Ostpolitik: »Das wollen wir jetzt so machen«
Dieses Finale stand nicht auf der Tagesordnung. Mit schlechtem Gewissen und ganz nebenbei gab das Bundeskabinett am vergangenen Mittwoch den Weg frei für die Reise von Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel nach Prag. Was ursprünglich als Krönung der Bonner Ostpolitik gedacht war, gerät nun -- am Dienstag und Mittwoch dieser Woche -- zur hastigen Pflichtübung.
In nur zwölf Minuten, am Ende einer strapaziösen fünfstündigen Sitzung über Energiekrise und Heizkostenzuschuß, billigte die Bundesregierung, was Außenminister Scheel lustlos und geschäftsmäßig vorgetragen hatte. Der AA-Chef tat sich schwer, eine böse Schlappe der Bonner Diplomatie als noch akzeptablen Kompromiß darzustellen.
Obwohl das Auswärtige Amt weit hinter seinem Verhandlungsziel -- Zuständigkeit der künftigen Bonner Botschaft auch für den Rechtshilfeverkehr natürlicher und juristischer Personen aus West-Berlin mit der CSSR -- zurückgeblieben war, versuchte Scheel vor seinen Kollegen im Kabinett zu beschönigen: »Alles kann zufrieden und glücklich sein.«
Sicherlich, so der Außenminister, sei das Ergebnis nicht optimal, aber: »Es läßt sich sehen, und wir können damit leben.« Scheel defensiv: »Wir haben uns nichts vorzuwerfen.« Mißmutig gab auch der Kanzler seinen Segen: »Wir wollen das jetzt so machen.«
Wie es wirklich gemacht werden soll, ist freilich noch immer offen. Bonn und Prag sind sich bislang lediglich einig, weiter über das Problem Rechtshilfeverkehr zu verhandeln; das Ergebnis steht dahin.
Denn wie es weitergehen soll in der einst so erfolgreichen westdeutschen Ostpolitik, weiß derzeit in Bonn niemand. Die DDR mauert bei den deutsch-deutschen Verhandlungen, Warschau blockierte über Monate die Ausreise deutschstämmiger Bürger, Ungarn und Bulgarien warten auf das Prager Ergebnis, und die Sowjets koordinieren das Bremssystem. Ein SPD-Parlamentarier: »Unsere Ostpolitik ist in die Defensive geraten.«
Noch im Sommer hatte sich die Bundesregierung stark genug gefühlt, den Tschechoslowaken eine Bonn-genehme Berlinklausel abzuringen. Brandt damals: »Solange das nicht. durchgestanden ist, gibt es keinen Vertrag über diplomatische Beziehungen und keine Reise des Kanzlers nach Prag« Letzte Woche im Kabinett war von Härte nicht mehr die Rede. Seihe Äußerungen, so der Kanzler jetzt, seien damals mißverständlich dargestellt worden.
Gleichwohl sollen die Prager den Bonner Unmut zu spüren bekommen. Dafür, daß die (SSR nach aufwendigen Moskau- und Warschau-Visiten des Kanzlers die Bonner Spitze diese Woche nur für 26 Stunden zu sehen bekommen wird, gibt Scheel allein der Tschechoslowakei die Schuld: »Sie konnte uns nicht beweisen, daß sie selbständig politisch leben kann.«
Was der Außenminister erst jetzt zu erkennen vorgab, wußte Bonn freilich schon vor Beginn der Verhandlungen mit Prag -- daß nämlich die Moldau-Republik nach der sowjetischen Invasion von 1968 abhängiger ist von den Weisungen Moskaus als andere Staaten des Warschauer Paktes. Dennoch verhielten sich die deutschen Unterhändler, an ihrer Spitze AA-Staatssekretär Paul Frank, stets so, als ob die Tschechoslowakei souverän sei in ihren Entscheidungen und mit der Bundesrepublik die heikle Frage des Berlin-Status selbständig aushandeln könne.
Aber erst nachdem Außenminister Scheel in Moskau Anfang November mit seinem sowjetischen Kollegen Andrej Gromyko eine Absichtserklärung ausgehandelt hatte, wonach Bundesrepublik und Sowjet-Union die Rechtshilfe für West-Berliner Gerichte »in einer für die interessierten Seiten annehmbaren Form« regeln wollen, schienen sich in Prag die Dinge wieder zu bewegen.
In ihrem Eifer, das Regime Husák doch noch durch einen Besuch des Friedensnobelpreisträgers Brandt aufzuwerten, mißverstanden die CSSR-Unterhändler eine Scheel-Interpretation der Moskauer Abrede als verbindliche Festlegung der Sowjets: Am 3. November hatte der Außenminister in der deutschen Botschaft in Moskau vor Journalisten die Absichtserklärung einseitig ausgelegt: »Auf der Basis dieser Abrede sollen verschiedene Formen des Rechtshilfeverkehrs erwogen werden, einschließlich der Möglichkeit des direkten Verkehrs zwischen Gerichten der Sowjet-Union und Gerichten der BRD und Gerichten der Sowjet-Union und West-Berliner Gerichten
AA-Abteilungsleiter Günther van Well brachte Vize-Außenminister Jiri Goetz leicht dazu, den von Moskau scheinbar fest zugesagten Direktverkehr auch für die CSSR zu akzeptieren; Außenminister Chnoupek und Parteichef Husák stimmten dem Handel zu. Die Sowjets aber desavouierten die Genossen und legten ihr Veto ein: Prag durfte nicht unterschreiben.
Erst jetzt erkannten die Strategen im Bonner Auswärtigen Amt, daß sie ihre Möglichkeiten überschätzt hatten, daß der Fortschritt der Ostpolitik in Moskau zentral blockiert worden war weil die Sowjets das Berlin-Problem nur auf höchster Ebene und nur im Zusammenhang mit anderen offenen Fragen mit den Bonnern erörtern wollen: Mehrmals hatte Sowjet-Außenminister Gromyko seinem Amtskollegen Scheel bei dessen November-Besuch bedeutet, für diesen Themenbereich interessiere sich Generalsekretär Leonid Breschnew persönlich.
Um das leidige Problem der Normalisierung ihrer Beziehungen zu Prag endlich dennoch vom Tisch zu bringen, entschlossen sich Kanzler und Außenminister, eine Minimallösung zu akzeptieren. In einem Notenwechsel erklärten sich beide Staaten bereit, über den Rechtshilfeverkehr nach dem Moskauer Vorbild zu verhandeln.
Wie dieses Vorbild im einzelnen aussehen wird, entscheidet sich, wenn Bundeskanzler Brandt im nächsten Jahr zu Breschnew nach Moskau reist. Von deutscher Seite war ursprünglich ein Termin im Mai vorgeschlagen worden, doch die Sowjets möchten den Kanzler sobald als möglich empfangen, am liebsten schon im Januar. Als Kompromißtermin zeichnet sich nun der Februar ab. Dann will Brandt Im Kreml nicht nur Berlin, sondern auch die Schwierigkeiten im Umgang mit der störrischen DDR zur Sprache bringen.
Eines freilich scheint schon heute klar: Jeder Fortschritt in der Ostpolitik wird Geld kosten. Sehr viel Geld, seit sich von Prag bis Moskau herumgesprochen hat, daß die Bundesregierung unlängst sogar dem kleinen Jugoslawien mit einem 700-Millionen-Mark-Kredit zu Entwicklungshilfe-Konditionen (zwei Prozent Zinsen, 30 Jahre Laufzeit) dienlich gewesen ist.
Schon signalisieren die Sowjets den Preis für politisches Entgegenkommen: deutliche Fortschritte bei der Kooperation deutscher Firmen mit sowjetischen Staatskonzernen und Milliardenkredite zu Vorzugszinsen, wie sie Bonn nun auch den Polen einräumen will,
Bereits im Oktober war die Bundesregierung unter dem Eindruck der stagnierenden Ostpolitik erstmals von ihrem Grundsatz abgewichen, für Ost-Kredite die hohen Marktzinsen zu verlangen. Sie bot Polen einen ungebundenen Finanzkredit in Höhe von einer Milliarde Mark, der auf 1,5 Milliarden aufgestockt werden kann, zu nur vier bis fünf Prozent Zinsen.
Und beim Besuch des polnischen Außenministers Stefan Olszowski ließen die Sozialliberalen letzte Woche durchblicken, daß sie zu weiteren finanziellen Leistungen bereit sind -- so zu einer pauschalen Abgeltung für Renten-Ansprüche polnischer Bürger, die während der Besatzungszeit oder als Zwangsarbeiter in deutschen Diensten standen. Außerdem könnte Bonn sich für die Finanzierung von Großprojekten der deutschen Industrie in der Volksrepublik in Höhe von insgesamt sieben Milliarden Mark verbürgen. Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs reist in dieser Woche nach Warschau. Olszowski stellte seinerseits mehr Genehmigungen für die Ausreise deutschstämmiger Polen in Aussicht -- 50 000 im nächsten Jahr.
Nach den Präzedenzfällen Jugoslawien und Polen wird es der Bundesregierung schwerfallen, erneut sowjetische Kreditforderungen wie bisher zurückzuweisen, zumal nicht ausgeschlossen erscheint, daß auch Breschnew dem deutschen Kanzler Anfang nächsten Jahres eine attraktive Offerte zu bieten hat. Er könnte zusagen, die DDR auf einem Ostblock-Gipfel zur Koordinierung der Westpolitik wieder an die kürzere Leine zu nehmen.
Doch selbst hei größtem Entgegenkommen wird die Bundesregierung nicht damit rechnen dürfen, daß die Kreml-Führer alle Druckmittel gegenüber Bonn aus der Hand geben werden. Ein sowjetischer Diplomat: »Durch das Viermächte-Abkommen über Berlin haben wir den Hebel aus der Hand gegeben; das Hebelchen wollen wir behalten«