JUGOSLAWIEN / WAHLEN Panik der Profis
Dreißig Namen standen schon auf der Kandidatenliste. Da erhob sich ein Bauer aus der Umgebung von Loznica: »Ich schlage Vuk Karadzic vor.« Denn: »Ihn sehe ich in der Stadt wenigstens als Denkmal, meinen Abgeordneten sehe ich nie.«
Vuk Karadzic wurde nicht nominiert: Der serbische Sprachreformer -- Brieffreund Goethes und der Brüder Grimm -- ist seit über hundert Jahren tot. Aber alle Lebenden durften sich zur Wahl stellen -- für das Amt des Bürgermeisters von Loznica.
Jugoslawien bietet seinen Bürgern bei Wahlen die Möglichkeit, unter verschiedenen Kandidaten auszuwählen. Sie werden zudem noch vom Volk selbst benannt. Das ist ungewöhnlich in der kommunistischen Welt -- wenn auch weniger demokratisch, als es scheint.
Zwischen dem 9. und 23. April wurde auf diese Weise die Hälfte aller Sitze in den Kommunal-, Provinz- und Landesparlamenten sowie den fünf Kammern der Bundesversammlung neu besetzt.
Um jeden Posten durften sich in Kroatien zwei bis drei Kandidaten bewerben; für die 125 serbischen Sitze in der Bundesvertretung meldeten sich 1512 Anwärter, für die serbische Landesvertretung 1821 Kandidaten, von denen nur jeder achte gewählt werden kann. Die 25 Sitze für die Vertreter der autonomen Provinz Kosmet lockten 17mal so viele Kandidaten an.
»Jeder Bürger ein Abgeordneter«, witzelte das Beigrader Abendblatt »Vecernje Novosti«. Der Andrang auf Jugoslawiens öffentliche Ämter entspricht dem Angebot: Im Laufe dieses Monats müssen 22 503 Staatsfunktionäre ihre Sessel räumen. Sie werden Opfer der »Rotation«, die keinen Minister, Abgeordneten oder Bürgermeister in der Regel länger als vier Jahre in seinem Amt läßt. Einzige Ausnahme laut Verfassung: Staatspräsident Tito.
Alle zwei Jahre wird die Hälfte der Volksvertreter ausgewechselt. Der rote Reigen soll Jugoslawiens Führungsschicht periodisch erneuern und das Entstehen einer Kaste von Berufspolitikern verhindern.
Zum Unterschied von den westlichen Demokratien, in denen die Wahlkandidaten von Parteigremien ausgewählt und dem Stimmvolk präsentiert werden, sollen in Jugoslawien die später Gewählten »von unten auf« ausgesondert werden.
Auf Wohnblock- und Betriebsversammlungen -- so hatte es sich Verfassungsschöpfer Edvard Kardelj gedacht -- sollte sich aus einer Vielzahl von Vorgeschlagenen der richtige Mann herausschälen, um dann als Favorit durchs Ziel zu gehen. In jeder Wahlperiode sollten sich kraft Rotation die Favoriten ändern.
Gleichwohl bewahrte die Partei bei den ersten Wahlen nach diesem Prinzip im Jahre 1965 ihre Führungsrolle. Um ihr Eingreifen zu kaschieren, besitzt sie eine Massenorganisation, den »Sozialistischen Bund der Werktätigen«, dessen Kommissionen eine Vorauswahl unter den Kandidaten trafen.
Um demokratisch zu erscheinen, wurden für jeden Abgeordnetensitz schon bei der Wahl der ersten Hälfte des Beigrader Bundesparlaments 1965 für jeden Sitz fünf Namen genannt. Wahlplakate warben für sie -- wie bei westlichen Parlamentswahlen. Aber: »Alle diese Vorschläge wurden in der Wahlkommission des Sozialistischen Bundes gesammelt und aufbereitet«, gestand der Partei-Hilfsbund selbst in seinem Rechenschaftsbericht.
Und: »Den Wählerversammlungen wurden nur noch einige dieser Kandidaten vorgelegt.«
1965 hatte die Partei die Kandidaten mit dem Blick auf die damals anlaufende Wirtschaftsreform des Tito-Staats sortiert: Von den 233 neugewählten Bundesabgeordneten waren 148 Betriebsdirektoren.
1967 drang eine andere Pressure group wieder nach vorn: »Bei den wahrscheinlichen Kandidaten«, wußte die offizielle »Telegraphenagentur Neues Jugoslawien« (Tanjug) zu melden, »handelt es sich vorwiegend um alte, verdiente Kämpfer.«
Junge Kräfte hatten in die Machtpositionen des jugoslawischen Staatsapparats gestrebt. Um die für einen Kandidaten erforderlichen 200 Unterschriften zu sammeln, bildeten sich fliegende Kolonnen junger Leute, die durch die Dörfer eilten und Nichtkommunisten durchzuboxen suchten. Berufspolitiker, so berichtete die Parteizeitung »Borba« am 5. März, überfiel eine »echte Panik«.
Den Professionellen bleibt der Beruf erhalten: Die Partei hatte die Filter der Wahlkommissionen gut im Griff. In Serbien standen für das am 23. April gewählte Bundesparlament nur noch 311 Kandidaten auf der Liste; von ihnen waren 144 verdiente Funktionäre.
Unter den 21 Empfehlungen der Firma »Industrija motora i traktora« in Neu-Belgrad fand sich ein Arbeiter.