»Papa, bitte nicht in Uniform«
Der Gefreite Thomas Benthin nutzte die Gelegenheit. »Als Soldat in Grünzeug werde ich in der Bahn immer angemacht«, meldete er seinem obersten Dienstherrn. »Das Problem« sei die fehlende »gesellschaftliche Anerkennung«, sagte er zu Verteidigungsminister Volker Rühe, der seinen Antrittsbesuch in der Hamburger Röttiger-Kaserne machte.
Auch von seinen Generalen erfährt der Neuling auf der Hardthöhe wenig Erfreuliches über die Stimmung in der Bundeswehr. Brigadegeneral Karsten Oltmanns, bis vor kurzem Abteilungsleiter im Bonner Führungsstab der Streitkräfte, klagte über das geringe Ansehen, das die Armee in der Öffentlichkeit genieße. Die Truppe, so sein Fazit vor der Hamburger Führungsakademie, befinde sich in ihrer bisher schwersten Krise.
Generalinspekteur Klaus Naumann will in dieser Woche bei der traditionellen Kommandeurstagung in Leipzig über die Gründe der Misere reden. Er macht die Politiker mitverantwortlich - und sie sollen dafür sorgen, daß die Soldaten nicht »in Vergessenheit geraten«.
Lustlos schiebt ein Heer von Unteroffizieren und Offizieren Dienst in den Kasernen. Besorgt erwarten Tausende Familienväter ihre Versetzung in Gegenden, wo sie vom knappen Lohn die Miete nicht mehr zahlen können. Apathisch reagieren viele auf die Ablehnung, die große Teile der Gesellschaft gegenüber dem unzeitgemäßen Militärapparat und seinen uniformen Staatsbürgern empfinden.
So war es nicht immer. Noch Anfang der achtziger Jahre zeigten sich die Bundis unbefangen in der Öffentlichkeit. Bei Soldatentrauungen geleiteten die Kameraden _(* Bei der Panzergrenadierbrigade 7 in ) _(Hamburg-Fischbek Mitte April. ) den uniformierten Bräutigam schon mal, wie im schleswig-holsteinischen Uetersen, durch ein hochsymbolisches Spalier von Raketenwerfern vom Kirchenportal aus ins Eheleben. Den Wertewandel erlebte ein hoher Offizier aus dem Führungsstab der Seestreitkräfte, der Ende der fünfziger Jahre »selbstverständlich« im Blau der Marine geheiratet hatte, jetzt bei der Eheschließung seiner Tochter im Rheinland: »Sie sagte, ,Papa, bitte nicht in Uniform.''«
Ein Marine-Obrist, der jahrzehntelang aus Überzeugung Soldat war, beurteilt die Lage heute anders: »Wenn mein Sohn Berufssoldat werden wollte, würde ich ihm dringend abraten.«
Der Feind, der das gewohnte soldatische Selbstverständnis erschütterte, kam, natürlich, aus dem Osten. Als Michail Gorbatschow vor sieben Jahren Glasnost und Perestroika propagierte und als später, am 1. Juli vergangenen Jahres, in Prag der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, war die direkte militärische Bedrohung der Bundesrepublik plötzlich verschwunden. »Damit ist die bisherige Geschäftsgrundlage entfallen«, resümiert Bernhard Fleckenstein, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (Sowi) in München.
Die Voraussetzungen hatten sich bereits stark verändert, als Gorbatschow Kanzler Helmut Kohl Mitte Juli 1990 im Kaukasus den militärischen Preis der deutschen Einheit abverlangte: die Reduzierung der vereinigten deutschen Armeen von 469 000 Soldaten im Westen und 137 000 im Osten auf insgesamt 370 000 bis zum Jahresende 1994.
Seither vermögen auch passionierte Vaterlandsverteidiger kaum noch Sinn in ihrem Beruf zu entdecken. Sie fragen sich selbst, wem das tägliche Training von Tarnen und Täuschen, Schießen und Marschieren noch nützt.
»Stellen Sie sich mal vor«, sagt ein Generalstäbler, »wie sich ein Boxer fühlt, der Tag für Tag am Punchingball malocht, in den Ring steigt und überhaupt nicht weiß, ob irgendwann noch mal ein Gegner kommt.«
Die Chefs von der Hardthöhe, selbst orientierungslos, produzierten bestenfalls Worte statt Taten. So änderte die »friedensgeschädigte Armee« (ein Kommandeur) ihre Sprachregelungen, ersetzte die »Bedrohung« aus dem Osten durch »vielfältige Konfliktpotentiale« aus allen Himmelsrichtungen und versuchte, ihre eigene Existenz von der eines Feindes unabhängig zu machen.
Doch die neue Sinngebung überzeugt weder die Öffentlichkeit noch die Armee.
»Im Abseits« überschrieb Loyal, die Zeitschrift des Reservistenverbandes, in ihrer März-Ausgabe in riesigen schwarzen Lettern einen Bericht über die trübe Truppenstimmung und diagnostizierte im Mai: »Innerer Zustand konfus.« Selbst Springers Welt am Sonntag, die sonst das Treiben in der Wehr mit bewunderndem Respekt oder höfischer Unterwürfigkeit behandelt, stellte wegen »dramatischer Einbrüche bei Personal und Motivation« dreispaltig fest, die Truppe sei »nur bedingt einsatzfähig«.
Der Historiker Arnulf Baring, der gern ein Loblied auf staatliche Institutionen singt, mahnt: »Machen wir uns doch nichts vor: Für die Masse unserer Landsleute ist die Bundeswehr genauso anachronistisch wie Friedrich der Große - ein Relikt jener Sagenwelt, in der es noch Kriege gab.«
Seit Jahren schon bewerben sich immer weniger junge Männer freiwillig für die Bundeswehr, steigen die Zahlen der Kriegsdienstverweigerer und nimmt die gesellschaftliche Akzeptanz der Truppe ab. Doch vom Verteidigungsministerium werden Ergebnisse verschwiegen, die Demoskopen im Auftrage der Bundeswehr ermittelten: *___1984 meinten nur 15 Prozent der Deutschen, es ginge ____auch ohne die Bundeswehr, 1990 waren es schon 42 ____Prozent. *___1980 hielten noch 38 Prozent der Jugendlichen die ____Bundeswehr für »sehr wichtig«, 1990 waren es nur noch ____10 Prozent. *___Lediglich 31 Prozent der jungen Männer im Westen ____beurteilten 1991 Bundeswehr-Freiwillige positiv. *___Erstmals seit 1988 würde heute mehr als die Hälfte der ____Befragten einem Freund abraten, zur Bundeswehr zu ____gehen. *___Der Schutz der Grenzen und die gesamtdeutschen ____Streitkräfte sind für über 80 Prozent der Bevölkerung ____die unwichtigsten aller politischen Aufgaben.
In den Kasernen wird dennoch weiterbefohlen, als sei nichts geschehen. Wie eh und je gibt es nächtliche Fahrten zu 36-Stunden-Manövern, drei Tage Gefechtsschießen, Feldwebelkritik an »mangelhaftem Schuhputz« und Kraftfahrzeugmärsche nach Richtlinien aus den dreißiger Jahren. Die Hektik, mit der die Bundeswehr landauf, landab umgebaut und verringert wird, deckt vieles zu. »Darunter aber«, sagt Sowi-Direktor Fleckenstein, »brodelt es.«
Wie stark die Wehrkraft schon zersetzt ist, belegte das Münchner Institut im vergangenen Jahr mit seiner Studie »Armee im Umbruch«. Autor Georg-Maria Meyer hatte Interviews mit 30 Bataillonskommandeuren des Heeres geführt - das sind 40- bis 48jährige Männer, die jeweils 400 bis 1000 Soldaten befehligen, Verantwortung für Militärtechnik im Wert von 250 Millionen Mark tragen und nach dem Selbstverständnis der Bundeswehr der »Inbegriff des soldatischen Führers« und die »Leitfigur für das Führerkorps des Heeres« sind.
Auf die Couch gelegt, offenbarte die Bundeswehr-Elite dem Soziologen und Offizierskollegen Meyer, welche Kränkungen sie in jüngster Zeit erdulden mußte. Bisher, erzählte ein Bataillonskommandeur, seien die Deutschen stets »Musterknaben der Nato« gewesen. Aber weil sie im Golfkrieg abstinent bleiben mußten, sei im Nato-Verbund nur noch von »Drückebergern« und »schlappen Deutschen« die Rede.
Ein Kommandeur: »Das tut schon weh, auch mir persönlich.«
Offen gestanden die Offiziere ein, wie sie die ablehnende Haltung der Bevölkerung bei der täglichen Arbeit verspüren. Ein Fernmeldebataillon beispielsweise benötigte Übungsräume - doch die wurden von Ortspolitikern »mit Blick auf den möglichen Verlust von Wählerstimmen versagt«. Als ein CDU-Bürgermeister, dessen beide Söhne Kriegsdienstverweigerer sind, den Kommandeur der örtlichen Kaserne offiziell zu einem Dorffest einlud, fühlte der sich nur noch »geduldet« - weil die Bundeswehr im Ort ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist.
Seine jungen Soldaten, räumt ein Kommandeur ein, hätten »erheblich damit zu kämpfen, sich gegen Fragen und Vorwürfe ihrer Umgebung zu behaupten«. Und »immer öfter« würden sie von ihrer Freundin, von Verwandten und früheren Lehrern gefragt, warum sie »einen heute so unnützen Dienst leisten« wollten.
Nicht wenige Soldaten werden von Bundeswehrkritikern schon mal massiv angegangen. Rolf Heim, 27jähriger Pädagogikstudent an der Hamburger Bundeswehrhochschule, bekommt »Herzklopfen«, wenn er in seiner Offiziersuniform durch die Fußgängerzone in Hannover geht: »Viermal angepöbelt, von Älteren als Nazi und von Jüngeren als Arsch beschimpft - das kommt vor.«
Heims Erfahrung: »Lehrer gelten in der Gesellschaft als faul, Polizisten als dumm - aber die Schlimmsten, das sind die Soldaten.«
Gelegentlich werden Angehörige von Soldaten in eine Art ideologische Sippenhaft genommen.
Im niedersächsischen Oldenburg saßen Eltern im vergangenen Oktober zusammen, um über die Aufnahme eines eineinhalbjährigen Mädchens in eine Kinderspielgruppe zu richten. Der Antrag wurde abgelehnt, weil der Vater des Mädchens Offizier bei der 11. Panzergrenadierdivision ist. Es sei nicht auszuschließen, räsonierten die Eltern, daß die Soldatentochter mit Kriegsspielzeug in Kontakt _(* Im Januar 1991 in Erhac. ) komme. Außerdem könne das Kind Ohrenzeuge von militärischen Gesprächen werden, die ihre Eltern zu Hause vermutlich führten. Der Einwand des Offiziers, zu Hause unterhalte sich seine Familie »auch über anderes«, stieß auf Ablehnung. Die Sittenwächter blieben bei ihrem bornierten Vorurteil.
In die Defensive geriet auch die Frau eines Bataillonskommandeurs, die an einer Hamburger Schule unterrichtet. Sie wurde von Lehrerkollegen gefragt, wie sie es verantworten könne, »mit einem Killer verheiratet zu sein«. Mit Soldaten, hieß es, könne man »nicht verkehren«.
Ins Mark traf die sensiblen Soldaten das Urteil des Frankfurter Landgerichts vom Oktober 1989, als der Arzt Peter Augst vom Vorwurf der Volksverhetzung und Beleidigung freigesprochen wurde. Jeder Soldat sei ein potentieller Mörder, hatte der engagierte Pazifist einem Jugendoffizier vorgeworfen - und blieb straffrei.
Die Soldaten fühlen sich zudem in der Krise von Politikern und Ministern allein gelassen.
Tief enttäuscht ist das Offizierskorps, wenn Abgeordnete beim Kasernenbesuch im persönlichen Gespräch mit dem Kommandeur die Existenzberechtigung der Bundeswehr ausdrücklich betonen und, kaum ins Zivilleben zurückgekehrt, zum unpopulären Thema Sicherheitspolitik schweigen. Die Soldaten träumen, in verklärter Erinnerung, von einer Vaterfigur wie dem zweiten SPD-Verteidigungsminister Georg Leber.
Tatsächlich ist der sicherheitspolitische Grundkonsens der großen Parteien längst zerbrochen. Dazu kam es Anfang der achtziger Jahre, als sich die SPD auf Druck der erstarkten Friedensbewegung plötzlich gegen den Nato-Doppelbeschluß und die Nachrüstung mit Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles wandte.
»Damals hat sich die Bundeswehr von der politischen Diskussion, die in der Gesellschaft lebhaft geführt wurde, abgekoppelt«, bedauert Helmuth Prieß vom »Darmstädter Signal«, einer Vereinigung von 200 kritischen Soldaten.
Der Golfkrieg frischte die Debatte um Krieg und Frieden, Bellizismus und Pazifismus auf. Kanzler Kohl schickte Bundeswehrsoldaten zur Sicherung der türkisch-irakischen Grenze in die Türkei - ohne die Zustimmung des Bundestages dafür einzuholen.
Über Sinn und Zweck ihres Tuns grübeln nicht nur Berufssoldaten. Wehrpflichtige versuchen sich »mit allen erdenklichen Mitteln dem militärischen Dienen zu entziehen«, nahm Oberstleutnant Peter Lemm, Referent für Menschenführung im Führungsstab der Luftwaffe, zu Protokoll. Stecken sie dann in Uniform, fluchen sie auf den stupiden Dienst - besonders freitags im »Koma-Express«, wie die Heimfahrerzüge im Rekrutenjargon wegen der deliriumnahen Sauf-Orgien genannt werden (siehe Kasten Seite 66).
Auch die Reservisten haben »null Bock auf den Bund« (ein Reserveoffizier). Bis zu 60 Prozent der Einberufenen, rechnete der Wehrbeauftragte des Bundestags, Alfred Biehle, vor, fallen aus: »Viele zweifeln an der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Wehrübungen.«
Die von der Bundesregierung eingesetzte »Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr« forderte in ihrer im vergangenen September vorgelegten Studie, »stärker ins öffentliche Bewußtsein« zu rücken, daß »Staat und Gesellschaft ohne die Fähigkeit zur Landesverteidigung und ohne den Willen zur Selbstbehauptung fremden Zwecken ausgeliefert sind«.
Die Mahnung kommt für viele Berufssoldaten zu spät. Die meisten haben längst resigniert. Ältere und höhere Dienstgrade wollen das Personalstärkegesetz in Anspruch nehmen, das ihnen finanzielle Anreize für einen vorzeitigen Abschied von der Truppe bietet.
Wer bleibt, versteckt sich. So beobachtete das Wehrmagazin Loyal in seiner März-Ausgabe den »Schichtbeginn« vor einer norddeutschen Großstadtkaserne und notierte entsetzt: »Fast alle kommen in Zivil.« Das Blatt stellte besorgt die Frage, ob sich die Soldaten schon so weit an den Rand der Gesellschaft gedrängt sähen, »daß sie sich tarnen, wenn sie zum Dienst gehen«.
Ein Führungsstäbler der Marine verrät das gängige Prinzip: »Unten die unauffällige Uniformhose, oben eine ganz normale Wetterjacke - Univil nennen wir das.«
Ein den Traditionen verhafteter Generalstäbler bedauert eine solche »Mentalität wie bei Conti-Gummi. Man kommt morgens, streift den Blaumann über und geht abends wieder«.
Soviel »Bocklosigkeit« (ein Hauptmann) ist kein Wunder. Denn weil sich nicht genügend Soldaten frühpensionieren lassen, können die jüngeren Jahrgänge oft nicht befördert werden. Abiturienten, die vor Jahren Berufssoldat wurden, konnten sicher sein, im Alter von 45 bis 50 Jahren Oberstleutnant zu werden. »Heute dürfen sie sich freuen, wenn der dritte Stern kurz vor der Pensionierung ausgehändigt wird«, sagt Oberst Rolf Wenzel, der als Vorsitzender des Deutschen Bundeswehr-Verbandes die Interessen von 250 000 Soldaten vertritt.
Fern der Öffentlichkeit streiten sich die Theoretiker der Bundeswehr darüber, wie der Frust bewältigt werden könnte. Oberst Horst Prayon, Kommandeur der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation in Waldbröl, glaubt an ein Allheilmittel: »Offenheit. Nichts vertuschen, nichts wegschieben - wir vertreten eine gute Sache und haben nichts zu verbergen.«
Manchmal doch. Mitunter erfahren Soldaten von der bevorstehenden Schließung ihrer Kaserne aus der Lokalzeitung, und auch Kompaniechefs oder Bataillonskommandeure wissen vorher von nichts. Zuweilen versorgt der Informations- und Pressestab der Hardthöhe Soldaten mit Spickzetteln, wenn Journalisten Antwort erteilt werden soll. Soldaten, die während des Golfkriegs in die Türkei geschickt wurden, wurden an einem Dienstag um 13.20 Uhr von ihren Vorgesetzten über den bevorstehenden Einsatz unterrichtet. Um 13 Uhr war die Nachricht schon im Radio verkündet worden - und tags zuvor hatte sie im SPIEGEL gestanden.
Die »gesamte Informationspolitik des Verteidigungsministerium«, sagt Oberst Prayon als Chef der »Marketing-Abteilung« der Bundeswehr, sei »mittelalterlich«. Die Armee mache den Fehler, Entscheidungen erst bekanntzugeben, wenn sie längst gefallen seien. Viel zu selten würden Entwicklungen erläutert oder Einblick in Probleme gewährt.
Für die Probleme der Bundeswehr gibt es einen untrüglichen Indikator: Zahl und Ansehen der Kriegsdienstverweigerer. 151 212 junge Männer, so viele wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte, machten im vergangenen Jahr von ihrem Grundrecht Gebrauch. Beurteilten noch 1980 nur 18 Prozent der Deutschen einen Verweigerer positiv, waren es 1991 bald doppelt so viele: 31 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen.
»Auch für einen General«, erzählt ein Major, »ist es heute etwas Normales, wenn seine alte Mutter von einem Zivildienstleistenden im Rollstuhl durch die Stadt gefahren wird.«
Zudem, haben die Münchner Bundeswehr-Soziologen festgestellt, »driften die militärische und die zivile Welt weit auseinander«. Soldatische Werte wie Opfermut und Mannesehre sind in der Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr gefragt. Die Motivation der Soldaten sei inzwischen bestimmt von einer »privatistischen Lebensplanung«, die dem gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung entspreche.
»Niemand versteht heutzutage mehr, warum 20jährige Soldaten zum Essen geführt werden müssen, warum sie abends um 22 Uhr im Bett zu liegen haben und warum sie ihren Spind nach streng vorgegebenem Muster (auf Pappstreifen gefaltetes Hemd) einräumen sollen«, kritisierte der Wehrbeauftragte Alfred Biehle in seinem Jahresbericht 1991.
Die militärische Führung reagiert auf die gesellschaftliche Herausforderung mit »Einigelei« (ein Führungsstäbler). Meinungsvielfalt wird geringgeschätzt, »die Geschlossenheit des Offizierskorps ist alles«, sagt ein resignierter Obrist.
Ein kritischer Geist wie Helmuth Prieß vom »Darmstädter Signal« wurde drangsaliert und, unter persönlichem Einsatz des damaligen Ministers Gerhard Stoltenberg, sogar degradiert.
Versuche wie die des Koblenzer Zentrums für Innere Führung, die alten Zöpfe abzuschneiden, schlagen immer wieder fehl. Das »Kursbuch 2000« der Bundeswehr-Vordenker, in dem die Abschaffung der antiquierten Spindordnung, der Grußpflicht in den Kasernen und der »schwachsinnigen Antreterei« (ein Dozent) gefordert wird, bleibt auf der Hardthöhe »so lange liegen, bis die Schrift vergilbt«, ärgert sich ein Reformer.
Ob eine Berufsarmee die Lösung aller Probleme wäre, wird zwar in den Kasernen, nicht aber von Politikern entschieden diskutiert.
Sicher ist, daß sich der Dienstleistungsbetrieb Bundeswehr eine Menge einfallen lassen muß, um sein Personal bei der Fahne zu halten. Derzeit mutet die Führung der Truppe allerdings allerhand zu. Zehntausende von Berufs- und Zeitsoldaten, die mangels beruflicher Alternativen nicht schon mit 50 Jahren aus der Bundeswehr ausscheiden wollen, müssen mit Versetzungen rechnen.
Das hat gelegentlich Folgen fürs Familienleben. »Die Truppe kann nur so gut sein, wie es bei den Soldaten zu Hause läuft«, erkannte die neue Parlamentarische Staatssekretärin auf der Hardthöhe, Ingrid Roitzsch, schon am Tag ihres Dienstantritts. Da aber läuft es schlecht: 60 Prozent der verheirateten Soldaten leben bereits heute von ihren Ehefrauen getrennt.
Von der bis 1994 laufenden Versetzungswelle sind 25 000 Offiziere und 87 000 Unteroffiziere allein in den alten Bundesländern betroffen - laut Brigadegeneral Oltmanns ein soziales Konfliktpotential für die Streitkräfte.
Denn die meisten der Unteroffiziere, die sich nach jahrzehntelanger Dienstzeit mit Nettoeinkommen zwischen 2100 (Feldwebel) und 3000 Mark (Hauptfeldwebel) begnügen müssen, sind auf das Gehalt ihrer Ehefrauen, manchmal auch auf einen eigenen Zweitjob angewiesen. Am neuen Standort aber gibt es nur selten einen neuen Arbeitsplatz für die Frauen. Und schon jetzt, wie in Sigmaringen, klingeln Unteroffiziers-Frauen an fremden Türen, um nach einer preiswerten Bleibe zu suchen.
»Wir müssen am Telefon pausenlos Tränen trocknen«, erzählt Oberst Wenzel vom Bundeswehrverband.
Oft erfahren Familienväter erst sechs Wochen vor dem Marschbefehl vom neuen Einsatzort; und oft genug wird ein Unteroffizier von Bayern auf eine Stelle nach Flensburg versetzt, deren Inhaber die freigewordene Dienststelle in Bayern einzunehmen hat. Ein Kompaniechef: »Das treibt allen, die davon erfahren, die Haare durch den Hut.«
So unsicher wie Soldaten über Sinn und Zukunft ihres Berufs, so unsicher sind die Politiker über die künftige Rolle der Deutschen in der Weltpolitik. »Keinesfalls können deutsche Truppen nach draußen in Marsch gesetzt werden, wenn die Heimatfront ihren Einsatz nicht mitträgt«, glaubt der Soziologe Fleckenstein.
Dann wird es wohl nichts mit einer neuen Zweckbestimmung für die deutsche Wehr draußen in der Welt, von der manche Generale und einige Politiker träumen. Eine interne Studie der »Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation« belegt, daß die Mehrheit der Deutschen höchstens den eigenen Staat verteidigt wissen will: *___62 Prozent im Westen und 77 Prozent im Osten lehnen die ____Verteidigung anderer europäischer Länder außerhalb der ____Nato ab. *___53 Prozent im Westen und 59 Prozent im Osten sind gegen ____eine deutsche Beteiligung an Militäraktionen der Uno. *___Einen Einsatz im Rahmen von Uno-Friedenstruppen ____(Blauhelm-Einsatz) befürworten 65 Prozent der ____Bundesbürger.
Im Bundestag gibt es für Blauhelm-Aktionen eine eindeutige Mehrheit. Allerdings scheuen sich die Parteien davor, die Diskussion mit allen Eventualitäten zu führen. Dazu gehört auch, daß Soldaten im Uno-Auftrag bei ihrer Mission umkommen können. Dem früheren Planungschef im Verteidigungsministerium, Hans Rühle, schwant schon jetzt, welche Folgen das Versäumte haben wird. Die Diskussion gehe erst dann los, »wenn die ersten Zinksärge mit toten deutschen Soldaten in der Heimat ankommen«.
* Bei der Panzergrenadierbrigade 7 in Hamburg-Fischbek Mitte April.* Im Januar 1991 in Erhac.