerdenkmais am Lam-Son-Platz, wie auf einem Altar, brennt ein Mensch.
Niemand weiß, wofür er sich geopfert hat -- Soldaten reißen die neben dem brennenden Körper liegenden Papiere, die mögliche Erklärung, dem Reporter aus der Hand. Filme werden konfisziert, die Menge auseinandergetrieben.
Dennoch hat der Selbstmord des Namenlosen unmittelbare Wirkung: Der Klimawechsel in Saigon ist fühlbar geworden. Angst tritt wieder an die Oberfläche.
Die Euphorie der ersten Tage ist vorbei, dem Jubel über das Kriegsende, der Erleichterung über das Ausbleiben befürchteter Schreckensgerichte folgt dumpfes Unbehagen. Denn der Geist der Versöhnung, von dem die neuen Herren unermüdlich reden, hat an Kontur verloren. Den Worten sind die rechten Taten nicht gefolgt -- dafür immer häufiger das Gegenteil.
Fünf Tage nach der Selbstverbrennung, ein Autodafé: Nicht nur »Playboy« -und »Penthouse«, auch Bücher von Graham Greene und Kenneth Galbraith wandern auf den Scheiterhaufen ... In einem Geschäft an der Tu-Do-Straße liegt eine Familie in ihrem Blut. Der Inder hatte sich geweigert, das »dekadente Gedankengut« den Flammen der Revolution zu opfern. Mit einer Maschinenpistole beantworten junge Milizionäre den bourgeoisen Eigensinn Ehefrau und Kinder inbegriffen.
»Der eigene Mund ist eine selbstmörderische Waffe«, sagt General »Big« Minh, der große Schweiger, der für zwei Tage letzter Präsident und Liquidator des alten Südvietnam war und jetzt als Pensionär ohne Pension in seinem Garten Orchideen gießt.
Mit kindlicher Naivität, unbekümmert, so als sei nichts gewesen, hatten die Saigoner zunächst weitergemacht wie bisher. Linda, Freudenmädchen aus Passion, war nach ersten Besserungsschwüren wieder an ihren Stammplatz auf der Terrasse des Continental Palace Hotels zurückgekehrt, und mit ihr die Kolleginnen. Schwarzer Geldtausch. Markt der Diebe -- alles wie gehabt.
Die Leichtfertigkeit der Saigoner wurde von den neuen Machthabern zunächst geduldet: »Wir wollen unseren Brüdern in Saigon klarmachen, daß wir keine Bestien sind«, so ein Presseoffizier im Außenministerium. Doch die Geduld von Militärs hat Grenzen und noch immer haben die Generale das Sagen in Saigon. Niemand weiß. warum die provisorische Revolutionsregierung (PRG) noch nicht amtiert. Das »Military Management Committee«, die Militärregierung unter dem Revolutionsgeneral Tran Van Tra, hat sich im ehemaligen Präsidentenpalast eingerichtet -- wie es scheint auf Dauer.
Zwar sind einige Mitglieder der PRG nach der großen Siegesparade am 15. Mai in der Stadt geblieben, und sie unterhalten sogar in dem Dienstgebäude des früheren Premierministers an der Thong-Nhat Avenue einige Büros -- aber die ehemaligen Ministerien, die ihre Arbeit mittlerweile wieder aufgenommen haben, unterstehen direkt der Militärregierung.
»Das militärische Verwaltungs-Komitee«, so ein enttäuschter Medizin-Student, regiert nicht, und das verwaltet noch viel weniger. Die verbieten nur.« Und in der Tat: Alle politischen Parteien sind verboten, die Schwimmbäder geschlossen, die Bars und Tanzlokale, seit sechs Wochen auch die Banken.
Es wird nicht mehr gefeiert, es wird umerzogen: Beamte, Soldaten, Studenten, Kinder. Im Chinesenviertel Cholon mußten fünf- bis zehnjährige Schüler morgens um fünf in der Schule erscheinen, die meisten hatten noch nicht gefrühstückt. Als die Kinder über Hunger klagten, antwortete der Lehrer: Dann laßt uns mal zu Eurem Gott beten, mal sehen, ob der hilft.« Gegen zehn Uhr endlich hatte der Lehrer eine bessere Idee. Er las ein Gedicht über
* Le Duc Tho (Pfeil)
Ho Tschi-minh vor und sagte dann: »Onkel Ho ist immer bei uns, er liebt seine Kinder alle gleich.« Dann teilte der Lehrer Reis aus.
Aus den Lautsprechern in den Straßen, die bis zur Niederlage Propagandaparolen des alten Regimes plärrten, klingen jetzt andere Töne: »Vietnam ist wieder eins«, heißt eines der Lieder, die vom frühen Morgen bis in den Abend immer wieder gespielt werden.
Vietnam ist wieder eins, das ja, doch keiner weiß so recht auf welche. Weise. Bei der Siegesparade drängte sich auf der großen Holztribüne sozialistische Prominenz aus Nord und Süd. Die Generale in ihren nach sowjetischem Muster geschnittenen, völlig identischen Uniformen, an denen nur die unterschiedlichen Kokarden diesen als nord- und jenen als südvietnamesischen Offizier auswiesen, Politbüromitglieder aus Nord und Süd, Staatspräsident Nord, Premierminister Süd, und natürlich Le Duc Tho und Madame Binh. Eine Show in Einigkeit.
Aber eben: Was sich an bekannten Süd-Politikern zeigte, war anscheinend bloß Dekor. Tausende von Funktionären sind mittlerweile aus dem Norden eingeflogen worden, zum Teil auch mit dem Schiff gekommen. »Hanoi bestimmt, die Militärregierung führt aus -- und die PRG wird noch nicht einmal gefragt«, so analysierte ein ehemaliger Senator des alten Regimes die Lage.
Und doch spricht einiges dafür, daß die formale, die völkerrechtliche Wiedervereinigung noch einige Zeit auf sich warten lassen wird. Rechtsanwalt Ha Huy Dinh, der zwei Jahre im Untergrund für die Revolution arbeitete, glaubt zu wissen, warum: »Die gesellschaftlichen Unterschiede und das wirtschaftliche Gefälle sind zu groß für eine sofortige Wiedervereinigung. Deshalb wird es eine Übergangsphase geben. Die kann bis zu zwei Jahren dauern.
Die gesellschaftlichen Unterschiede, sie zeigen sich in Saigon an jeder Ecke: Der Schwarzhandel mit Kameras und Radios. mit gestohlenem Benzin in amerikanischen Whisky-Flaschen vor den verlassenen Tankstellen der Multis -- wer will ihn verbieten, ohne ganzen Familien ihre Erwerbsquellen zu nehmen? Die Cafés sind überfüllt mit Studenten, die bei einer Coca Cola stundenlang darüber brüten, daß ihr bisheriges Studium vertane Zeit war: Management und Business-Administration -- die heraufziehende Planwirtschaft funktioniert anders.
Für die Dauer der von Dinh erwarteten
Übergangsperiode würde es demzufolge bei der formalen Trennung bleiben, die sich zur Zeit auf offiziellen Papieren schon im provisorischen Namen Südvietnams ausdrückt: »Cong-Hoa Mien-Nam Viet-Nam«, Republik Südregion Vietnam -- ein besonderer Teil des Ganzen.
Und auch finanzielle Interessen der Sieger beeinflussen anscheinend das vorsichtige Taktieren Hanois: »Wir fordern von den Ländern, die für die Zerstörung Südvietnams verantwortlich sind, Wiedergutmachung«, meinte ein Presseoffizier aus Hanoi und fügte ausdrücklich hinzu: »Besonders von den USA und der BRD, die den amerikanischen Aggressionskrieg bis zum Schluß vehement unterstützt hat.«
Tatsächlich fällt auf, daß von allen Botschaften. die vor dem Sieg der Kommunisten evakuiert wurden, nur jene der USA und der Bundesrepublik
noch nicht als Kasernen oder Freizeitheime der Sieger genutzt werden: Vor der US-Botschaft wurde aufgeräumt, das Gebäude verschlossen, das Gelände durch mehrere Posten gesichert, während auf dem Gitterzaun und in den Fenstern der britischen Botschaft quer gegenüber Dschungelsoldaten ihre olivgrüne Unterwäsche trocknen.
Ist im Fall der US-Botschaft das politische Kalkül offensichtlich -- im Fall der deutschen Botschaft liegen die Verhältnisse etwas anders. Hier hat ein früherer Fremdenlegionär in heroischem Einzelkampf das Schlimmste verhütet: Hausmeister Arno Knöchel, der sich derzeit gerne mit Herr Botschafter anreden läßt, holte am Befreiungstag kurzerhand den Bundesadler ein und zeigte fremde Flagge -- die der Befreiungsfront.
Mit mehreren Dutzend vietnamesischen Freunden und Familienangehörigen haust Knöchel in der Kanzlei unter einem Bildnis von Feldmarschall Rommel und hält die Stellung -- offensiv: Nach drei Wochen wanderte der Bundesadler wieder am Fahnenmast empor, wo er jetzt für friedliche Koexistenz mit dem goldenen Stern der Befreiungsfront zeugt.