GEMEINDEN / MÜNCHEN O'zapft is
Es gibt nur eine Stadt in Deutschland, der Hitler versprach, sie groß zu machen - und die es trotzdem geworden ist.
Nur eine bundesdeutsche Großstadt, in der Nachtschwärmer und Nachtlärmer massenweise von der Polizei geknüppelt wurden - und die sich dennoch als »Weltstadt mit Herz« versteht.
Nur eine Weltstadt, in der Leberkäs als delikat und Lederhosen als salonfähig gelten - und in der sich gleichwohl die meisten französischen Restaurants und die besten deutschen Couturiers angesiedelt haben.
Nirgendwo sonst mischen sich Knödeldampf, Bierdunst und Weihrauch so innig mit dem Duft der großen Welt. Nirgendwo sonst fühlen sich Playboys und Professoren, Bayern und Preußen, Sozis und Spezis, Gamsjäger und Kulturkritiker, Dirndl-Matronen und Topless-Twens in gleichem Maße zu Hause wie in eben dieser Stadt.
Denn nirgendwo sonst gibt es dieses magische Mixtum von Urwüchsigkeit und Urbanität: ein »Millionendorf« ("Süddeutsche Zeitung«! als Metropolis.
Nachts schlafen unter den Brücken dieser Weltstadt immerhin schon zwei Dutzend Penner von internationalem Format - die Abendzeitung als Bettzeug, die Wermutpulle als Lebenstrost.
Frühmorgens räkeln sich zu Füßen einer wasserspendenden Nymphe, die Frank Wedekind gewidmet ist, die Beatniks beiderlei Geschlechts - Bierflasche in der Rechten, Nirwana im ungewaschenen Gesicht.
Mittags kühlen pflastermüde Hausfrauen die nackten Beine im Becken eines monumentalen Brunnens, den der Klöckner-Chef Günter Henle soeben der Stadt zum Zeichen seiner Liebe für 300 000 Mark errichten ließ - obwohl die Firma Klöckner in Duisburg, und Duisburg 700 Kilometer entfernt ist.
Und vor dem Rathausturm, dessen dünnes Glockenspiel ("Aber heut' ist's kalt") sich im Röhren des vorbeibrausenden Mittagsverkehrs mitunter wie eine melodische Fehlzündung vernehmen läßt, stauen sich zu Tausenden die Fremden - gelockt in eine Stadt, die ihnen geschildert wird als »spitzgiebelige, kopfsteingepflasterte Ecke des Himmels, überschäumend von Doppelbier und bekränzt mit Weißwürstln« (so das US-Magazin »Time").
Wenn der Tag schließlich zur Neige geht und aus riesigen Bierkellern deutsche Marschmusik ertönt, haben Einheimische wie Fremde etwa 20 Kilometer Wurst verzehrt (mit einem Senf, wie es ihn nur in dieser Metropole gibt) und durchschnittlich 100 Verkehrsunfälle verursacht (in einem Verkehrsgewühl, wie es gleichfalls nur in dieser Metropole existiert).
Gegen Mitternacht, noch ist die Innenstadt vollgeparkt, wechselt die Jeunesse dorée, darunter Deutschlands zahlungskräftigste Studenten und ihre schnellen Kommilitoninnen, im Sportwagen von Tanzdiele zu Tanzdiele. Und auf dem Bürgersteig wird im Schein von Windlichtern angeboten, was die Stadt um diese Zeit noch braucht: Kunst und Liebe, Gefrorenes und Wein.
Tage und Nächte in dieser Stadt erscheinen den Bewohnern so erlebenswert, daß zwei Drittel von ihnen nach einer Umfrage selbst dann nicht in eine andere Stadt würden ziehen wollen wenn sich ihnen dort eine beruflich wesentlich bessere Chance böte.
»In München möchte ich immer leben ... wenn nicht in München, dann im Himmel«, schwärmte denn auch der Operetten-Intendant Arno Assmann - ehe er nach Köln übersiedelte, um dort General-Intendant zu werden.
Und wenn es ginge, würde heute jeder fünfte meinungsbefragte Bundesbürger dahin ziehen, wo das Leben derart himmlisch gedeiht. Die 806 Jahre alte Bayern-Metropole, die heutzutage blaßrosa wählt (SPD-Mehrheit im Stadtparlament) und gleichwohl als Herz eines tiefschwarzen Erdteils schlägt (CSU-Mehrheit im bayrischen Landtag), ist die attraktivste Großstadt Deutschlands.
Sie rangiert mit Abstand vor Stuttgart, das nach einer Emnid-Recherche von elf Prozent der Befragten als idealer Wohnort bezeichnet wird, vor Westberlin und Hamburg (je zehn Prozent), vor Düsseldorf (acht Prozent), Frankfurt (sieben Prozent), Köln und Hannover (je fünf Prozent).
Als Mekka für die Massen erweist sich heute, was subtilen Geistern längst als eine »Stadt des Lebens« (Friedrich Hebbel) mit einem »unzerstörbaren genius loci« (Thomas Mann) gilt; als eine Stadt, in der »das Menschliche noch immer im Vordergrund steht« (so der Vorort-Bewohner und Komponist Werner Egk); als Stadt mit dem »idealen wissenschaftlichen Klima« (so der Münchner und Nobelpreisträger Werner Heisenberg).
Es ist München, dessen Nähe dem Bundeskanzler Ludwig Erhard seinen Bungalow am 65 Kilometer entfernten Tegernsee so »lieb und wert macht«, wie er sagt.
Es ist München, dem Chruschtschow-Schwiegersohn Alexej Adschubej vor allen anderen deutschen Städten Anerkennung zollte, obwohl es neben osteuropäischen Feinschmecker-Lokalen von »Klein-Bukarest« bis »Romanoff« auch den antikommunistischen Propaganda-Sender »Radio Freies Europa« und etwa 40 antikommunistische Geheimbünde beherbergt.
Es ist die Stadt, in der Bayerns Ministerpräsident Kurt Eisner 1919 einem Attentat zum Opfer fiel - ehe sie die Hauptstadt einer deutschen Sowjetrepublik wurde, für 30 Tage; in der 1923 der Bürgerbräu-Politiker Adolf Hitler zur Feldherrnhalle marschierte - ehe sie die Hauptstadt der Bewegung wurde, für tausend Jahre.
Aus dieser Stadt entbot der Kardinal Faulhaber zum Abschluß des Reichskonkordats dem Führer Hitler enthusiastische Glückwünsche ("Was die alten Parlamente und Parteien in 60 Jahren nicht fertigbrachten, hat Ihr staatsmännischer Weitblick in sechs Monaten weltgeschichtlich verwirklicht") - ehe er zum unerschrockenen Kämpfer gegen den NS-Terror wurde.
Gleichwohl entfielen jetzt bei einer Popularitäts-Umfrage in München auf die tote Komikerin Liesl Karlstadt soviel Stimmen wie auf Michael von Faulhaber, auf den toten Komiker Karl Valentin mehr Stimmen als auf den höchst vitalen Reformkardinal Julius Döpfner, 51.
An der Spitze der Popularitätsliste aber steht (mit 63 Prozent aller Sympathie-Punkte) ein 38jähriger katholischer SPD-Mann, der in Preußen geboren wurde und in Mischehe lebt: Dr. Hans-Jochen Vogel. Er ist der Oberbürgermeister des 1,17-Millionen-Dorfes, das sich im geteilten Deutschland in eine neue Rolle schlüpfen sieht.
»Denn München hat, ob es will oder nicht, immer mehr die Funktion einer verborgenen Hauptstadt übernommen« - so Vogel.
Die heimliche Metropole, die in jedem Jahr 1,7 Millionen Fremde zur Visite und 30000 Deutsche auf die Dauer anlockt,
> wächst doppelt so schnell wie jede andere deutsche Großstadt und hat heute 330 000 Einwohner mehr als 1939 (Zuwachs in Düsseldorf: 170 000, in Stuttgart: 150 000, in Hamburg: 125 000);
> hat als Industrie-Zentrum Düsseldorf wie Essen überholt und nimmt mit einem Industrie-Umsatz von 8,5 Milliarden Mark (1963) hinter Hamburg (14 Milliarden) und Westberlin (11,5 Milliarden) bereits den dritten Platz ein;
> hält ein musisches Angebot bereit, das in Deutschland konkurrenzlos ist: mit drei großen Symphonie-Orchestern, mit 21 Museen und Sammlungen, mit 19 Theatern (darunter Staatsoper, Staatsoperette, Staatsschauspiel und städtisches Schauspielhaus) und zwei politischen Kabaretts ("Lach- und Schießgesellschaft«, »Zwiebel");
> ist die Stadt mit den meisten Buchverlagen (238), den meisten Studenten (21 000 allein an der Ludwig-Maximilians-Universität), den meisten Forschungsstätten (allein fünf Max -Planck-Institute), den meisten Nobelpreisträgern (Butenandt, Heisenberg, Mössbauer).
Und es mangelt nicht an anderen Qualitäten, die einer Weltstadt mit Herz wohl anstehen. München ist eine Stadt der Boheme - mit mehr als 2000 Malern und Bildhauern in Schwabing, wie »Time« behauptet. Eine Stadt der Tierliebe - mit 30 000 zumeist vollfetten Dackeln, Zamperln und anderem Hundegetier. Eine Stadt der Jugend - mit einer Bevölkerung, die zur Hälfte unter 40 ist. Das Jamboree der Jugend hat die Rentnerstadt mit überwiegender Sterblichkeit, die München noch bis 1960 war, in eine City mit hohem Geburtenüberschuß (1963: 4500) und den relativ meisten unehelichen Kindern (13,5 Prozent) verwandelt. Und die Selbstmord-Rate sinkt und sinkt und sinkt.
Heute leben dort mehr Leute, die Münchner geworden, denn solche, die als Münchner geboren sind. Selbst in Berlin, das einst als Hauptstadt ohne Berliner - bevölkert von Schlesiern - galt, kamen vor 1930 immer noch fünf Eingeborene auf einen Neu-Berliner. In München aber ist nur noch jeder dritte waschecht: 350 000 Einwohner sind angestammte, der Rest hingegen zugereiste Münchner
aus dem bayrischen Umland (327 000), aus anderen Bundesländern (139 000), aus Berlin (27 000), aus den Ostgebieten (209 000), aus dem Ausland (113 000).
Was diese Bevölkerungslawine in Richtung auf die »von der Isar durchschnittene, nach Norden geneigte Aufschüttungsebene zwischen der Moränen- und Seenlandschaft des Alpenvorlandes und dem Erdinger und Dachauer Moor« - dort liegt laut »Großer Brockhaus« München - in Bewegung gesetzt hat und noch immer in Bewegung hält, ließ der Münchner Stadtrat vom Godesberger Institut für angewandte Sozialwissenschaft untersuchen.
Ergebnis: Gebürtige Bayern wandern aus vorwiegend geschäftlichem Interesse nach München. Nicht-Bayern lassen sich vor allem von der Stadt selbst anlocken - und von Münchens legendärem »Freizeitwert«.
»Als man 60 Stunden in der Woche arbeitete, war es noch egal, wo man schlief«, erläutert OB Vogel. Aber es ist nicht mehr egal, seit die Freizeitbewegung auch die Deutschen mitgerissen hat, Und München ist die Hauptstadt dieser Bewegung geworden.
Sein barocker Jahresrhythmus - mit Fasching, Salvator-Zeit, Maibock-Zeit, Festspielsommer, Schwabinger Wochen, Oktoberfest und mit den winterlichen Höhepunkten der Konzert- und Theatersaison - gewährt nur geringe Pausen der Besinnung, in denen das Angebot dann auf festliche Messen, Prozessionen und Passionsaufführungen schrumpft.
Seine geographische Lage - mit fast zwei Dutzend nahen Voralpenseen für Schwimmer, Segler und Wasserski-Fahrer, mit den nahen Bergen zum Kraxeln und Skifahren - garantiert das Leistungs-Wochenende, das sich Deutschlands Freizeitler gönnen wollen. Eine halbe Tagesreise von Venedig, Wien oder Prag, nur 80 Minuten von Salzburg entfernt, gedeiht die Reiselust in Ausmaßen wie sonst nirgendwo in Deutschland.
Von Dezember bis März rollen an jedem Wochenende allein mit Bussen und Sonderzügen 100 000 Skifahrer in die Münchner Wintersport-Reservate. Der Salzburger Otto Scheck ("Sport -Scheck") unterhält die größte Skischule der Welt mit 600 Skilehrern. Er läßt »an jedem weißen Wochenende zwölf Sonderzüge der Bundeshahn in den Schnee rollen« ("Welt am Sonntag").
In und nahe der Stadt selbst bieten schon der Englische Garten und die Isar-Auen, die Barockschlösser Nymphenburg, Schleißheim und Dachau mit ihren Parks unerschöpfliches Gelände für Liebes-, Kinder- und Gesellschaftsspiele. Auf 3920 öffentlichen Tennisplätzen entwickelt sich zum Stundenpreis von 1,50 bis zwei Mark als Volksvergnügen, was noch vor wenigen Jahren als Sport der feinen Leute galt. An den Stammtischen, von 4000 Gastwirtschaften blüht ein Vereinsleben, das keinen deutschen Wunsch offenläßt.
Niemandem in dieser Stadt fällt schwer zu glauben, daß es sich hier leichter leben lasse als anderswo. Millionäre und Habenichtse genießen die gleichen Hobbys, die gleiche Freizügigkeit und tauchen überwiegend auch- noch an den gleichen Plätzen auf, »Nicht reich zu sein«, sagt ein Münchner Stadtrat, »ist bei uns weniger schlimm als anderswo.«
Eine Rolle in Münchens vielschichtiger Gesellschaft zu spielen, ist nicht halb so schwer wie in Düsseldorf, Frankfurt oder in Hamburg. Ein Elektrohändlerssohn namens Graser, 42, der sich als »James« und seine ewig überfüllte Luxusbar als »James Club« bezeichnet, bringt es fertig, seit einem Jahrzehnt ganz München an seinen zahllosen, unglücklichen Lieben teilnehmen zu lassen und auch mit einem Toupet auf dem Scheitel noch als anerkannter Playboy zu gelten.
Bei seinem Polterabend in einem Wirtshaus gab sich Münchens heitere Society ein Rendezvous bei Leberknödeln. Schweinsbraten und Bier. Ein Strip-Tease-Ballett erquickte die grobgewandetern feinen Männer, die schon bald darauf eine neue Einladung vom mittlerweile geschiedenen Graser erhielten: »In Anlehnung an meinen vor kurzem stattgefundenen Polterabend... wollen wir diesmal einen Rückpolterabend feiern. Auch ist es diesmal erlaubt, die eigenen und auch die weniger eigenen Damen mitzubringen, damit sie bayerisches Brauchtum erleben können.«
Gestürzte Minister wie Maunz (Bayrische Kultur) und Strauß (Bundesverteidigung) oder Leute, die an der Kunst gescheitert sind, erfreuen sich in dieser Stadt eines gnädigen Publikums. Während für den Hamburger Werft-König Schlieker der Konkurs gesellschaftliche Vereinsamung bedeutete, behauptet ein menjoubärtiger Geschäftsmann wie der Rolls-Royce-Fahrer, Stoffhändler und Exkonsul Herbert G. Styler, nach vierfacher Pleite in München noch immer seine öffentliche Rolle als Bonvivant.
Der Gesellschaftsglossist Siegfried Sommer ("Blasius der Spaziergänger"), ein gelegentlich bitterer Kritiker des Münchner Lebens, kann an seinem Stammtisch im Münchner Augustiner-Keller, umgeben von Richtern, Schauspielern und Geschäftsleuten, Hof halten wie ein kleiner König.
Und sogar der geflohene Krachmandel-Hersteller Alois Hadrowa aus Prag, der allabendlich mit steigendem Alkoholspiegel, ein Tablett auf dem Kopf, durch die Münchner Vergnügungsbezirke schwankt und seinen böhmischen Akzent seit zehn Jahren pflegt, ist zum festen Bestandteil des Münchner Nachtlebens geworden - wie die bürgerlich solide Schwabinger Kunstpreisträgerin Gisela Jonas aus Moers am Niederrhein. Sie singt in einer exotisch veredelten Bierstube vor einem Haufen sonntäglich geputzter Bürger immer wieder »... aber der Novak läßt mich nicht verkommen«, und alle glauben, sie sei ein tolles Luder.
In keiner deutschen Großstadt sieht sich der Student so sehr am Amüsement der Arrivierten beteiligt wie in München. In der »Kuhstall«-Bar eines zur Gastronomie übergetretenen griechischen Studenten namens Alecos und im Hully-Gully-Keller »Big Apple« beherrschen akademische Bummler ebenso die Szene wie im »George-Club«, einem neuen Society-Zirkel, der in Münchens Georgenstraße eine Jugendstil-Villa samt Hauskapelle übernahm und dort Deutschlands erste busenfreie Abendgesellschaft gab.
Hier wie in einem Dutzend anderer De-Lux-Kneipen des Künstlerviertels benehmen sich die Bürger wie Studenten und die Studenten wie Bürger. Der Blazer, Deutschlands beliebtes Weltmannkostüm, verdrängt den Pullover. Und doch behauptet sich auf den Straßen wie auf dem Parkett - mehr denn je an norddeutschen Leibern - auch der Trachtenanzug; er ist zu Staatsempfängen zugelassen.
München, als geselligste Großstadt der Bundesrepublik, schätzt die regelmäßige Klatsch-Information so, daß selbst die anspruchsvoll redigierte »Süddeutsche. Zeitung« sie, in, gemäßigter Form offeriert. Wer mit wem wo Was tat und- was er dafür bezahlte, erfahren die Bürger der, herzigen Weltstadt unter »Ganz privat« in ihrer »Abendzeitung«, einem.
Boulevardblatt, dessen Auflage sich in den letzten drei Jahren verdoppelt hat (jetzt 180 000).
In dieser Stadt des. Südens ist längst Wirklichkeit, was hoch im Norden erst propagiert wird: »Seid nett zueinander.« Und in diesen Himmel der Nettigkeit, wo man sich noch mit einem Grüß Gott, Herr Nachbar« zu einem Fremden an den Tisch setzt, drängen die Deutschen nun mit aller Macht - obwohl München »die Stadt mit den am stärksten nach oben strebenden-Preisen« ist (so Münchens statistisches, Amt), obwohl seine 12 000 Theaterplätze meistens ausverkauft und, obwohl die Straßen ins Gebirge meistens überflutet sind.
Sie wollen in München leben, ohbwohl die Wohnungsnot so beklemmend ist, daß weniger als zehn Prozent der Bewohner (einer Umfrage zufolge) mit ihrer Behausung zufrieden sind und für Wohnungssuchende mit bescheidenem Einkommen bei Quadratmeter-Misten von fünf Mark auf dem freien Wohnungsmarkt kaum ein Unterkommen zu finden ist: 81 000 Sozialwohnungen fehlen noch immer, und es gibt wissenschaftliche Prognosen, wonach der Mangel auch im Jahre 2000 noch nicht behoben sein soll.
Sie wollen in München leben, obwohl das Münchner Verkehrschaos alles übertrifft, was sich in den nicht eben untermnotorisierten anderen Großstädten Deutschlands abspielt: 100 000 Automobile passieren täglich allein den Stachus und machen ihn damit zum turbulentesten Verkehrszentrum Europas. »Die Polizei ... ist hoffnungslos in der Defensive«, notierte Joseph Ströbl, Verkehrsexperte der »Süddeutschen Zeitung« über die Lage in diesem Sommer. Messungen der »Stern«-Redaktion ergaben, daß Münchner City-Luft mehr Auspuffgase enthält als die Luft in den übrigen deutschen Großstädten.
Die Traumstadt der Freizeitmenschen beraubt ihre Bewohner bereits heute um jährlich 31,5 Millionen Mußestunden (3,5 Millionen Arbeitstage), die im Benzinqualm von Verkehrsstauungen zugebracht werden - ganz zu schweigen von der verbrauchten Nervenkraft und den Blechschäden, die letztes Jahr 105 Millionen Mark ausmachten.
Das einzige Massenverkehrsmittel der berstenden Millionenstadt ist die weißblaue Trambahn: Im gleichen Zeitraum, in dem die Einwohnerzahl um 40 Prozent und die Zahl der Kraftfahrzeuge um 500 Prozent zunahm, verlängerte sich ihr Streckennetz von 121 auf 123 Kilometer.
Seit zehn Jahren debattiert München über seine U-Bahn, mit deren Bau soeben begonnen wurde. Aber erst in weiteren zehn Jahren - wenn sich der Verkehr wiederum verdoppelt haben wird - kann die Stadt nach optimistischen Prognosen über eine erste Untergrund-Querverbindung vom Norden (Freimann) nach Süden (Sendling) verfügen und über eine unterirdische Bundesbahn-Verbindung vom Hauptbahnhof (West) zum Ost-Bahnhof.
Und erst gegen Ende dieses Jahrtausends darf sie mit einem kompletten, gut funktionierenden S- und U-Bahnsystem (14 Linien) rechnen.
Auf fast allen Gebieten sieht sich die Stadt mit dem Milliarden-Etat und 1.4 Milliarden Mark Schulden längst an die Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeiten gedrängt.
Sie baute in vier Jahren 40 000 Wohnungen, dazu 40 Schulen, 63 Turnhallen, 16 Gymnastikschulen, zwei Hallenbäder, neun Sportanlagen, acht Freizeitheime - zu wenig. Denn viele Schulen sind noch immer zum Schichtunterricht gezwungen. Und bis 1973 wird sich, wie die Bevölkerungsstatistik errechnet, allein die Zahl der Volksschüler in der Stadt von 80 000 auf 131 000 erhöhen.
Die Stadt hat nicht mehr genug Wasser. Sie mußte ein 220-Millionen-Projekt ankurbeln, es dem bayrischen Oberland zwischen Murnau und Zugspitze abzuzapfen.
Sie hat zuviel Unrat. Sie mußte ein Müllkraftwerk bauen lassen, das als modernstes der Welt gilt und zur Zeit ein Drittel der Millionenstadt-Abfälle vertilgt - es kostet 200 Millionen Mark. Die Kapazität der Kläranlage ist erschöpft - die neue kostet 300 Millionen Mark.
Und München braucht einen unterirdischen Speicher für 100 Millionen Kubikmeter Gas. An das Münchner Gasnetz werden die bayrischen Großstädte Augsburg und Regensburg angeschlossen - Symptom der wirtschaftsgeographischen Verflechtung, die in Süddeutschland zusehends Wirklichkeit wird.
Schon zeichnen sich die Konturen eines revierfernen Kräftedreiecks ab mit dem neuen Raffinerie-Zentrum Ingolstadt, wo die Mittelmeer-Pipeline der Esso und Shell sowie (demnächst) auch die der italienischen Gesellschaft Enit mündet; mit der Webereistadt Augsburg, wo MAN Schiffsdieselmotoren und Messerschmitt Strahlflugzeuge baut; mit München selbst schließlich, wo der Gesamtumsatz der Wirtschaft zwischen 1950 und 1964 von sechs auf 31 Milliarden, die Zahl der Arbeitsplätze von 420 000 auf 700 000 stieg.
Vor zwei Jahrzehnten, in der letzten Phase des Krieges, siedelten notgedrungen deutsche Rüstungsexperten aus dem bedrohten Berlin in die Isarstadt um, darunter eine Elite des Siemens-Stabes.
Heute siedelt sich die Industrie nur zu gern in München an, wo die Attraktivität der Örtlichkeit eine erhöhte Stabilität des Personals verheißt (und allein Siemens 37 000 Menschen beschäftigt).
»Wenn nicht... schwerwiegende Fehler in Stadt- und Regionalplanung... gemacht werden«, heißt es in einer Studie des Godesberger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft, »ist nicht damit zu rechnen, daß die Nachteile des Wohnens in München größer werden als seine Vorteile.«
1990 werden nach übereinstimmenden Sachverständigenurteilen 1,6 Millionen Menschen im engeren Stadtbereich leben: 5300 Einwohner je Quadratkilometer, weit mehr als in Berlin vor dem Krieg.
Und in, einem Gutachten, das die Stadt München von der Baseler Forschungsgesellschaft »Prognos AG« erstellen ließ, heißt es: »Die Stadtregion München, in ferner Zukunft vielleicht sogar mit den Stadtregionen von Augsburg und Ingolstadt verwachsend, wird gegen Ende des Jahrhunderts an die drei Millionen Menschen beherbergen.«
In dieser Stadt baut und braut sich eine Zukunft zusammen, wie sie selbst dem Gigantomanen Hitler nicht vorschwebte, als er - am 22. Mai 1938 - einen T-Träger in den Münchner Boden einrammen ließ, der die Aufschrift trug: »Auf Befehl des Führers aller Deutschen schlüg man mich ein zum Zeichen der Arbeitsaufnahme für den Ausbau der Hauptstadt der Bewegung.«
Damals wurde unter der Lindwurmstraße mit dem Bau des Stollens für eine Pracht-Untergrundbahn begonnen (der nur 600 Meter lang und später zur Champignon-Zucht zweckentfremdet wurde). Eine Gala-Straße der Partei sollte entstehen, ein neuer Hauptbahnhof am Stadtrand. Und Hitlers oberbayrischer Gauleiter Adolf Wagner schwor: »In sieben Jahren muß München fertig sein, und zwar als eine der schönsten Städte Deutschlands und der ganzen Welt.«
Genau sieben Jahre später war die Stadt am Ende. Ihr Zentrum lag nach 66 Luftangriffen zu 40 Prozent in Trümmern. Ihre kostbarsten Bauten, darunter die Residenz der Wittelsbacher, der gotische Liebfrauendom, die Renaissance-Kirche St. Michael, das gotische alte Rathaus, das klassizistische Nationaltheater, die Neue und die Alte Pinakothek und die meisten- der mittelalterlichen oder barocken Bürgerhäuser waren zerstört oder schwer beschädigt - Wie fast die Hälfte der Wohngebiete.
Auf den Trümmern schworen die Münchner, ihre Stadt zu erneuern - durch Restauration. Alles, möglichst alles sollte wieder so werden, wie es gewesen war. Die Frauentürme und der »Alte Peter« konnten dank privater Spenden gerettet werden. Makellos wurde die Wittelsbacher Residenz wieder errichtet. Die Alte Pinakothek, Münchens weltberühmte Sammlung alter Meister, entstand wieder in klassizistischem Stil.
Nur mit Mühe konnten moderne Architekten die Restaurationsfanatiker davon abbringen, das angebombte Siegestor in seinen unschönen Urzustand zurückzuversetzen. Dafür aber baute der Staat auf Drängen der Bürger, Neubürger und der Süddeutschen Zeitung«, die 100 000 Unterschriften einholte, für 64 Millionen Mark auch das alte bayrische Nationaltheater klassizistisch wieder auf - mit Plüsch, monumentalen Gips -Karyatiden Königsloge, Hunderten von Seitenplätzen, von denen aus man die Bühne nicht sieht, und sogar mit erneuertem Kopfsteinpflaster (über einer Tiefgarage) vor dem Portal.
»Ein Pseudoklassizismus, der ganz verdächtig nach einer klassifizierten Moderne schielt«, nennt das der Karikaturist Ernst Maria Lang, Vorsitzender des Bundes Deutscher Architekten in Obernbayern. Er sieht in der restaurativen Architektur Münchens: ein Symbol für die Einstellung ihres alten und neuen Bürgertums: »Das ist genau die Form in der sich der gehobene Erfolgsbürger wohlfühlt. Er braucht die Folie von Tradition, die er nicht hat, aber haben möchte.«
Dieser betulich wiedergeschaffene alte Kern des Münchner Gemeinwesens gerade ist es, der die geheime Anziehungskraft der Stadt für viele ausmacht. Auch Oberbürgermeister Vogel bekennt sich zur Enge des historischen Grundrisses: »Stadt, vor allem Innenstadt - das ist nach unserer Auffassung Dichte, Mannigfaltigkeit, Kommunikation und Kontaktmöglichkeit, aber auch historisch gewordene Individualität. Der Mensch ist nicht nur ein Homo trafficus.«
Die leutselige Auffassung von modernem Städtebau prägt aber auch das Gesicht Münchens außerhalb der City. Die »Stadt der Lebensfreude« (wie sie der Lokal-Feuilletonist Ernst Hoferichter nennt) mit ihren Laden-Arkaden, Einkaufs-Passagen und Freilicht-Espressos ist ärmer an Beispielen schöpferischer oder auch nur wohlgelungener Neu-Architektur als die meisten Großstädte des Bundesgebiets, von Westberlin ganz abgesehen.
Zu unkonventionellen Bauformen schwingt sich überwiegend nur die Kirchenarchitektur auf. Was von den 150 katholischen (vor dem Krieg 167) und 51 evangelischen Kirchen und Kapellen (vor dem Krieg 33) neu gebaut wurde, ist meist sehenswert. Aber sonst gilt, was Ernst Maria Lang so formulierte: »Gedämpfte, durchaus kultivierte Moderne, die jedoch sehr biedermännisch auftritt.«
In der Tat erweist sich am Beispiel der Architektur, woran es der heimlichen Hauptstadt samt und sonders gebricht: an avantgardistischem Geist. Sie gilt als Stadt der Kunst, aber Kunst bringt sie kaum hervor.
Selbst wenn es stimmt, daß in Schwabylon 2000 Maler und Bildhauer leben, so stimmt doch auch, was Oswald Malura - Galeriebesitzer und Schwabinger Kunstpreisträger - über sie sagt: »Vielleicht gibt es zwei Dutzend, die wirklich malen können, und ebenso viele, die den Namen Bildhauer verdienen.«
Was sich als Boheme produziert, ist meist gutbürgerlich wie die Maler, die bei Talglicht auf der Leopoldstraße Kunstgewerbe für Kunst verkaufen, in einer Seitenstraße den Caravan, vor ihren Bildern aber ein Kleingeldschüsselchen stehen haben: »Für Milch.«
München gilt als Filmstadt. Aber der einzige Film, der im Laufe der letzten Jahre wenigstens zum Teil in München gedreht wurde und dennoch international Furore machte, wurde von einem Franzosen, Alain Resnais, gemacht: »Letztes Jahr in Marienbad«. In München erscheint jedes sechste deutsche Buch, doch literarische Unruhe kommt in der Regel anderswoher - aus Berlin etwa (Graß) oder aus Gütersloh (Hochhuth).
An der Isar gibt's die meisten Bühnen, und doch wird in Berlin aufregenderes Theater gemacht. Künstlerische Leistungen von hauptstädtischer und beispielgebender Brillanz oder Kühnheit - wenn man vom politischen Brettl absieht - lassen auf sich warten.
Ein großer Dramatiker-Wettbewerb der öffentlichen Hand brachte als einzigen nennenswerten Erfolg ein vom Kunstkritiker Wolfgang Christlieb ("Abendzeitung") eingesandtes Stück über Bayerns unglücklichen König Ludwig II. auf die Bühne der Münchner Kammerspiele.
In der sogenannten Münchner Volksbühne sind 15 000 Leute zusammengeschlossen, die sich sträuben, Aufführungen moderner Dramatiker oder Komponisten auf ihr Abonnement zu akzeptieren, soweit sie nicht »positiv«, »verständlich« und »anständig« seien. Hermann Friess, Chefdramaturg der Bayrischen Staatsoper: »Man spricht von Moral und meint das Zeitgenössische... Wenn Egk, Orff oder Henze angesetzt sind, brechen bei den Volksbühnenbesuchern Grippe-Epidemien aus.«
Andererseits gehört es bei einer Gruppe Münchner Kulturkonsumenten seit einem Jahrzehnt zum guten Ton, Neutönerkonzerte der Musica Viva zu besuchen - selbst wenn man nicht einen Ton versteht.
»Manchmal denke ich, jetzt müßte man sich die Partitur holen und dann alles noch einmal hören«, sagt der Münchner Musikkritiker Joachim Kaiser, »dann könnte man's beurteilen. Aber die Leute im Saal klatschen sofort wie wild und haben es offenbar schon ganz begriffen.«
Im Grunde ist vieles von dem, was Münchens Renommee ausmacht, nichts weiter als eine liebe Täuschung. »Und in der Anziehungskraft der Stadt bleibt«, wie OB Vogel sagt, »etwas Irrationales.«
München ist nicht einmal unumstritten die Stadt des Bieres: In Dortmund wird mehr davon gebraut, auf dem Münchner Oktoberfest immer weniger - wenn auch noch genug - davon getrunken: 1961 waren es 3,5 Millionen- Liter, 1963 nur noch 3,1 Millionen.
Gleichwohl hob das größte Volksfest der Welt, gefeiert zur Erinnerung an die Heirat des bayrischen Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen Anno 1810, am letzten Wochenende zum 130. Male »auf der Wies's' zu Füßen der Bavaria - mit unverminderter Gaudi von neuem an.
Es ist ein Fest der heimlichen Hauptstadt, dessen ursprünglicher Sinn sich dem heimlichen Reich zwischen Kaiserstuhl und Kieler Förde nicht erschließt, aber dessen Balzruf die Deutschen dennoch - und heute stärker als je zuvor - in die Stadt ihrer Sehnsucht lockt: »O'zapft is.«