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Panoptikum des Absurden

Waren die Anschläge von New York und Washington die größte Terrortat der Geschichte - oder ein gewaltiges Komplott der Geheimdienste? Verschwörungstheoretiker landen mit ihren angeblichen Beweisen Bestseller, schon ein Fünftel der Deutschen glaubt ihren Halbwahrheiten.
Von Dominik Cziesche, Jürgen Dahlkamp, Ulrich Jaeger und Gunther Latsch
aus DER SPIEGEL 37/2003

Der Mann, der seit dem 14. August immer wieder mit schüchternem Lächeln auf der Anklagebank im Saal 237 des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg Platz nimmt, gilt als Verschwörer: Abdelghani Mzoudi soll Beihilfe zum Mord geleistet haben - in 3066 Fällen, als Mitglied jenes terroristischen Geheimbunds um Mohammed Atta, der mit seinen Anschlägen am 11. September 2001 die Welt veränderte.

Doch kaum hatte der Vertreter der Bundesanwaltschaft, hinter fingerdickem Panzerglas, am ersten Prozesstag verlesen, was die Ermittler gegen den 30-jährigen Marokkaner zusammengetragen haben, skizzierte dessen Verteidiger, Michael Rosenthal, das Bild einer anderen Verschwörung - weitaus größer, gefährlicher und monströser als jene, die seinem Mandanten zur Last gelegt wird: »Der Anschlag auf das World Trade Center war, so scheint es, ein Ereignis, dessen politische Vorteile den Vereinigten Staaten von Amerika als Idee schon vorher bekannt waren.«

Hatten nicht US-Strategen »ein katastrophales und katalysierendes Ereignis« förmlich herbeigesehnt? Und hatten George W. Bush und die Seinen nicht »mit erstaunlicher Geschwindigkeit ... geopolitische Konzepte umgesetzt, die sich von der Analyse des Anschlags nicht trennen lassen«?

Als das erstaunte Getuschel der dicht an dicht gedrängten Gerichtsreporter verebbte, fuhr Rosenthal leise fort: »Mit dieser Brille findet man in den Ermittlungen Merkwürdigkeiten, die aufhorchen lassen. Es beginnt bei den Passagierlisten, auf denen Menschen mit arabischen Namen verzeichnet waren, die auch heute noch quicklebendig sind. Es gibt Beweismittel, über die man grübeln darf.«

Grübeln darf man in der Tat. Vor allem freilich über Rosenthals Brille.

Wollte der renommierte Strafrechtler allen Ernstes nahe legen, dass die amerikanische Administration, zum Wohle ihrer Außenpolitik, auch vor einem Massenmord an mehr als 3000 Menschen im eigenen Land nicht zurückschreckte?

Bundesanwalt Walter Hemberger war ratlos. Er hoffe nicht, dass Rosenthal »wirklich an der Täterschaft von Atta und Co.« zweifle: »Wenn doch, sitzen wir hier nicht mehr in einem Boot.«

Kurz darauf ruderte der Verteidiger zurück. Er habe nur die Herausgabe von Akten provozieren wollen, die amerikanische Ermittler deutschen Behörden bislang vorenthalten: »Wilden Verschwörungstheorien das Wort zu reden lag mir fern.«

Doch genau das hat er getan und damit jene wirren Argumente salonfähig gemacht, die renommierte Verlage in so genannten Sachbüchern seit Monaten mit aberwitzigem Erfolg unters Volk bringen. Deren Autoren argwöhnen, dass die »geopolitischen Schachmeister« im Weißen Haus »zwei Türme« geopfert haben könnten, um die »globale Vorherrschaft« zu erringen; sie geben vor, »die Lügen und Fälschungen von Medien und Geheimdiensten« zu entlarven und die Rolle der CIA im internationalen Terrorismus zu beleuchten.

Im Kern laufen ihre Analysen von »Ungereimtheiten« auf ein angeblich »überzeugendes Gegenmodell der Operation 9/11« hinaus. Der nahe liegende Schluss: Die amerikanische Regierung habe die Terrorattacken selbst inszeniert oder zumindest sehenden Auges geschehen lassen.

Der Buchautor Gerhard Wisnewski, ein ARD-Mitarbeiter, präsentiert in seinem Buch »Operation 9/11 - Angriff auf den Globus« vermeintliche Belege für die Theorie, dass das Pentagon von US-Raketen zerstört worden und nahe Shanksville in Pennsylvania nie ein Flugzeug abgestürzt sei. Sein Gesinnungsgenosse, der Ex-Minister Andreas von Bülow ("Die CIA und der 11. September"), argwöhnt, die Türme des World Trade Center könnten von innen heraus gesprengt worden sein, und Mathias Bröckers, Ex-Journalist der »taz«, sieht in George Bush Jr. den »eigentlichen Wiedergänger Hitlers«, dem er darum auch fast jedwede Schurkerei zutraut.

Die vermeintlichen Enthüllungen kommen an: Wisnewski durfte seine Spökenkiekerei auch in einem WDR-Film dem Publikum nahe bringen. Bülows Werk kletterte binnen weniger Wochen auf Platz 3 der SPIEGEL-Bestsellerliste, und die Auflage des ersten Verschwörungsbuchs von Bröckers übersprang die Schwelle von 100 000 Exemplaren - für den Zweitausendeins Verlag der größte Verkaufserfolg seit Jahren. Die Fortsetzung liegt seit Juli vor und soll noch einmal Kasse machen.

Dass dieser »Amoklauf einer entfesselten konstruktivistischen Phantasie« ("Neue Zürcher Zeitung") in der Bundesrepublik zum Volkssport geworden ist, zeigt auch das Ergebnis einer Forsa-Umfrage vom April. Danach glaubt inzwischen ein Fünftel aller Deutschen, »dass die US-Regierung die Anschläge vom 11. September selbst in Auftrag gegeben haben könnte«. Im Osten der Republik sind es 29, bei den unter 30-Jährigen gar 31 Prozent.

Auch in anderen Ländern scheint die Welt aus den Fugen. In Frankreich hat der Autor Thierry Meyssan rund 200 000 Exemplare seines Buchs »L''Effroyable imposture« (deutsche Ausgabe: »Der inszenierte Terrorismus") verkauft. Und im Internet spekuliert eine Internationale von Hobby-Ermittlern auf Seiten, die in die Tausende gehen, über angebliche »Wahrheiten« hinter der »offiziellen« Version.

So gerät der schwerste Terroranschlag der Geschichte in den Dunstkreis jener Mythen, in denen Elvis lebt, John F. Kennedy einem Komplott von Mafia und Geheimdiensten zum Opfer fiel, die Mondlandung in der Wüste Nevadas gestellt und Diana vom britischen Geheimdienst ermordet wurde (siehe Seite 64).

Ein Panoptikum des Absurden und dennoch ganz von dieser Welt: Verschwörungstheorien, schreibt der Historiker Dieter Groh, »stellen eine ständige Versuchung für uns alle dar«, weil sie eine Konstante der abendländischen Geschichte sind. »Juden, Ketzer, Hexen, so liest sich die historische Sequenz bis zur Französischen Revolution, Freimaurer, Juden, Kommunisten, Kapitalisten, Geheimdienste« nach dem Revolutionsjahr 1789.

So unterschiedlich diese Theorien und ihre Anhänger auch sein mögen, das ihnen zu Grunde liegende Denkmuster ist immer gleich: Großes Unglück braucht große Ursachen. Demnach kann nicht sein, dass ein Grüppchen Islamisten die Weltmacht USA mit all ihren Waffen und Geheimdiensten per Überraschungsangriff ins Mark treffen kann.

»Das Wunderbare an einer Konspirationstheorie ist, dass sie einem erlaubt, alles perfekt zu verstehen«, erklärt der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Barkun den Dauererfolg des Verschwörungsdenkens. Sie »verrät dir, dass alles Böse in der Welt auf eine einzige Ursache zurückgeht, und diese Ursache sind SIE, wer immer das jeweils sein mag«.

Freilich machen SIE - im Fall des 11. September die Amerikaner - es den Phantasten auch leicht. Denn Verschwörungstheorien, so Groh, greifen nur, wenn ihnen die Realität entgegenkommt: Damit ihr »Mechanismus funktioniert, müssen sie in das vorherrschende Deutungsmuster einer Gruppe, Nation, Kultur oder Religion wie der Schlüssel in ein Schloss hineinpassen«.

Und haben nicht Bush und Blair ihre Mitbürger, die Uno und den Rest der Welt mit gefälschten oder aufgebauschten Bedrohungsszenarien getäuscht, um den Weg ihrer Soldaten in den Irak zu ebnen? Was war mit Vietnam, Iran-Contra und der Unterstützung für Bin Laden und die Taliban gegen die Sowjetsoldaten in Afghanistan?

Gab es nicht gar Pläne wie die »Operation Northwoods« - ein Verschwörungsplot des US-Generalstabs aus dem Jahr 1962? Er sah vor, ein Passagierflugzeug über der Karibik durch eine ferngelenkte identische Maschine zu ersetzen, die gesprengt werden sollte - um einen Abschuss vorzutäuschen, den man den Kubanern in die Schuhe schieben konnte. Alles Erfindung?

Nein, gab es alles - ging aber alles daneben. »Northwoods« wurde von Kennedy kassiert, der Iran-Contra-Deal flog mitsamt den Drahtziehern auf, und die Hilfe für die afghanische Guerilla offenbarte ein weiteres Mal das Dilemma amerikanischer Außenpolitik, die schon oft mit der Devise, der Feind meines Feindes ist mein Freund, gescheitert ist.

Wen Bröckers in puncto 11. September für den großen Puppenspieler im Hintergrund hält, machte er schon in seinem ersten Buch klar: George W. Bush, der »seinen Aufstieg zum großen Führer mit einer ideologischen Fiktion« begonnen habe: »der al-quaidisch-ladinistischen Weltverschwörung«. Die Islamisten habe er zum Buhmann aufgebaut »mit Hilfe eines Apparates, der weitgehend als Geheimbund organisiert ist«.

DIE ZOMBIE-TERRORISTEN

Wie unter solchen Vorzeichen banale Sachverhalte zu finsteren Mysterien mutieren, zeigt eine vermeintliche Merkwürdigkeit, die schon Mzoudi-Anwalt Rosenthal im Gerichtssaal ins Grübeln brachte: die Mär von mindestens sechs der angeblichen Entführer, die sich Tage nach den Anschlägen über verschiedene Medien angeblich quicklebendig meldeten.

Ein siebter meldete sich am 12. September angeblich nur bei seinem Vater: Mohammed Atta. Vater Atta, Rechtsanwalt in Kairo, hat seitdem von seinem Sohn nichts mehr gehört und ist sicher, dass der mittlerweile von US-Killern ermordet wurde. Ob mit oder ohne Atta, die These von den Zombie-Terroristen gilt den selbst ernannten Alternativ-Aufklärern als einer der zentralen Belege für dunkle Machenschaften der US-Behörden.

»Daraus«, so Bröckers und sein Co-Autor Andreas Hauß in ihrem - laut Umschlagtext - »akribisch« recherchierten Buch, »ergeben sich ... weit reichende Konsequenzen für den gesamten Fall, weil dann völlig unklar wäre, wer die Flugzeuge eigentlich gesteuert hat«.

Auf welch tönernen Füßen diese Argumentation steht, deutet sich nur drei Zeilen weiter an. »Wir«, so die Autoren, »haben sie nicht aufgesucht und persönlich interviewt. Sie sind in letzter Zeit auch von sonst keinem interviewt worden.« Möglicherweise seien die Untoten jetzt auch nicht mehr am Leben. Falls doch, müsse man Verständnis haben, dass jemand, der »des vieltausendfachen Massenmordes bezichtigt wird«, sich verkriecht »und für Interviewanfragen nicht zur Verfügung« steht.

15 Seiten brauchen Bröckers und Hauß, um ihrer Konstruktion über Selbstmordattentäter den Anschein der Plausibilität zu geben. Bülow benötigt 5. Dabei reichen ein paar Anrufe, um die Zombie-These der beiden zum Einsturz zu bringen. Die Aufklärer hätten nur kurz bei jenen nachhören müssen, die sie selbst als »seriöse« Quellen für ihre Argumente angeben. Beispielsweise bei der BBC, die am 23. September 2001 in der Tat meldete, dass einige der als Terroristen Verdächtigten gesund und munter gegen ihre Nennung als Attentäter protestiert hätten.

Nur: Bei der BBC erinnert sich der zuständige Mitarbeiter erst nach Angabe des Sendedatums an die angebliche Sensation. »Nein, Video- oder Fotoaufnahmen der Betreffenden hatten wir damals nicht«, sagt er. Quelle für die Meldung seien Berichte arabischer Zeitungen, wie der englischsprachigen saudischen »Arab News« gewesen.

Die Dame im Call-Center hat die Nummer der »Arab News« auf Knopfdruck parat. Anruf in Dschidda, Saudi-Arabien. Wenige Augenblicke später ist Managing Editor John Bradley am Apparat. Als der Mann von »Arab News« hört, worum es geht, prustet er kurz los und sagt: »Welch ein Unsinn, davon redet hier schon lange kein Mensch mehr.«

Seine Reporter hätten damals, so Bradley, nicht selbst mit den »Überlebenden« gesprochen, sondern Berichte anderer arabischer Blätter zusammengefasst. Die seien zu einem Zeitpunkt erschienen, als nur eine Namensliste der mutmaßlichen Attentäter vorlag, die das FBI am 14. September veröffentlicht hatte. Fotos gab die US-Bundespolizei erst am 27. September heraus, vier Tage nach den zitierten Meldungen.

Mit den Fotos war der Unsinn von den überlebenden Terroristen schnell erledigt. Bradley: »Das Ganze ist auf das Chaos in den ersten Tagen nach dem Anschlag zurückzuführen. Es handelte sich um zufällige Namensgleichheiten.« Die Namen von zwei der angeblich überlebenden Attentäter - Said al-Ghamdi oder Walid al-Schari - gebe es in Saudi-Arabien »so häufig wie John Smiths in den USA oder Großbritannien«.

Die letzte Erklärung liefert die Zeitung »Asharq Al-Awsat«, eine der Quellen von »Arab News«, die wiederum der BBC als Quelle diente. Mohammed Samman heißt der Reporter, der seinerzeit in Tunis jenen Said al-Ghamdi interviewte, der mächtig erschrocken war, als er auf der FBI-Liste als Attentäter auftauchte.

An seine große Story erinnert Samman sich gut. »Das war eine wunderbare Geschichte.« In der Tat, das war sie, nur mit der von Bröckers und Bülow zusammenphantasierten Variante hat sie nichts zu tun.

»Das Problem war«, so Samman, »dass nach der Veröffentlichung der ersten FBI-Liste CNN ein Foto des Piloten Said al-Ghamdi veröffentlicht hatte, das aus den Akten jener saudischen Piloten stammte, die irgendwann einmal offiziell in den USA trainiert hatten.«

Nachdem Sammans Story durch die Nachrichtenagenturen gerauscht war, meldete sich CNN bei ihm. »Ich gab ihnen Ghamdis Telefonnummer. Die CNN-Leute redeten mit dem Piloten und entschuldigten sich in aller Form. Die Sache war ganz offensichtlich eine Verwechslung. Die Familie der Ghamdis ist eine der größten in Saudi-Arabien, und es gibt Tausende, die Said al-Ghamdi heißen.«

Der Bitte, sich die FBI-Foto-Liste noch einmal anzuschauen, kommt Samman gern nach: »Der Ghamdi auf dem Foto ist nicht der Pilot, mit dem ich geredet habe.«

Dass des Rätsels Lösung so nahe liegt, hätte den Geheimniskrämern auffallen müssen. Unisono schreiben sie, ein Abd al-Asis al-Umari sei vom FBI als Täter benannt worden, und es gebe offenbar mehrere Personen dieses Namens. Bröckers und Hauß fiel sogar auf, dass das FBI zunächst einen falschen Vornamen an die Presse gegeben hatte. Fakten, die auf eine Verwechslung deuten - was den Verschwörungstheoretikern offenbar nicht plausibel schien.

Im Fall des angeblich überlebenden Terroristen Walid al-Schari ist die Wahrheit noch simpler. Zumindest Bülow hatte die Chance, den Fehler zu vermeiden. Immerhin schreibt er in seinem Buch über den angeblichen Attentäter Schari: »Lebt nach Auskunft der Fluggesellschaft Royal Air Maroc in Casablanca und wird als Pilot eingesetzt.«

Hätte er dort nachgefragt, hätte er erfahren, dass der Pilot nicht Walid al-Schari heißt wie der Attentäter, sondern Walid al-Schri. Was durchaus einen Unterschied macht, nämlich den zwischen einem toten Terroristen und einem lebenden Unschuldigen. So aber fügt sich die Wahrheit für die Verschwörungstheoretiker wie bei Kindern das Kreuzworträtsel: Haustier mit vier Buchstaben? Ktze.

Was nicht passt, wird passend gemacht. Und was passt, wird ungeprüft hingeschrieben. »Die unkritische Akzeptanz jedweden Arguments, das auf eine Verschwörung deutet«, gehöre zu den Eckpfeilern aller Konspirationstheorien, schreibt der konservative US-Historiker Daniel Pipes. »Der Verschwörungstheoretiker fängt mit der Schlussfolgerung an und findet dann Gründe, um alles auszuschließen, was ihr nicht entspricht.« Wer einen Hammer in der Hand hat, sieht eben überall Nägel.

Charles Ward, einst Assistent des führenden Kennedy-Mord-Konspirologen Jim Garrison, beschrieb die Praxis dieser Methode so: »Garrison zog eine Folgerung und ordnete anschließend die Fakten. Und wenn die Fakten nicht passten, pflegte er zu sagen, dass sie von der CIA verändert worden seien.«

Auch den 11.-September-Verschwörungstheoretikern hilft die Methode, Komplotte zu sehen, wo keine sind. Sonst könnte man nämlich auch auf die Idee kommen, dass manch heiße Meldung möglicherweise nur deshalb nie wieder aufgetaucht ist, weil sie sich erledigt hat, wie die Geschichte der »lebenden Attentäter« zeigt. Sie ist kein Geheimnis, sondern ein Lehrstück über den heiß umkämpften Nachrichtenmarkt, in dem die Akteure voneinander abschrieben, um keine Meldung zu verpassen - und am Ende alle falsch lagen, Prinzip stille Post.

Aktuell scheint sie nur noch da, wo Bröckers, Bülow und Co. sich bevorzugt bedienen - im »Weltgedächtnis des Internet, das in seinem Archiv all diese weggeworfenen Krümel registriert, sammelt und zugänglich macht« (Bröckers/Hauß).

Nur dort, wo Altes und Neues, Falsches und Richtiges gleichberechtigt nebeneinander steht, haben die Meldungen scheinbar jene Aktualität, aus der die Autoren ihre Verdächtigungen schmieden.

DIE PHANTASTEN

Der freihändige Umgang mit Fakten, die zumeist aus dem Netz stammen, erstaunt vor allem deshalb, weil die meisten der Verschwörungstheoretiker eine durchaus reputierliche Vita vorzuweisen haben.

Spiritus rector der selbst ernannten Alternativaufklärer in Deutschland ist Mathias Bröckers - ehemals Feuilleton-Chef der durchaus ernst zu nehmenden »Tageszeitung« ("taz"). Jahrelang hat der Spezialist für Cannabis die Welt mit Berichten und Büchern über die Wirkung des Hanfs beglückt.

Jetzt fühlt er sich berufen, »die Konspirologie aus der Verbannung als schmutzige, unscharfe Erkenntnistheorie zu befreien und als kritische Wahrnehmungswissenschaft ernst zu nehmen«. Sein Ziel ist eine »Gegen-Verschwörungs-Verschwörung«, was immer das heißen mag.

Zweiter im Bunde ist der Fernseh- und Buchautor Wisnewski, der seine Neigung, Nonsens zu Nachrichten aufzublasen, bereits in Sachen »Rote Armee Fraktion« unter Beweis stellte. Vor Jahren behauptete der Journalist, die 3. Generation der RAF sei eine Erfindung der Geheimdienste, die dringend einen anständigen Feind brauchten. Auf seiner Website finden sich auch Berichte wie »Giftgas gegen Kurden war Iran-CIA-Operation« oder »Moskauer Geiselnahme: Stecken die USA dahinter?« Das Schema ist klar: Die Mörder sind immer die Amis.

Qua Vita seriöser wirkt der ehemalige Bundesforschungsminister Andreas von Bülow (SPD). Er hat eine stattliche Polit-Karriere hinter sich, galt unter Kanzler Helmut Schmidt als Jungstar der Sozialdemokraten und war auch mal Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium - wo er der Welt der Geheimdienste schon sehr nah war. 1994 zog er sich in die Mansarde seines Hauses in Bonn zurück, um dem Volk die Welt zu erklären (SPIEGEL 32/2003).

Bülow, Bröckers, Wisnewski - die deutschen Phantasten konnten sich inspirieren lassen von dem Franzosen Thierry Meyssan. Der Guru der Verschwörungstheoretiker trägt Schwarz bis hinunter zu den Puma-Turnschuhen, trinkt Fruchtsaft auf der Dachterrasse des Pariser Centre Pompidou und doziert. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden redet er - Variationen seines Satzes: »Ich bin sicher, dass im Pentagon kein Flugzeug eingeschlagen ist.«

Meyssan streitet gern. Er hat nicht, wie andere Konspirologen, den 11. September als Anlass gebraucht, um auf die Barrikaden zu gehen. Er steht dort von jeher. Er hat Boykottkampagnen gegen Danone organisiert, den Rechtsradikalen Le Pen mit seinen Recherchen in Bedrängnis gebracht und den katholischen Geheimbund Opus Dei attackiert. Er war auch im etablierten Politikbetrieb ein geachteter, gefürchteter Mann. Aber ist er es noch?

Seit dem vergangenen Jahr muss er viel in eigener Sache streiten. Er ist vor Gericht gezogen gegen die großen Zeitungen Frankreichs. Er hat sie verklagt, weil sie sich über ihn lustig machten, einerseits. Aber vor allem auch, andererseits, weil er, Meyssan, meint, sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben zwingen zu müssen: zu enthüllen, was wirklich passierte am 11. September.

Sein Buch ist mittlerweile in mehr als 18 Sprachen übersetzt. Er erzählt darin, dass am 11. September 2001 auf keinen Fall eine Boeing, sondern sehr wahrscheinlich eine Cruise Missile in den Westflügel des Pentagon krachte, weil die US-Militärindustrie sich an die Macht putschen wollte.

Meyssan sitzt über den Dächern von Paris und greift über den Tisch nach seinem Buch. Er stößt seinen Finger auf ein Bild von der Pentagon-Fassade. Sie hat, auf dem Foto, ein Loch, das nicht sehr groß aussieht. »Und in diesem Loch ist also Ihrer Meinung nach eine Boeing verschwunden? Ja? Glauben Sie das, Monsieur?«

Im Buch sind viele Fotos abgedruckt, auf denen es raucht, qualmt oder brennt. Meyssan zeigt sie vor wie einen Schatz. Wie Beweise. Fakten. Wahrheit. Aber: Welche Fotos fehlen? Welche hat Meyssan übersehen? Und welche hat er weggelassen?

DER DOPPELTE ATTA

Weglassen ist der wichtigste Dreh der Phantasten. So ignorieren die Buchautoren die Vorgeschichte der Hamburger Todespiloten um Mohammed Atta weitgehend. Vielleicht, weil sie inzwischen so gut aufgeklärt ist, dass kaum Platz bleibt für Dunkelmänner. Vielleicht aber auch, weil vor der eigenen Haustür leichter Blamagen drohen. Fest steht jedenfalls, dass die wenigen Passagen, die in ihren Büchern über die Hamburger Zelle zu finden sind, viel erzählen - über Pfusch und Schlamperei der alternativen Wahrheitssucher.

Beispiel: die angeblich harmlosen Täter. »Was die politische und religiöse Haltung betrifft«, behaupten etwa Bröckers und Hauß, »fiel Atta während seiner Zeit in Hamburg, so bezeugen alle Quellen, nicht weiter auf.« Alle Quellen?

Allein vier frühere Freunde, darunter Shahid N. und Marek M., zeichnen in ihren Aussagen das Bild einer Hass-Sekte, deren Guru Mohammed Atta war. Eine Lehrerfamilie, bei der Atta eine Weile lebte, warf ihn raus - weil der fanatische Islamist mit seiner Prüderie das Familienleben unmöglich machte.

Kein Problem, die Lösung der Autoren: das doppelte Attchen. »Die Anzeichen mehren sich also, dass es eventuell einen Doppelgänger Attas gab.« Auch das: höchst ungenau, weil die Ursache für die Verwirrung ausgeblendet wird. Atta nannte sich in Deutschland Amir. Sein kompletter Name lautet: Mohammed Mohammed al-Amir Awad al-Sajjid Atta. In den Ermittlungsunterlagen tauchen verschiedene Schreibweisen und unterschiedliche Bestandteile dieses Namens auf. Das ist alles.

Drittes Beispiel: eine angeblich ominöse Computerfirma in Wentorf bei Hamburg. Hier arbeiteten einige der späteren Attentäter und ihre Freunde. »Es soll anonyme Hinweise aus Geheimdienstkreisen geben, wonach es sich bei dem Unternehmen um eine Briefkastenfirma gehandelt haben könnte«, schwadroniert Bülow.

Kompletter Unsinn. Zwar hat die Firma Hay Computing einen Briefkasten, doch der befindet sich an einem roten Backsteinbau, in dem leibhaftige Angestellte richtiger Arbeit nachgehen. Und mit Geheimdiensten hat das Unternehmen so viel zu tun wie der Ex-Minister mit der Wirklichkeit: nämlich nichts.

Bülow: »Es ist nicht meine Aufgabe, eine belegbare Hypothese aufzubauen. Ich kann nur Mosaiksteinchen nehmen und sagen, das ist merkwürdig und das ist merkwürdig.«

Dunkle Ahnungen müssen auch Bröckers und Hauß umweht haben, als sie von einer Aktion deutscher Geheimdienstler erfuhren: Schon in den neunziger Jahren hatte der Verfassungsschutz Telefonate im Umfeld der späteren Todespiloten abgehört. Eine solche Überwachung, empören sie sich, hätte ein Richter genehmigen müssen. »Gab es vielleicht gar keine richterliche Genehmigung, wurde in Hamburg an aller Gesetzlichkeit vorbei geheimdienstelt?« Eine Frage, die Misstrauen schüren soll und doch nur eines offenbart: die absolute Ahnungslosigkeit der Verschwörungsexperten.

Denn im Unterschied zu einer polizeilichen bedarf eine geheimdienstliche Telefonüberwachung keiner richterlichen Genehmigung, sondern der Zustimmung der jeweils zuständigen G-10-Kommission. Nichts war illegal, nichts wurde den Kontrollgremien verheimlicht. Deshalb drängt sich eine andere Frage auf: Wurde hier vielleicht »akribisch« an aller journalistischen Sorgfaltspflicht vorbei investigiert?

Jedes scheinbar unstimmige Detail dient als Indiz für falsch gelegte Spuren. Statt die angeblichen Widersprüche durch eigene Recherchen aufzuklären, machen die Autoren ihre Wissenslücken zum Beleg für angebliche Manipulationen undurchsichtiger Geheimdienstler und Polizisten, fragen und insinuieren.

So will auch Wisnewski in seinem Buch, am Beispiel des nach den Anschlägen gefundenen Testaments des Todespiloten Atta, Unstimmigkeiten aufdecken, die ihm selbst anzulasten sind: »Zum einen weiß niemand, ob das Testament überhaupt wirklich existiert, und zum anderen kann niemand anhand des arabischen Originals prüfen, ob es vom FBI korrekt übersetzt wurde. Wir verfügen also nicht über Attas Original-Testament.«

Richtig daran ist: Wisnewski weiß darüber ebenso wenig wie Bröckers und Co., die von einem »dubiosen Testament« schwafeln. Sie hätten es besser wissen können. Denn das arabische Original des Testaments existiert, und auch jene, die auf Attas Bitten als Zeugen unterzeichneten, sind nicht verschwunden.

Einem von ihnen legte der SPIEGEL kurz nach den Anschlägen das arabische Dokument vor: dem derzeit in Hamburg als mutmaßlicher Terrorhelfer vor Gericht stehenden Mzoudi. Der bestätigte nicht nur die Echtheit des Papiers, sondern auch die seiner Unterschrift.

WO WAREN DIE JUDEN?

Leichter fällt die Spökenkiekerei den deutschen Autoren in der Ferne. So schreibt Bülow, dass nur »ein israelisches Opfer am 11.9.« in den Türmen des World Trade Center zu beklagen war, aber »eine Reihe von Indizien« zu finden seien, »die auf eine wie auch immer geartete Verbindung des israelischen Mossad zu der Tat und den Tätern des 11.9. weisen«.

Eine These, die der Ex-Minister im Gespräch mit dem SPIEGEL auf bemerkenswert wolkige Weise erläuterte.

Frage: Nehmen wir einmal an, es stimmt, dass nur ein Israeli ums Leben kam. Haben alle anderen, die an diesem Tag nicht in den Türmen waren, davon gewusst?

Bülow: Es wird ja gesagt, dass es insgesamt vor den Anschlägen eine depressive Stimmung gegeben hat. Woher das gekommen ist, ob sich Leute durch Mundpropaganda noch gewarnt haben, weiß ich nicht.

Frage: Wollen Sie damit andeuten, dass es eine Menge Mitwisser gab?

Bülow: Das sind keine Mitwisser. Das sind Ahner.

Frage: Und warum packt heute von denen keiner aus?

Bülow: Das gibt es. Es wird ja von einem kleinen pakistanischen Jungen behauptet,

er habe gesagt: Morgen stehen die Türme nicht mehr.

Geraune im Nebel, fest steht nur: Im Internet kursierte schon kurz nach den Anschlägen die Mär einer jüdischen Verschwörung: 4000 im World Trade Center beschäftigte Juden seien am 11. September nicht zur Arbeit erschienen. Also wussten die Juden Bescheid, weil wohl der Mossad den Anschlag geplant hatte.

In den arabischen Ländern zählt diese Theorie zu den Selbstverständlichkeiten. In die Welt gesetzt hat sie der libanesische TV-Sender al-Manar, der auf seiner Website stolz bekennt, »psychologische Kriegführung gegen den zionistischen Feind« zu betreiben.

Abraham Foxman von der jüdischen Anti-Defamation League in New York weiß um die Hartnäckigkeit des perfiden Gerüchts. Schon oft hat er es mit den Zahlen, die ihm vorliegen, auszuräumen versucht: Seine Leute haben die jüdischen Opfer gezählt. Mindestens 400 seien es gewesen, wahrscheinlich mehr. Amtliche Zahlen gibt es nicht, weil die Religionszugehörigkeit von US-Behörden nicht erhoben wird.

Während Bülow sich auf die Mossad-Theorie einschießt, bezweifelt Wisnewski, dass Islamisten sich überhaupt auf das World Trade Center stürzen wollten. »Die nach den Anschlägen in Zeitungen, Magazinen oder Fernsehsendungen gleich lautenden Schlagzeilen ,Attack on America'' stellen ein grobes und vermutlich beabsichtigtes Missverständnis der eigentlichen Stoßrichtung des Anschlags dar.«

Denn das World Trade Center in New York, betont Wisnewski, habe keinesfalls nur für Amerika gestanden. »Vielmehr ,gehörten'' die eindrucksvollen Doppeltürme der ganzen Menschheit.«

Deshalb sei es unsinnig anzunehmen, dass »islamistische und/oder arabische Terroristen« die Türme als Ziel gewählt hätten, denn »dieses Ziel bedeutete, sich die gesamte Welt zum Feind zu machen«.

Aus dieser Heißluftanalyse folgt in Wisnewskis Welt: »Entweder haben die islamistischen Attentäter ... kläglich versagt. Oder aber es waren ... Attentäter, die an der Herstellung einer weltweiten Kriegskoalition unter Führung der USA interessiert waren.«

Dass die Türme des World Trade Center schon einmal Ziel einer islamistischen Attacke waren, ist Wisnewski und Kollegen anscheinend egal. Aus gutem Grund. Denn die Beweislage gegen jene, die am 26. Februar 1993 eine Autobombe in der Tiefgarage der Zwillingstürme zündeten, sechs Menschen töteten und mehr als tausend verletzten, war eindeutig.

Unter den Dokumenten, die Ermittler bei den Attentätern und deren Hintermännern um Scheich Umar Abd al-Rahman sicherstellten, war auch eine Aufforderung zum Kampf, die sich wie ein Dauerauftrag an jene liest, die sich dem heiligen Krieg verschrieben haben: »Wir müssen die Feinde Gottes vollständig demoralisieren, indem wir die Türme zerstören, die die Stützen ihrer Zivilisation sind - ihre Touristenattraktionen und die hohen Gebäude, auf die sie so stolz sind.«

KRATER OHNE FLUGZEUG?

Gravierender noch als solche Ignoranz ist die Art, wie Wisnewski Aussagen und Sachverhalte zurechtbiegt und hinzimmert. Dass dies bis an den Rand der Fälschung geht, zeigt sich dort, wo er über den Absturz der United-Airlines-Boeing 757 nahe der Gemeinde Shanksville in Pennsylvania schreibt.

Flug 93 war mit 37 Passagieren, 2 Piloten und 5 Flugbegleitern um 8.42 Uhr von Newark, nahe New York, nach San Francisco gestartet. Nachdem die Terroristen das Kommando im Cockpit übernommen hatten, drehte der Jet von seinem West- auf einen Ostkurs - vermutlich, um in Washington das Weiße Haus oder das Capitol anzugreifen.

Einige der Passagiere, die via Telefon von den Anschlägen in New York gehört hatten, versuchten, die Terroristen zu überwältigen, weil sie sicher waren, dass auch ihre Maschine zur Waffe werden sollte. Die Boeing 757 stürzte während des Kampfes ab. Die Geschichte des Flugs UA 93 wurde so zum Heldenepos.

»Let''s roll«, soll ein Passagier gerufen haben, als er mit anderen das Cockpit stürmte. »Let''s roll«, rief Präsident Bush, als er seinen Feldzug gegen den Terror begann. »Let''s roll«, lautete die Parole, die Soldaten mit ihren Körpern auf das Deck eines Kriegsschiffs schrieben, als die Streitkräfte der USA der Opfer des 11. September gedachten.

Für Wisnewski offenbar ein Indiz für die These, dass der Absturz nahe Shanksville eine Propaganda-Lüge der US-Regierung sein könnte. Die Frage, an der entlang Wisnewski seine Gegenpropaganda entwickelt, steht im Buch unter einem Foto der Absturzstelle bei Shanksville und lautet: »Glauben Sie, dass in diesem Loch eine komplette Boeing 757 verschwunden ist?«

Metallteile an der Absturzstelle hält er für Schrott, der dort abgeladen wurde, um die Täuschung perfekt zu machen: »Da es dort kein Flugzeug gab, kann der Schrott nicht von einem Absturz herrühren.«

Einer der Zeugen für diese Behauptung ist - im Buch wie in seinem WDR-Film »Aktenzeichen 11.9. ungelöst« - Ernie Stull, Bürgermeister der Gemeinde Shanksville. Im März dieses Jahres haben Wisnewski und sein Film-Co-Autor Willy Brunner den 78-Jährigen besucht. Vor der Kamera ließen sie den Mann erzählen, wie er den 11. September erlebt hat.

Im Buch beschreibt er die Szene so: »Und dann merkt man Ernie Stull an, dass er mit etwas zu kämpfen hat. Einerseits mit dem, was die führenden Autoritäten der USA - FBI, CIA, Präsident - behauptet haben, und andererseits mit dem, was ihm sein Schwager und sein Freund erzählt haben: ,There was no airplane'', sagt Ernie Stull halb zu uns und halb so, als würde er immer noch in sich hineinhorchen, ob er auch recht gehört habe. Eineinhalb Jahre nach der Katastrophe schüttelt er immer noch fassungslos den Kopf und breitet ratlos die Arme aus: ''No airplane''.«

Vom SPIEGEL mit der englisc hen Übersetzung der Buchpassagen und des Filmtextes konfrontiert, verliert Stull die Fassung: »Meine Aussagen wurden völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Natürlich gab es ein Flugzeug, es war nach der Explosion nur nicht mehr viel davon übrig. So habe ich ''no airplane'' gemeint. Ich habe doch selbst Trümmerteile gesehen, sogar eines der Triebwerke, das im Gebüsch lag.«

Wisnewski bestreitet den Manipulationsvorwurf und verweist auf eine Aussage Stulls im WDR-Film, in der seine Darstellung angemessen wiedergegeben werde: »Das Flugzeug hat sich total zerlegt. Puff! Es krachte auf den Boden und löste sich auf - vollkommen.«

Das ist zwar korrekt, aber Wortklauberei, denn auch im Film legen Wisnewski und Brunner nahe, dass es kein Flugzeug gab. Zitat: »Eine Boeing 757 samt Insassen in diesem Loch? Der Laie wundert sich, die Fachleute schweigen. Oder gibt es noch eine andere, viel schrecklichere Wahrheit?«

Wie die aussehen könnte, insinuieren die Autoren anhand zweier Fotos. Das eine ist ein Schnappschuss, aufgenommen in Shanksville am 11. September. Er zeigt einen Rauchpilz über der Absturzstelle. Das andere zeigt den Rauchpilz nach einem Bombenabwurf in Afghanistan. Zitat aus dem Filmtext: »... genau die gleiche pilzförmige Rauchsäule wie in Shanksville. War es doch eine Bombe oder Rakete?«

Mit welcher Dreistigkeit sich ARD-Mann Wisnewski seine Wahrheit zurechtgeschnitten hat, geht aus einer übersetzten Teilabschrift des Interviews hervor, die der WDR dem SPIEGEL auf Anfrage übermittelte. Nach der im Film zitierten Stelle fährt Stull, der WDR-Abschrift zufolge, auf dem Originalband fort:

»Man hat nur die beiden Turbinen gefunden, weil sie natürlich schwerer und massiver als alles andere sind. Doch vom eigentlichen Flugzeug ist so gut wie nichts übrig geblieben. Man kann immer noch handtellergroße Teile finden. Und Neville von der Farm dort drüben hat hinter seiner Scheune ein Aluminiumteil von der Flugzeugaußenhaut gefunden, das 2,50 mal 3,0 oder 3,50 Meter groß gewesen sein mag.«

No airplane?

Wie die WDR-Oberen angesichts dieses Statements darauf kommen, dass Stulls »Aussagen nicht entstellt oder verzerrt wiedergegeben wurden«, bleibt ihr Geheimnis. Ebenfalls bezeichnend ist, dass »Neville von der Farm« im Film nicht vorkommt und auch sonst niemand, der die Weltsicht der Autoren vom Kopf auf die Füße stellen könnte.

»Von Zeugen, die das Flugzeug gesehen hätten, hat uns Herr Stull nichts berichtet«, so Wisnewski gegenüber dem SPIEGEL. Kann ja sein, aber es gibt sie, und wenn man will, sind sie leicht zu finden.

Einer von ihnen heißt Lee Purbaugh, Arbeiter aus Shanksville: Der Moment, der ihm »wie eine Ewigkeit« erschien, hat sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Ein »unvorstellbar lautes Grollen« habe ihn zum Himmel blicken lassen, und da hing das riesenhafte Flugzeug »praktisch über meinem Kopf«. Sekunden später, um 10.06 Uhr, bohrte sich die Boeing in den Boden.

Ein anderer Zeuge heißt Eric Peterson. Er stand in seinem Laden, als er den Lärm der Triebwerke vernahm. Er trat hinaus und beobachtete den United-Airlines-Jet, bis der hinter einem nahen Hügel verschwand. Unmittelbar danach stieg ein Feuerball auf. Mit seinem Geländewagen machte sich Peterson sofort auf den Weg zum Unglücksort.

Als er dort ankam, sah er in weitem Umkreis um den »noch brennenden« Einschlagkrater Flugzeugtrümmer. In den Ästen der umstehenden Bäume, so Peterson, »hingen Kleidungsstücke«.

Die Beweise für einen Flugzeugabsturz lagen so zahlreich herum, dass Mitarbeiter des FBI und Ermittler der Unfalluntersuchungsbehörde National Transportation Safety Board (NTSB) 13 Tage lang damit beschäftigt waren, die Trümmer zu bergen. Das schwerste gefundene Teil, ein Triebwerkssegment, wog nahezu eine Tonne. Weitaus schwerer als jener angeblich »undefinierbare ''Schrott'' an der ''Absturzstelle'' von Flug UA 93«, über den Wisnewski mutmaßt.

Auch bei der weiteren Behandlung der Trümmer war nichts mysteriös. Während der Dauer der Ermittlungen wachte die Bundespolizei über die Reste des Jets. Als die Fahnder ihre Spurensuche abgeschlossen hatten, folgte, was nach allen Abstürzen üblich ist. Die Teile wurden dem Besitzer des Flugzeugs überstellt. Im Fall der United-Airlines-Boeing war das die Versicherung der Fluggesellschaft, die United States Aircraft Insurance Group (USAIG) mit Sitz in New York. Der gehören die Zeugnisse des mörderischen Geschehens heute noch. Trotz dieser Beweislage kann sich WDR-Fernsehdirektor Ulrich Deppendorf, was den Film angeht, »schlechterdings nicht vorstellen, dass die Fakten falsch sind«. Dabei hätte er gewarnt sein können.

Denn für den langjährigen WDR-Autor Wisnewski war die Wahrheit schon früher grundsätzlich kompliziert - ein Denkmuster aller Verschwörungstheoretiker, so der US-Historiker Pipes: »Von der Voraussetzung ausgehend, dass der äußere Anschein trügt, lehnen sie das gewöhnliche Wissen ab und suchen exotische und wenig bekannte Varianten. Eine Vorliebe für das Unwahrscheinliche ... verleiht ihren Daten eine typische und erkennbare Qualität.«

Verdeckt und verstrickt, überraschend und geheimnisvoll, monströs und raffiniert war auch jene Wahrheit, die Wisnewski mit seinen »Monitor«-Kollegen Wolfgang Landgraeber und Ekkehard Sieker 1992 auf den Markt der Verschwörungsliteratur warf - einen Markt, dessen wichtigste Regel eine Abwandlung von Murphys Gesetz zu sein scheint: Alles, was gedacht werden kann, muss auch passiert sein.

Unter dem Titel »Das RAF-Phantom« hatte das Trio auf über 400 Seiten die These strapaziert, dass die »Rote Armee Fraktion« schon 1982 aufgehört habe zu existieren. Die dritte Generation habe es nie gegeben. Die Morde am Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder - beides keine RAF-Anschläge.

Unter den üblichen Verdächtigen waren stattdessen schon damals die Geheimdienste - CIA, BND, Verfassungsschutz, dazu die Kriminalen vom BKA -, ein riesiges Netz der Verschwörung, aber wunderlicherweise doch so klein, dass es niemandem auffiel, bis die »Monitor«-Männer danach fahndeten.

Nur dumm, dass sich die Wirklichkeit nicht an das Drehbuch der Aufdecker hielt. Denn die RAF, die es angeblich schon seit 1982 nicht mehr geben sollte, erklärte kurz vor Veröffentlichung des Buchs 1992 in langatmigen Erklärungen aus dem Untergrund, warum sie den bewaffneten Kampf aufgeben wolle.

Birgit Hogefeld, 1998 wegen mehrfachen Mordes und Mordversuchs zu lebenslanger Haft verurteilt, ließ 1997 in einem Gespräch mit dem SPIEGEL die Seifenblase der Journalisten platzen: »In den linksradikalen Zusammenhängen, die ich kenne, hatte dieser Unsinn nie eine Bedeutung. Aber natürlich hing die Tatsache, dass das überhaupt jemand ernst nahm, damit zusammen, dass die RAF in den achtziger Jahren von der legalen Linken sehr isoliert war.«

CRUISE MISSILE IM PENTAGON?

Sicher ist, dass Wisnewski und Brunner im zweiten Teil der WDR-Dokumentation über den 11. September die konspirative Schraube noch kräftig weiterdrehen.

Wie in Shanksville bestehe auch beim Angriff auf das Pentagon der Verdacht, dass eine »Bombe oder Rakete« im Spiel gewesen sein könnte. Alles wie gehabt: das Loch - für ein Flugzeug zu klein; die Trümmer - kaum mehr identifizierbar. Die Botschaft wird auch hier als Frage formuliert: Märchenstunde im Pentagon?

Alles Unfug: Nach Berechnungen von Experten der amerikanischen Luftfahrtunfallbehörde NTSB wog die Boeing 757 rund 82 Tonnen. 16 davon entfielen auf den Treibstoff. Die Masse aus Aluminium, Kerosin, Kabinenauskleidung, Gepäck und Passagieren traf das US-Verteidigungsministerium mit einer Geschwindigkeit von 850 Stundenkilometern. »Bei dieser Geschwindigkeit«, so Mete Sozen, Spezialist für Stahlbetonbau an der Purdue-Universität in Indiana, bot die Flugzeughülle kaum mehr Widerstand »als eine Wurstpelle«.

Nach dem Einschlag zerbröselte die Boeing komplett. Als habe sich der Rumpf beim Aufschlag geöffnet und sein Innerstes nach außen gestülpt, fanden sich Leichenteile der Terroristen, die sich mutmaßlich im Cockpit aufhielten, nahe der Fassade des äußeren Rings. Körperreste der Passagiere dagegen wurden noch tief im Inneren des Pentagon entdeckt.

Beim Aufprall, so schätzen Wissenschaftler, explodierten etwa 2,2 Tonnen Treibstoff außerhalb des Gebäudes in einem Feuerball. Die restlichen knapp 14 Tonnen schossen samt des Trümmerbreis ins Gebäude. Für Sekundenbruchteile habe die Mischung aus Flugzeugteilen und Treibstoff eine hoch rasante »Schlammlawine« geformt, dann sei der Sprit explodiert. Brandtemperaturen von mehr als 900 Grad raubten den vom Beton entblößten Stahlträgern die letzte Tragkraft. 20 Minuten nach der Karambolage brach das Gebäudesegment über dem Einschlagsloch ein.

Der einzige Zeuge, der das Pentagon-Szenario der WDR-Männer stützt, ist ein Mann, der im Film schlicht als John Judge vorgestellt wird.

Dass Judge eine Art Chefdenker der US-Verschwörungstheoretiker-Szene ist, erfährt das Publikum nicht. Dabei gilt er, in einschlägigen Kreisen, als Experte für »kollektive und individuelle Gedankenkontrolle«, bringt den Massenselbstmord der Volkstempel-Sekte in Guayana 1978 mit der Erschießung Martin Luther Kings in Verbindung und sieht hinter beiden Taten Dunkelmänner aus CIA und Militärgeheimdienst am Werk. Klar, dass er auch in Sachen Kennedy-Mord aktiv ist und Verbindungen entdeckt haben will, die zu denen führen, die auch den Black-Muslim-Führer Malcolm X auf dem Gewissen haben.

Ein Bomben-Zeuge mithin, der zu allem Überfluss das Pentagon schon »von Kindesbeinen an« kennt: Präzise erinnert er sich, dass er im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern, die als Zivilangestellte dort arbeiteten, im Hof des Gebäudes zum Essen war: »Ich setzte mich auf eine silberne Box, und mein Vater sagte, geh da runter, das ist eine Abschussvorrichtung.«

Für Judge, resümieren Wisnewski und Brunner zufrieden, sei also die Behauptung, »man hätte die Gefahr nicht rechtzeitig erkennen und abwehren können, vollkommen unglaubwürdig«.

Das behauptet auch jener Mann, auf dessen Arbeit sich Wisnewski in seinem Buch in puncto »Pentagate« weitgehend stützt: Thierry Meyssan. Seine These, dass manche Leute im Voraus etwas von den Anschlägen gewusst haben könnten, gründet Meyssan unter anderem auf die Tatsache, dass bereits vor dem 11. September die Internet-Adresse »www.wtc2001.com« registriert worden sei.

Stimmt. Hatte aber mit dem World Trade Center nicht das Geringste zu tun: wtc stand für »World Track Championships« - das sind die Weltmeisterschaften im Bahnradfahren. Ein Klick mit der Maus, und die Seifenblase wäre zerplatzt.

Nächstes Beispiel: der Umgang mit den Aussagen des Fernsehjournalisten Mike Walter, der auf dem Weg zur Arbeit Zeuge des Anschlags auf das US-Verteidigungsministerium wurde. Meyssan dient er als Zeuge für die These, dass das Pentagon mit Raketen oder Lenkflugkörpern zerstört worden sei.

Eine Manipulation, die Walter noch immer in Wut bringt. Denn er sah die Maschine in einer »weichen Kurve« auf das Gebäude zufliegen und beschleunigen: »Dann ging sie in den Sinkflug über und knickte einen Lichtmast. Kurz danach jagte sie ins Pentagon. Die Flügel knickten, ich hörte die Explosion und sah den Feuerball. Der Kerl, der sie flog, wusste, was er tat. Es wirkte wie eine Cruise Missile.«

Das hatte Walter gesagt. Meyssan aber zitierte nur den letzten Satz.

Wisnewski löst das Problem, dass viele Menschen den American-Airlines-Jet ins Verteidigungsministerium krachen sahen, anders: »Man kann den Zeugen nicht recht glauben. Manche lügen vielleicht aus irgendeinem Grund, aber andere haben möglicherweise wirklich etwas gesehen, was sie an einen Passagierjet erinnerte.«

Die Zeugin Penny Elgas erwähnt er nicht. Die sah aus ihrem Wagen, wie »der Rumpf der Maschine in das Pentagon glitt, als ob dort eine große Tür weit offen wäre«.

Erst Stunden später, als sie wieder zu Hause war und der Schock sich gelegt hatte, stellte sie fest, dass ein Trümmerteil des Flugzeugs durch das offene Dach im Inneren ihres Wagens gelandet war - wo es wenig Platz für verqualmte Theorien ließ. DOMINIK CZIESCHE, JÜRGEN DAHLKAMP,

ULRICH FICHTNER, ULRICH JAEGER, GUNTHER LATSCH, GISELA LESKE, MAX F. RUPPERT

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Alles Lüge?

»Glauben Sie, aus den TV- und Presseberichten die volle Wahrheit über die Anschläge vom 11. September 2001 erfahren zu haben?«

* Am 11. September am Flughafen von Portland.

Ulrich Fichtner, Gisela Leske, Max F. Ruppert
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