ERZIEHUNG / FRÜHLESER Papa wie Pavian
Der Dreijährige lief zu seiner Mutter, eine Karte mit dem Wort »Pavian« in der Hand, und jubelte: »Fängt genauso an wie Papa«.
Mit solchen Beispielen früher Intelligenz pflegt der Münchner Psychologie-Professor Heinz-Rolf Lückert, 54, seine These zu stützen, daß schon Zweijährige ebenso begierig wie imstande seien, lesen zu lernen, und daß sie ohne eigene Lektüre »kulturell vernachlässigt« seien (SPIEGEL 16/1966).
Seit mehreren Monaten führt Lückert in Eltern- und Fachblättern« im Fernsehen und mit Vorträgen einen Feldzug für das frühe Lesen. Jetzt aber sind andere Experten zur Gegenoffensive übergegangen.
Zahlreiche namhafte Pädagogen, Psychologen und Mediziner bestreiten Lückerts Vision von jubelnden Kindern und strahlenden Müttern. Angeführt werden sie von dem Münchner Professor Philipp Lersch, 69. Der prominente deutsche Psychologe fürchtet, »daß beide, Mutter und Kind, neurotisch werden« könnten.
Die umstrittene Methode wurde aus den USA importiert. Das Buch »How to Teach Your Baby to Read« des amerikanischen Hirnchirurgen Glenn Doman »faszinierte« den Münchner Psychologen Lückert vor vier Jahren. Unter dem Titel »Wie kleine Kinder lesen lernen« brachte er es in Deutschland heraus. Er selber verfaßte eine Lesefibel für Kleinkinder und propagierte Lesekindergärten.
Dank Lückerts Werbung ("Wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, unsere Kinder im Vorschulalter vergammeln zu lassen") wurde das Doman-Buch ein Verkaufserfolg und unterrichtet mittlerweile in der zweiten Auflage (1967) deutsche Eltern, wie sie ihre Kinder mittels Papptaf ein, auf denen rot in »Bild-Zeitungs«-Lettern Worte -- »Mama«, »Papa«, »Hand«, »Finger« -- stehen, das Lesen lehren können. Lückert: »Wenn alle Milchzähne da sind, kann man anfangen.«
Der Münchner Professor fand Verbündete. In Gießen entwickelte der Professor für Pädagogische Psychologie, Werner Correll, 39, eine Leselernmaschine nach USA-Modellen. Correll setzte das Gerät bei 30 vierjährigen Dorfkindern aus der Gießener Umgebung ein. Vom Tonband hört das Kind durch Kopfhörer zum Beispiel: »Dies ist ein Haus«, während synchron auf einem Papierstreifen die Abbildung eines Hauses und daneben das Wort »Haus« erscheint. Der Erfolg bestärkte Correll in seiner Meinung: »Lesen sollte im Kindergarten gelernt werden. Dazu ist die Schule zu schade.«
Auch nach Duisburg griff die Frühschul-Bewegung über. Dort läßt der Schulrat Karlheinz Walter seit Jahresbeginn 13 Kinder zwischen drei und fünf Jahren nach Lückerts Methode in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Die Ergebnisse dieser Kleinkinderschule sollen demnächst dem
* Bei dieser Aufgabe eines Intelligenz-Tests soll das (dreijährige) Kind zwei Hälften einer Karte zusammensetzen.
nordrhein-westfälischen Kultusministerium unterbreitet werden, damit das Duisburger Beispiel im ganzen Bundesland Schule macht.
Die Lese-Pioniere wollen die Kultusministerien auch in den anderen Bundesländern dazu bringen, daß sie -- so Lückert »endlich die längst fällige Reform der Grundschule in Angriff nehmen, flexiblere Bestimmungen für das Schuleintrittsalter erlassen und das obligatorische Vorschuljahr einführen«.
Diese Hoffnungen der Reformer wollen die Gegner des frühen Lernens zunichte machen. Mit Schlagzeilen wie »Rabiate Vertreibung aus dem Kindheitsparadies?« und »Verschüttet nicht das Paradies der Kinder!« veröffentlichen sie ihre Gegenartikel in Tageszeitungen.
Und in einem Sonderheft der Zeitschrift »Unsere Jugend« haben sie alle Argumente gegen die neue Methode gesammelt. Der Schriftleiter Dr. Andreas Mehringer (hauptberuflich Direktor des Münchner Waisenhauses) signalisiert schon im Vorwort: »Es eilt zu sagen: Wir sind dagegen.«
Am härtesten verfährt die einzige Frau aus der Kritiker-Runde, Dr. Ilse Pichottka, mit Lückert. Die Lehrbeauftragte für Kinderpsychologie an der Universität München hält die Frühlese-These für »absurd« und für eine »ungeheure Gefahr«, denn zu früh eingeschulte Kinder versagten später in der Schule »in einem erschreckend hohen Maße«. Und daß Vier- bis Fünfjährige nach der Lückert-Methode Bücher lesen können, erinnert die Kritikerin an den Zirkus: »Es wären noch ganz andere Dinge möglich, dem Kind auf dem Wege der Dressur beizubringen.«
Gegen Lückerts These, Kinder seien »kleine Erwachsene«, die von der Gesellschaft »künstlich klein und dumm« gehalten würden, wehren sich vor allem Mediziner:
Der Starnberger Arzt Dr. Heinz Wolf beklagt, daß »die Eihüllen der kindlichen Seele zu früh« angetastet würden, und malt die Folgen aus: »Neigung zu rheumatischen Erkrankungen, Blutdrucksteigerungen, Nervenleiden und letztlich eine allgemeine Sklerose«, aber auch »Züchtung nüchterner, engherziger und blutleerer Charaktere«.
Der Münchner Kinder-Psychotherapeut Dr. Gerd Biermann fragt: »Soll ... Mutterliebe über eine buchstabengetreu abgelesene »Mutti'-Karte vermittelt werden?« Und: »Fieberhafte Konkurrenzkämpfe werden sich bald auf den Etagen unserer Wohnhäuser abspielen.«
Auch unter Münchens Jugend herrscht noch Unverständnis vor. Urteil eines Abc-Schützen, von der »Süddeutschen Zeitung« befragt: »Wenn i scho vorher ois kannt, waar ja de ganz Schui für d'Katz -- hat da Babba gsagt.«
Lese-Lehrer Lückert errang gleichwohl einen neuen Sieg: Vier Münchner Kindergärten nahmen die von ihm propagierte »vorschulische Frühförderung« in ihr Erziehungsprogramm.