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ISLAMISTEN Osama und ich

Erstmals packt ein Terror-Verdächtiger aus Deutschland über al-Qaida aus. Stimmen die Aussagen, wäre das für die Ermittler ein Durchbruch.
Von Dominik Cziesche, Georg Mascolo und Holger Stark
aus DER SPIEGEL 35/2002

Mit der Wahrheit, das ist aktenkundig, hat es Shadi A., 25, in der Vergangenheit nicht immer besonders genau genommen. Als er im Juli 1996 in Deutschland Asyl mit der Begründung beantragte, er werde in seiner Heimat Irak politisch verfolgt, fiel er schon bei der ersten Anhörung durch. Shadi A. wusste nicht einmal die Farben der Flagge seines angeblichen Heimatlandes.

Derzeit fragen sich wieder einmal deutsche Beamte, was sie Shadi A. glauben können. Diesmal aber steht weit mehr als ein Asylantrag auf dem Spiel. Denn der bärtige Mann mit den kurz geschorenen Haaren und tief liegenden Augen, der Ende April verhaftet wurde, gilt als eine der deutschen Schlüsselfiguren im Terrornetz von Osama Bin Laden. Wieder und wieder vernehmen ihn zurzeit Abordnungen des Bundeskriminalamtes (BKA). Seitdem weht ein Hauch von Guantanamo Bay durch den Hochsicherheitstrakt der JVA Köln-Ossendorf.

Die Aussagen führen nach Überzeugung der Fahnder mitten in das Herz des deutschen Ablegers von al-Qaida. All jene Teile, die im großen Puzzlespiel der Ermittler bislang fehlten, scheint Shadi A. zu liefern: Hinweise auf die untergetauchten Logistiker der Hamburger Todespiloten, Details zu geplanten Anschlägen in Deutschland, Beschreibungen aus Afghanistan, wo der Kronzeuge in der Leibgarde Bin Ladens gedient haben will.

Eine so sprudelnde Quelle haben die deutschen Staatsschützer im Kampf gegen den militanten Islamismus noch nie gehabt. Trotz intensivster Ermittlungen im Umfeld der Hamburger Attentäter um Mohammed Atta wollte den deutschen Behörden der Zugang zum Innenleben des Qaida-Netzwerkes bislang einfach nicht gelingen.

Das scheint nun möglich. Shadi A. gehört nach Überzeugung der Ermittler zu den Köpfen der Tawhid-Gruppe, die enge Verbindungen zu einem nach Iran geflohenen Kampfkommandanten Bin Ladens pflegt. Der Auftrag der Gruppe war eindeutig: Pässe für flüchtige Qaida-Männer zu besorgen. Über Iran sollte die Fluchtroute nach Europa führen.

Als die Ermittler im April ein Gespräch zwischen A. und Bin Ladens geflohenem Feldkommandanten aufzeichnen, fallen verdächtige Codewörter: »das Stumme«, »schwarze Pille« und »libanesische Äpfel«. Die Staatsschützer sind alarmiert: Sie fürchten erstmals auch Attentate in Deutschland. Am 23. und 24. April lässt die Bundesanwaltschaft bei bundesweiten Razzien 13 Islamisten festnehmen, darunter auch Shadi A.

Noch am gleichen Tag beginnt der Radikale zu reden - zuerst über sich. Seine Eltern und seine kleine Schwester seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Als Vollwaise sei er nach Jordanien gegangen, später über Belgien nach Deutschland gezogen. Bei einem Gelegenheitsjob in einer Beckumer Pizzeria sei er dann auf die anderen Gruppenmitglieder gestoßen.

Freimütig übersetzt der Islamist auch das verschlüsselte Telefongespräch: Mit »libanesischen Äpfeln« sei die Beschaffung von Sprengstoff, mit der »Stummen« eine Pistole mit Schalldämpfer gemeint. Mit der ersten Sure, Vers 6 und 7 aus dem Koran, habe ihm sein Feldkommandant dann den Anschlag befohlen: »Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen du gnädig bist. Nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden.« Im Klartext: Es sei um einen Anschlag auf eine jüdische oder israelische Einrichtung gegangen. Die Aussage hat für die Bundesanwaltschaft große Bedeutung: Wenn sie demnächst Anklage gegen die Gruppe erhebt, soll das Geständnis ihr wichtigstes Beweismittel sein.

Viele Details der Beichte haben die Ermittler inzwischen überprüft - sie stimmen. Sogar ein Waffenlager wurde durch die Schilderung des Zeugen entdeckt. Doch trotz solcher Indizien sind die Beamten nicht sicher, wo beim Kronzeugen Dichtung und Wahrheit verschwimmen. Denn die in bald zwei Dutzend Vernehmungen protokollierten Aussagen klingen zuweilen wie Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.

Wie Tausende anderer junger Männer auch zog Shadi A. demnach als 23-Jähriger nach Afghanistan, um den Islam zu studieren und das Kämpfen zu lernen. Sami der Tunesier, Ahmed der Pakistaner und gleich zwei Marokkaner namens Mohammed begleiteten A. kurz vor Weihnachten 1999, eine Zweckgemeinschaft auf der Suche nach Gott und Glück. In Saudi-Arabien vermittelte ein Schwiegersohn des »Scheichs«, wie Bin Laden von Anhängern ehrfürchtig genannt wird, die Reisegruppe nach Karatschi. Über Pakistan wurde der neue Rekrut in ein Gästehaus von al-Qaida nach Kandahar geleitet.

Dort will der Kronzeuge auch einen Islamisten getroffen haben, der seit dem 11. September 2001 zu den meistgesuchten Männern der Welt zählt: den Hamburger Jemeniten Ramzi Binalshibh, 30, den die Ermittler verdächtigen, die Anschläge in den USA geplant zu haben.

Binalshibh habe gehört, dass er aus Deutschland komme, und ihn deshalb im Gästehaus in Kandahar angesprochen, erinnert sich Shadi A. Gleich habe der Jemenit - Deckname »Obeida« - versucht, ihn für al-Qaida zu begeistern. Die Ermittler waren elektrisiert: Stimmen die Details, dann war Bin Laden möglicherweise viel direkter als bislang angenommen in die Anschläge vom 11. September verwickelt.

Denn A. beschreibt Binalshibh als Vertrauensperson Bin Ladens, der persönlichen Zugang zum Terroristen-Führer hatte. Weil »Obeida« ihn dem »Scheich« vorgestellt habe, erklärte Shadi A. den Beamten, habe ihm Bin Laden besonderes Vertrauen entgegengebracht. Wie eine »Eintrittskarte« habe Binalshibhs Empfehlung gewirkt.

Und noch eine weitere Aussage stützt die These, die Anschläge in den USA könnten direkt von der Qaida-Führung in Afghanistan geplant worden sein. Der derzeit wegen der Anschläge in den Vereinigten Staaten vor Gericht stehende Franzose Zacarias Moussaoui, 34, war nach A.s Angaben ein weiterer Vertrauter Bin Ladens.

Moussaoui soll in einem Gästehaus von al-Qaida für die Betreuung der Neu-

ankömmlinge zuständig gewesen sein und direkt einem Bin-Laden-Stellvertreter unterstanden haben. Die amerikanischen Staatsanwälte werden sich begierig auf die Aussage stürzen.

Die Kontakte zu Binalshibh und Moussaoui brachten auch Shadi A. im Frühling des Jahres 2000 ganz nah an Bin Laden heran - angeblich als Mitglied seiner Leibwache. Nicht wegen seiner militärischen Fähigkeiten, behauptet Shadi A., sondern wegen seiner Statur: Er sei etwa so groß wie der ungewöhnlich hoch gewachsene Bin Laden (1,96 Meter) und habe ihn deshalb als einer der wenigen mit seinem Körper komplett abdecken können.

Wie Geschichten aus der Feder Karl Mays klingen die Erzählungen des Qaida-Anhängers über einen Treck im Winter von Höhle zu Höhle durch die unwirtlichen Berge des Hindukusch. Oft habe er während des Marsches durch das zerklüftete Gebirge die Gelegenheit gehabt, mit Bin Laden persönlich zu sprechen. Ob es laut Koran nicht verboten sei, Frauen und Kinder und alte Menschen zu töten, habe er gefragt. Wenn man sich im Krieg befände, habe Bin Laden voller Überzeugung geantwortet, sei dies erlaubt.

Geschichten, die den Ermittlern schwer lösbare Rätsel aufgeben: Denn während sie viele Angaben zu Deutschland überprüfen können, sind die Details aus dem Kapitel »Osama und ich« kaum verifizierbar. »Unvorstellbar« seien viele Angaben, moniert Andreas Schwarzer, Anwalt eines der Tawhid-Verdächtigen. Auch BKA-Beamte geben zu: »Es fällt schwer, dies zu glauben.«

Das sehen Richter ähnlich. Anfang August hob der Bundesgerichtshof die Haftbefehle gegen zwei der angeblichen Tawhid-Aktivisten auf. Bei dem Münchner Thaer Mansour, 28, etwa fehlten »tatsächliche Anhaltspunkte«, bemängelten die Juristen. Dass Mansour zu der Gruppe gehöre oder sie auch nur unterstützt habe, sei - trotz der Aussagen des Kronzeugen - »nicht belegt«. Es dränge sich gar der Verdacht auf, »dass dem Zeugen die erwünschte Aussage nahe gelegt wurde«, klagt der deutschisraelische Anwalt Jamil Azem, der Mansour vertritt.

Des Problems, dass er selbst nicht ganz glaubwürdig ist, scheint sich auch Shadi A. bewusst zu sein. Ganz beiläufig räumte der mutmaßliche Top-Terrorist die Täuschung deutscher Asylbehörden ein: Er habe 1996 nicht nur einen falschen Namen angegeben. Tatsächlich sei er auch nicht im Reich Saddam Husseins aufgewachsen, sondern in Jordanien. Aber alles, was er von jetzt an sage - das müsse man ihm bitte glauben -, sei nichts als die Wahrheit.

DOMINIK CZIESCHE, GEORG MASCOLO,

HOLGER STARK

* Oben: am 24. April in Beckum; unten: bei ihrer Festnahme amselben Tag in Essen.

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