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»Opfer eines Geschäfts mit der Angst«

SPIEGEL-Reporter Hans-Joachim Noack über Werner Krum, Leiter des geschlossenen Boehringer-Werks *
Von Hans-Joachim Noack
aus DER SPIEGEL 28/1984

Seit Wochen trägt der Chemiker Werner Krum mehrere Spick- und Merkzettel mit sich herum. Selbstgefertigte Blätter, auf denen es von Nullen hinter dem Komma nur so wimmelt, aus der Welt der wahnwitzig kleinen Teile, Volumina und Gewichte. Die zieht er aus seiner Brieftasche hervor, so oft er spürt, daß er von »fragenden Blicken« umstellt ist.

Atemberaubend, erläutert der 57jährige promovierte »Organiker« anhand dieser Notizen, sei der Fortschritt, den die Analytik in der letzten Dekade erzielt habe. Vom sogenannten ppm- in den ppq-Bereich vorgestoßen ( = ein Teil von einer Quadrillion Teile), könne die Wissenschaft heute im Vergleich zum Erkenntnisstand Mitte der siebziger Jahre Stoffe und Schadstoffe um den unvorstellbar hohen »Faktor eine Milliarde« genauer erfassen.

»Redlich«, erklärt er alsdann, hätten sich auch die Technologen in dieser Zeitspanne bemüht. Resultat: Qualitätssteigerung, etwa bei Luftfiltern, um das Zehnfache; eine schöne Entwicklung, aber eben gegenüber der Analytik ein Klacks.

In der Chemie, verdeutlicht der Dr. Krum nun auch häufig zunehmend irritierten Freunden und Bekannten, habe sich eine Lage ergeben, die ihn an »die Geschichte vom Hasen und Igel« erinnere: Uneinholbar groß der Vorsprung derer, die da »irgendwelche Befunde« ermittelten. Kaum zu bremsen leider aber auch der »völlig gewandelte Zeitgeist«, der mit diesen Befunden die Welt in Schrecken versetze.

Als das erste Opfer einer »regelrechten Kampagne, auch eines Geschäfts mit der Angst« sieht der Naturwissenschaftler sich selbst.

Erstmals hat in der Bundesrepublik ein Werk - die in Hamburg-Moorfleet angesiedelte Dependance des Ingelheimer Chemiekonzerns C. H. Boehringer Sohn - seine Tore schließen müssen, weil es offenbar nicht verhindern konnte, daß bei der Produktion von Pflanzenschutzmitteln hochgiftige Dioxine anfielen. Dessen Chef: Werner Krum - der darüber Trauer »bis hin zu Tränen« empfindet.

Im Büro des Werksleiters, zwischen Schreibtisch und Tür, hängt noch immer die aus Legosteinen gesteckte Schautafel, die die letzte Produktionsstatistik dokumentiert: Von Tetra bis HCH, jene unfreiwillige Schlußübersicht unter dem Datum 13. 6. 84 - ein Anblick, der den Hausherrn betrübt und »nostalgisch« stimmt.

»Wie wenn eine Kirchturmuhr stehengeblieben wäre«, sagt er kaum hörbar, und um seine Mundwinkel beginnt es zu zucken. Aus und vorbei. Die Schlacht ist geschlagen und verloren. Der Konzern, weiß Krum, hat seinen Kampf um diesen Standort endgültig aufgegeben.

Die Strategie des Ingelheimer Topmanagements setzt nun auf Lautlosigkeit. Das Begriffspaar »C. H. Boehringer - Hamburg«, Synonym für eine ziemlich bedenkenlose chemische Industrie und bis in den hintersten Winkel des Landes mit dem verheerenden Image einer Art Giftküche der Nation versehen, soll sich aus den Köpfen verflüchtigen.

Abbruchstimmung in Moorfleet, in der Fabrik an der Andreas-Meyer-Straße. Während sich die 224 Belegschaftsmitglieder verständlicherweise eher lustlos an ein paar Aufräumungsarbeiten festhalten (und im übrigen um einen Sozialplan ringen), überkommen den Werksleiter Fluchtreflexe. Raus hier. Er träumt vom Urlaub, in Italien oder in den USA. Er will »mal einem Schaf in der Wolle kraulen«.

Denn »unvermeidbar auch als Person«, gesteht der Boehringer-Repräsentant ein, habe er eine »schwere Niederlage« erlitten. Nahezu ein halbes Jahrhundert der Chemie verbunden, seit den Sohn eines Mannheimer Ingenieurs schon als Steppke »die Wunder im Reagenzglas« zu faszinieren begannen, steht sein Name nun für Skrupellosigkeit und Versagen.

Mehr noch: Wenn er, der sich in der Materie unzweifelhaft auskenne, jetzt die Schuld auf die Analyse schiebe, halte sie das für »ein Verbrechen«, hat ihm die Hamburger GAL-Bürgerschaftsabgeordnete Thea Bock in einem Fernsehstreitgespräch zugerufen. Und der Angegriffene, ansonsten eloquenter Debattierer auf Kolloquien und Seminaren, hat sich dagegen nur schwach zur Wehr gesetzt.

Zeichen der Resignation, gar der Angefochtenheit, eines Lernprozesses? Nein. Keines der Argumente der »anderen Seite« hat ihn in diesen Wochen verunsichern können. Nirgendwo ein Ansatz, der ihm wirklich zu denken gegeben hätte. Statt dessen fühlt er sich in seinen schlimmen Verdächten bestätigt, daß die Republik nun Zug um Zug aus den Fugen gerät.

Zum Beispiel in Hamburg. Wohin der Manager Krum in der Hansestadt auch blickt, sieht er sich in Politik und Verwaltung, neuerdings selbst in der CDU und in Kreisen der Wirtschaft, die »mit den Wölfen heult«, von schlappen Charakteren, grün-alternativen Bücklingen, lauter »Schiefhälsen wie im 3. Reich« umstellt.

Nie wird er vergessen, was ihn bewegte, als ausgerechnet die Dame Thea Bock - in ihrer Eigenschaft als Mitglied eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses und flankiert von Kripobeamten - die Akten aus dem Hause Boehringer schleppen durfte. Mehr als nur eine ironische Pointe: Entgeistert hat er da gespürt, wie es ist, wenn »die Axt an die Wurzeln der Demokratie gelegt« wird.

So gesehen, kann ihn nicht wundern, daß das Werk verlieren mußte - schier

erdrosselt von »sogenannten Sachverständigen«, die ihm »völlig unsinnige Grenzwerte« aufgehalst hätten. Erlegen, ganz allgemein, einem mittlerweile »übermächtig gewordenen Gegner«.

Natürlich, er will nicht verhehlen, daß auch eigene Fehler gemacht wurden. Freilich kaum in der Sache, sondern auf dem Gebiet der Public Relations, das nach Auffassung Werner Krums in den für die Hamburger Fabrik entscheidenden Wochen brachlag - »ein Problem der Zentrale«.

Wäre Krum im Konzern der PR-Mann gewesen, hätte er sich nicht gescheut, den »geklitterten Halbwahrheiten« über vermeintliche Verstrickungen Boehringers in der Dritten Welt oder in Vietnam entgegenzutreten.

Etwa auf den Vorwurf hin, die Firma habe am Krieg der Amerikaner mitverdient: »Niemand«, hätte Krum dann verlauten lassen, »kann eine Aussage darüber machen, wohin Produkte gelangen, die im Weltmarkt vertrieben werden.« Oder, lapidarer noch: C. H. Boehringer dürfe ruhigen Gewissens behaupten, »die US-Army in Vietnam zu keinem Zeitpunkt auf direktem Wege beliefert« zu haben.

»Die schrecklichen Vereinfacher eben«, klagt der ins Zwielicht geratene Manager. Wenig hat ihn in jüngster Zeit so bedrückt, will er glauben machen, wie die Wortführer jener weitverbreiteten Doppelbödigkeit, die »die Chemie zerzausen, aber auf ihre Ergebnisse nicht verzichten wollen«.

In seiner Werksbibliothek drängt es den Wissenschaftler und evangelischen Christen, sich den »letzten Fragen« zu widmen. Zweifellos sieht er den Menschen darauf verpflichtet, mit der ihm anvertrauten Erde vernünftig und pfleglich umzugehen. Andererseits mag er sich keinen Gott vorstellen, der sich als so klein erweist, »daß das Schicksal der Welt an ein paar ppm Dioxinen hängt«.

Dioxine, zumal das vielzitierte aus Seveso von der Sorte 2,3,7,8,-TCDD, haben sich nach der Deutung des Werner Krum zu einem grassierenden Angstmacher entwickelt. Hochgeputscht, wie er heftig kritisiert, von einer verantwortungslos das Thema auswalzenden Publizistik, die mit »Horrormeldungen«, etwa über »tote Babys im Giftwind von Boehringer«, ihre Geschäfte besorge.

»Panikmache«. Besser wäre, empfiehlt der an psychologischen Zusammenhängen interessierte Chemiker, der Mensch erinnerte sich des Verhaltensphänomens Angst als eines ständigen Wegbegleiters. Und zwar als »Naturbedürfnis, das vermutlich in seiner chromosomalen Veranlagung liegt«.

Um so mehr, als über das Gift, zumindest nach Einschätzung Krums, bisher nur wenig gesagt werden kann: »Wenn überhaupt, ist die Kenntnis in Sachen Dioxin erst in Schattenrissen vorhanden.«

Wenig weiß er also, aber er weiß doch immerhin, daß das »alles bis zur Sinnlosigkeit übertrieben« wird. Eine sprunghafte Art zu denken, wenn nicht gar ein Widerspruch, den er so stehen läßt. Nach diesen »endlosen Diskussionen über Grenzwerte« möchte der Boehringer-Mann nachdrücklich dafür plädieren, daß sich nun der »gesunde Menschenverstand« langsam mal durchsetzt.

Statt sich in nagenden Zweifeln zu ergehen, vertraut er lieber dem Sichtbaren - einem leidlich blühenden Gärtchen hinter seinem Büro, einem Schwalbennest in der ehemaligen »Lindan«-Anlage. Nicht zuletzt auch dem offenkundig properen körperlichen Wohlgefühl nach vierzehn Jahren Dienst in einem berüchtigten Werk. »Wir sind doch hier keine Selbstmörder«, sagt der Chef mit Emphase. Keiner habe sich jemals wirklich bedroht gefühlt.

Ist das schon Bunkermentalität? Auch der leiseste Anklang eines Gedankens, einer Erwägung, hinter der er rasch die Gefahr wittert, daß er mit ihr aus der Spur geraten könnte, wird sofort zurückgedrängt. Wie gepanzert durchschreitet er so das Werksgelände. Allenfalls, wenn er auf einen Pulk diskutierender Arbeiter trifft, verrät ein leicht erhöhter Lidschlag aufkeimende Unruhe.

Die Familie, Frau, zwei Töchter, ein Sohn, steht eisern und »objektiv« hinter seiner Lagebestimmung. Vereint in kollektiver Wut »bis zur Weißglut«, erinnert sich der Hausherr, als »Monitor« die angeblich skandalöse Sendung über die mißgestalteten Kinder ausstrahlte. Keine gründurchwachsenen Fragen an den selbstgewissen Vater - und der Sohn, 22, studiert natürlich Chemie.

Ganz so leicht wie einstmals der Senior wird es der Junior nun nicht mehr haben. Vorbei die Glanzzeiten, so bekräftigt auch Werner Krum, in denen die Chemie »auf dem Wege zu sein schien, das schier Unmögliche möglich zu machen«, und von einer regelrechten »Bewunderungsphilosophie« umkränzt war.

Man soll ihm abnehmen, daß er dahin nicht mehr zurück möchte, daß er sich keinem ungefilterten Fortschrittsglauben verschrieben hat. Auch der Chemiker Werner Krum verwendet inzwischen die Pflanzenschutzmittel in seinem Garten nur »sehr gezielt und gebremst«. Wie doch eigentlich alle, versichert er, sei auch er in seinen »Träumen, Wünschen und stillen Sehnsüchten stark vom alternativen Leben berührt«.

Nur eben muß die Kirche im Dorf bleiben - »Normalität« muß sichergestellt werden. In Hamburg, erregt sich Krum, habe die deutsche Untugend gesiegt: »120 Millionen Mark sind da auf volkswirtschaftlich sinnloseste Weise einfach vernichtet worden.«

»Redlich, rechtschaffen und besten Gewissens«, hat er sich stets bemüht, und jetzt das Desaster. Er weiß, daß er objektiv die Unwahrheit gesagt hat, als er im Mai vergangenen Jahres öffentlich behauptete, mit der erzwungenen Einstellung der sogenannten T-Säure-Produktion fielen in seiner Fabrik keine Dioxine mehr an.

Sie sind doch angefallen. Die »Igel«, die Analytiker, haben''s ihm nachgewiesen, und der »Hase« hat nicht anders gekonnt, als sich auf seinen Wahrheitsbegriff zu berufen.

»Wahrheit ist«, sagt er nun, »was man weiß - zum gegebenen Zeitpunkt.« Werde man später widerlegt, sei es halt klar, daß das »scheinbare Lüge« war. _(Am 12. Juni 1984 vor dem Hamburger ) _(Werksgelände. )

Am 12. Juni 1984 vor dem Hamburger Werksgelände.

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