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»Panzer gegen die verseuchte Bevölkerung«

Geheime Katastrophenschutz-Planungen für den Fall eines westdeutschen GAU *
aus DER SPIEGEL 19/1986

Eine Katastrophe wie bei Kiew kann es nach amtlicher Darstellung in der Bundesrepublik eigentlich gar nicht geben. Dennoch stehen in den Panzerschränken westdeutscher Behörden seit Jahren dickleibige Ordner mit großenteils geheimen Plänen für den Fall eines GAU.

Detailliert regeln die sogenannten »KatS«-Papiere, die an sämtlichen Atomstandorten nach Bundesrahmenempfehlungen aufgestellt worden sind, was im Katastrophenfall zu geschehen hat - von der Alarmierung der Bevölkerung bis zu ihrer Evakuierung.

Mancherorts, so in Bayern, werden die »KatS«-Pläne streng unter Verschluß gehalten. Wo sie, wie in Hamburg für begrenzte Zeit öffentlich ausgelegt werden, ist interessierten Bürgern die Verwendung von Tonband, Schreibmaschine oder Kopierer untersagt - die Behörden fürchten, daß eine Veröffentlichung von Einzelheiten, wie die Bundesregierung schon vor Jahren warnte, eine »Handhabe für eine böswillige Beeinträchtigung oder Verhinderung von Schutzmaßnahmen« bieten könnte.

Daß dennoch immer wieder mal Details aus den für den Dienstgebrauch bestimmten Papieren publik geworden sind, ist Atomkraftgegnern zuverdanken, die Pläne aus Amtsstuben klauten und publik machten - aus ihrer Sicht »gerechtfertigte Selbsthilfe«.

Was in den letzten Jahren auf diese und andere Weise nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kam, wirkt mal makaber, mal kurios - in jedem Fall weckt es Zweifel an der offiziellen Version, durch eine Räumung des Katastrophengebietes werde sich das Schlimmste verhindern lassen.

Im Ernstfall soll die Bevölkerung zunächst durch eine »wichtige Durchsage, eingeschoben ins laufende Radioprogramm« oder mittels Lautsprecherwagen informiert werden: »Achtung! Achtung! Hier spricht die Polizei!« Alle werden »dringend gebeten, sich sofort in geschlossene Räume zu begeben und alle Fenster und Türen zu schließen«.

Zum »Schutz Ihrer Gesundheit« sollen die Bürger »Keller oder innenliegende Räume« aufsuchen, alle »Lüftungs- und Klimaanlagen« abschalten und den »Verzehr von frisch geerntetem Gemüse, frisch gemolkener Milch und allen im Freien gelagerten Lebensmitteln« vermeiden.

Sodann wird allen Personen, die »sich nach Eintritt des Unfalls im Freien aufgehalten haben, dringend angeraten. »die getragene Kleidung zu wechseln und sich gründlich zu duschen oder zu waschen«. Die abgelegte Kleidung soll, möglichst verpackt, in einer entfernten Ecke verstaut werden.

»Dies sind vorsorgliche Maßnahmen, heißt es am Ende der Durchsage, »lassen Sie Ihr Radio eingeschaltet«. Im übrigen bestehe »kein Anlaß zur Beunruhigung« - es sei denn, die radioaktiven Stoffe verseuchen bereits massenhaft die Umwelt. Bei solchen schweren Störfällen nämlich nützt kein Verkriechen im Keller mehr, die Katastrophenmelder empfehlen dann Reißaus: _____« Kraftfahrzeugbesitzer werden gebeten möglichst ältere » _____« oder gehbehinderte Nachbarn, Mütter mit Kleinkindern und » _____« andere hilfsbedürftige Nachbarn bis zu den genannten » _____« Kontrollstellen mitzuneh men. Wer nicht motorisiert ist, » _____« begibt sich auf kürzestem Weg zur nächsten Schule, » _____« Sporthalle, Gemeindehalle, Kirche oder einem anderen » _____« festgelegten Versamm lungsraum und wartet dort auf die » _____« Abho lung. »

Dann ist nur das »Notwendigste« mitzunehmen, Ausweise etwa, Wertpapiere, einmal Kleidung zum Wechseln und »Mundvorrat als Wegzehrung«, alles »staubdicht« verpackt, beispielsweise »in verschnürten Plastiktüten«, Flüchtlinge ohne Auto sollen »bitte nur Handgepäck und wenn möglich eine Decke« tragen. Zum persönlichen Schutz gegen Strahlen und Fallout wird geraten: »Atmen Sie im Freien möglichst nur durch ein Taschentuch.«

Wer gerade nicht laufen kann oder gar ans Bett gefesselt ist, soll aus »einem Fenster zur Straßenseite ein Bettlaken« raushängen: Die geräumten Gebiete werden überwacht; im Bedarfsfall wird Ihnen geholfen werden. »Schulen und Kindergärten werden dann gesondert mit Bussen evakuiert.« Auch »für Altenheime, Pflegeheime und Krankenhäuser wird so vorgesorgt, daß sich die Angehörigen keine Sorgen machen müssen«.

In den Schulen von Rheinland-Pfalz beispielsweise geht es nach der amtlichen »Katastrophenschutz-Vorsorge« auch beim Atomunfall ordentlich zu wie in der Kadettenanstalt. »Der Schulleiter weist Schüler, Lehrer und sonstige Bedienstete auf die bestehende oder drohende Gefahr hin und ordnet an, daß bis auf weiteres niemand ohne seine Erlaubnis die Schule verlassen darf.

Kommt der Befehl zur Evakuierung, »sorgt der Schulleiter für einen geordneten Ablauf«. Er muß Lehrer bestimmen, »die sich vor der Abfahrt vergewissern, daß niemand im Schulgebäude zurückgeblieben ist, und die für den reibungslosen Einstieg in die Fahrzeuge und für Ordnung während der Fahrt sorgen«.

Denn vor allem soll die Flucht sich geordnet vollziehen, als ginge es hinaus zum Ausflug in den strahlenden Mai. »Wohnungs- und Haustüren« sind zu verschließen, und wer unterwegs ist, soll »auf jeden Fall« auch dann »Ruhe

bewahren«, wenn ihm »Meßtrupps und Hilfskräfte unter Schutzmasken und Schutzanzügen begegnen«.

»Ruhe und Besonnenheit« stehen überhaupt ganz obenan, weil sonst, so Horst Kallmeyer, Verwaltungschef im Niedersächsischen Landkreis Hameln-Pyrmont, »die vorbereiteten Planungen« für die Katz sind. Oberkreisdirektor Kallmeyers Rat: »Panik vermeiden«, »kühlen Kopf bewahren«.

Gut gemeint, doch wenn die Atomangst erst mal da und die Bierruhe hin ist, wird's wohl drunter und drüber gehen: Auf verstopften Straßen, die schon den normalen Berufsverkehr kaum fassen können, kriechen dann endlose Autoschlangen dahin, zusätzlich behindert durch Auffahrunfälle und Pannenfahrzeuge. Rettungswagen bleiben stecken, und an Bussen mit Fahrern zur Evakuierung wird es fehlen.

Diese Krisenlage ist seit neun Jahren gerichtsbekannt. Als das Freiburger Verwaltungsgericht damals den Baubeginn des Atommeilers im badischen Wyhl wegen eines fehlenden Berstschutzes stoppte, ließen die Richter sich auch über Schutz- und Fluchtmöglichkeiten der Bürger aus.

Gutachter hatten erklärt, »daß die akut betroffene Bevölkerung trotz der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit mit der hohen Effizienz von 90 Prozent evakuiert« werden könnte. Am besten ginge das, wenn die Menschen sich mit eigenen Fahrzeugen aus dem strahlenden Staub machten.

Die Richter aber hielten es schon »für praktisch ausgeschlossen«, daß an einem Werktag während der Arbeits- und Schulzeil genügend Autos rechtzeitig zur Verfügung stehen. Machten sich die rund 100000 Menschen, die in der stark gefährdeten 15-Kilometer-Zone um Wyhl wohnen, auf und davon, würden viele von ihnen viel zu spät aus dem Krisengebiet kommen.

Das »Phänomen« Massenflucht, so die Kammer, »würde ausreichen, um zahllose Leute in Angst und Schrecken zu versetzen«. Zu den aus dem 15-Kilometer-Kreis Fliehenden würden überdies mehr als 100000 weiter entfernt wohnende Menschen stoßen, die ihr Heil gleichfalls in der Flucht suchen. Dann aber wären, schrieben die Richter, »trotz intensiver Anstrengungen der geschulten Einsatzkräfte die Fluchtstraßen sehr schnell blockiert - Chaos total.

Die Katastrophenhelfer wären im Ernstfall hilflos. Um verletzte und verstrahlte Personen ärztlich zu versorgen und zu entseuchen, fehlt es allenthalben an geschultem Personal. Auf die sogenannte Dekontamination womöglich Tausender von Menschen sind die Helfer nicht eingestellt, vor allem deshalb, weil es vielerorts an realitätsnahen Übungen mangelt.

In Hamburg, wo seit 1983 die Schutzorganisation »völlig umgestaltet« und »streng hierarchisch gegliedert« wurde, üben die Behörden immerhin regelmäßig Katastrophenfälle, von der Tankerexplosion bis zum Kraftwerk-GAU. Anderswo beschränken sich die Nothelfer auf »Katastrophen-Stabsrahmenübungen« während der Dienstzeit, mit gemeinsamer Mittagspause oder Brotzeit und immer ohne Beteiligung der Bürger.

Die so geübte Evakuierung, vor allem am Schreibtisch durchgespielt, läuft zumeist problemlos ab. Laut Manfred von Hagen, Chef des bayrischen Brand- und Katastrophenschutzes, vollzieht sich dann die Menschenräumung eines ganzen Landstrichs so: _____« Da fahren zuerst Polizeifahrzeuge mit » _____« Lautsprecher-Durchsagen durchs Dorf. Dann läßt man die » _____« Busse hinfahren und nimmt die Leute mit, ganz einfach. » _____« Dann fährt man dorthin, wo die radioaktive Wol ke nicht » _____« hingeht. Es geht ja nur um die Evakuierung aus der » _____« Hauptwindrichtung. Das geht also auch mit Tausenden von » _____« Leuten, wir haben das durchkalkuliert. Im Grunde passiert » _____« bei einem Nuklearunfall nichts anderes als bei einer » _____« Unwetter oder Hochwasserkatastrophe. Und soweit unsere » _____« Einsatzpläne bis jetzt gefragt wa ren, haben sie auch » _____« funktioniert. »

»Man kann nicht mit der kleinsten Sicherheit voraussagen«, meint hingegen Peter Mikolajczyk vom Landkreis Groß-Gerau, in dessen Nachbarschaft die Kraftwerksblöcke von Biblis stehen, »wie sich so ein Einsatz tatsächlich abspielt.« Mikolajczyk weiß, »daß man kaum realistisch so einen Störfall üben kann, bei dem womöglich eineinhalb Millionen Menschen zu dekontaminieren sind«.

Diesen Monat soll zum zweiten Mal der Biblis-Fall geprobt und die Frage geklärt werden, wie lange es dauert, bis die Helfer einsatzbereit sind - erst danach nämlich sollen die Behörden die Bürger öffentlich warnen.

Was mit den massenhaft verstrahlten Menschen geschieht, ist ungewiß. Oberkreisdirektor Kallmeyer aus Niedersachsen etwa will Helfer aus Bund und Ländern herbeirufen, einschließlich »Bundeswehr und Bundesgrenzschutz«.

Polizisten und Soldaten müßten dann, schrieb vor fünf Jahren der Fachautor Holger Strohm in seinem Buch »Friedlich in die Katastrophe«, möglicherweise eine makabre Pflicht zum Schutz der noch nicht bestrahlten Bevölkerung übernehmen: Ähnlich wie in dem vor drei Jahren gesendeten WDR-Fernsehspiel »Im Zeichen des Kreuzes« hätten bewaffnete Kräfte das Gefahrengebiet abzusperren.

»Mir wurde«, versichert Fachmann Strohm, »mehrfach von hohen Offizieren mitgeteilt, daß für solche Notfälle der Einsatz von Schußwaffen und Panzern geplant sei, um notfalls die verseuchte Bevölkerung zurückzuhalten.«

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