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ZEITGESCHICHTE / PIUS XII. Papst der Deutschen

aus DER SPIEGEL 47/1964

Einen kurzen Augenblick starrte Eugenio Pacelli, Kardinal der Heiligen Römischen Kirche und Staatssekretär der Kurie, auf die Degen der päpstlichen Gardisten, in denen sich das Licht von vier flackernden Kerzen widerspiegelte.

Dann trat er an das Totenbett und tag behutsam die rote Seidendecke vom wächsernen Gesicht des Papstes Pius XI. »Achille!« rief er, getreu dem Protokoll, »Achille!'! Und ein drittes Mal: »Achille!« Er beugte sich nieder und küßte den toten Papst auf die Stirn.

Langsam wandte sich Pacelli um. Er musterte die am Eingang des Sterbezimmers harrenden Kardinäle und verkündete, was jeder schon wußte: »Wahrlich, der Papst ist tot.« Es war am 11. Februar des weltpolitischen Sturmjahres 1939.

Die Kardinäle traten zur Seite und ließen Pacelli passieren, dessen hohe, asketische Gestalt im langen Korridor des dritten Stockwerks der Papstresidenz verschwand. Die Kardinäle blickten stumm dem Staatssekretär nach; erst der Erzbischof von Paris, Kardinal Suhard, unterbrach die Stille.

»Liebe Brüder«, sagte er, »für die Kirche kommen schwere und stürmische Zeiten. Der nächste Papst muß entweder ein Heiliger oder ein Held sein.«

Die 61 Kardinäle der katholischen Weltkirche entschieden sich weder für einen Heiligen noch für einen Helden. Sie wählten einen Diplomaten: den damals 63jährigen Eugenio Pacelli, der am 2. März 1939 als Pius XII. den Thron Petri bestieg.

Pacellis Wahl zum 260. Stellvertreter Christi gefiel den Männern des Dritten Reiches. Einen Tag später legte der Legationsrat Du Moulin seinem Chef, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, eine Denkschrift vor, die erläuterte, warum für Nationalsozialisten Grund zur Freude sei.

»Pacelli wird als sehr deutschfreundlich angesehen«, schrieb Du Moulin. »Seine ausgezeichnete Beherrschung der deutschen Sprache ist allgemein bekannt. Man kann ihm nicht vorwerfen, an der scharfmacherischen Politik von Pius XI. (gegenüber dem NS-Regime) und vor allem an der Vorbereitung der unverhüllt feindseligen Ansprachen dieses Papstes mitgewirkt zu haben.«

Mehr noch: »Er hat sich im Gegenteil

bei mehreren Anlässen darum bemüht, Kompromisse herbeizuführen, und er hat unserer Botschaft gegenüber den Wunsch ausgedrückt, freundschaftliche Beziehungen mit dem Deutschen Reich aufrechtzuerhalten.«

Das Urteil des Ribbentrop-Ratgebers sollte sich rasch bestätigen. Vier Tage nach seiner Wahl sandte Pius XII. einen Brief an Adolf Hitler ("Hochzuehrender Herr"), der nach Auskunft des vatikanischen Chronisten Alberto Giovannetti »in seinem Umfang und den zum Ausdruck kommenden Empfindungen nicht seinesgleichen unter den anderen damals vom Vatikan versandten amtlichen Schreiben« hatte.

Auch im Zweiten Weltkrieg bekundete der Heilige Vater den Deutschen sein Wohlwollen. Der »Papst der Deutschen« (so der italienische Vatikan-Botschafter Pignatti di Custoza) unternahm in der Öffentlichkeit nichts, was den Kriegsanstrengungen des Dritten Reiches schaden und 34 Millionen deutsche Katholiken in Gewissenskonflikte stürzen konnte.

Der Stellvertreter Christi sprach kaum ein deutliches Hirtenwort gegen die Verbrechen der braunen Machthaber. Er drohte (anders als gegenüber den Kommunisten 1949) keinem Nationalsozialisten die Exkommunikation an, und er ließ sich von keinem Appell der westlichen Alliierten bewegen, den Kreuzzug der Demokratien gegen Adolf Hitler zu segnen.

Noch im Niedergang des Dritten Reiches glaubten Ribbentrops Diplomaten, der Gunst des Heiligen Vaters sicher zu sein. Telegramm auf Telegramm verriet das päpstliche Interesse an den Deutschen:

- Am 5. Juli 1943 meldete der deutsche

Botschafter am Vatikan, Freiherr von Weizsäcker: »Der Papst sprach von seinen eigenen Münchner Erfahrungen mit den Kommunisten im Jahre 1919. Das Gespräch ... wurde von Papst ... mit einem Unterton von geistlichem Eifer geführt, der nur bei der Behandlung der Bolschewistenbekämpfung in eine Anerkennung gemeinsamer Interessen mit dem Reich überging.«

- Am 31. Juli 1943 verzeichnete Gesandter von Krug in Paris französische Informationen, wonach »der Papst über die Möglichkeit eines etwaigen Sieges Sowjetrußlands beunruhigt und mit allen Mitteln bestrebt (sei), Frieden zwischen Deutschland und England anzubahnen«.

- Am 3. September berichtete Weizsäcker: »Ein bei der Kurie tätiger Bischof sagte mir heute, nach Ansicht des Papstes sei für die Zukunft der katholischen Kirche ein kräftiges Deutsches Reich ganz unentbehrlich.«

Eben diese Haltung gegenüber dem Dritten Reich aber droht heute den 1958 verstorbenen Pius XII. im Urteil der Nachwelt zu überschatten. Dem 260. Papst sind harte Kritiker erwachsen, die ihm vorwerfen, durch sein Schweigen an den braunen Verbrechen mitschuldig geworden zu sein.

Den Anstoß zu dieser Anti-Pius-Welle gab 1963 der protestantische Fabrikantensohn Rolf Hochhuth, der in seinem Drama »Der Stellvertreter« den Papst anklagte, die Pflicht zur christlichen Nächstenliebe aus Rücksicht auf das Dritte Reich und aus Furcht vor dem Kommunismus vernachlässigt zu haben.

Durch ein offenes Wort, so lautet Hochhuths These, durch einen Appell an das Weltgewissen und durch Drohung mit der Exkommunikation hätte Pius XII. die NS-Deutschen dazu bringen können, den Abtransport von Millionen europäischer Juden in die Vernichtungslager zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Hochhuth: Vielleicht haben niemals zuvor in der Geschichte so viele Menschen die Passivität eines einzigen Politikers mit dem Leben bezahlt.«

Doch der Dichter Hochhuth machte es seinen zahlreichen Gegnern leicht, manche seiner Behauptungen zu widerlegen. Allzuoft erwies sich, daß dem Ankläger historiographisch einwandfreie Unterlagen fehlten, mit denen er seine Thesen belegen konnte.

Seit dieser Woche besitzt die Hochhuth-Partei einen Dokumentaristen, der die Argumente der Papst-Kritiker mit einer Fülle von Akten aus den Geheimarchiven des Dritten Reiches belegen kann: Dr. Saul Friedländer, 32, außerordentlicher Professor für Moderne Geschichte am Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, veröffentlichte in Paris sein mit Spannung erwartetes Buch »Pius XII. und das Dritte Reich« **.

»Die deutschen Dokumente«, urteilt Friedländer mit der Zurückhaltung des Fachhistorikers, »zeigen in zwei Punkten eine eindrucksvolle Übereinstimmung:

- »Auf der einen Seite hat der Papst

anscheinend eine Vorliebe für Deutschland gehabt, an der die Natur des nationalsozialistischen Regimes nichts änderte und die bis 1944 unerschüttert blieb;

- »auf der anderen Seite fürchtete Pius XII. nichts mehr als eine Bolschewisierung Europas und hegte anscheinend die Hoffnung, ein mit den Anglo-Amerikanern gegebenenfalls versöhntes Hitlerdeutschland könnte zum wichtigsten Bollwerk gegen jedes Vordringen der Sowjet -Union nach Westen werden.«

Dokumentenforscher Friedländer hatte lange Zeit gezögert, sich in die Gruppe der Papst-Kritiker einzureihen. Denn der Dokumentarist päpstlicher Mitverantwortung verdankt sein Überleben katholischer Caritas. Friedländer zum SPIEGEL: »Ich war immer paralysiert von meiner eigenen Geschichte.«

Seine Geschichte: Der 1932 in Prag geborene Friedländer floh mit seinen Eltern vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zuerst nach Paris, dann nach Vichy-Frankreich. Als auch dort die Judenverfolgungen begannen, fand er Unterschlupf in einem katholischen Kloster.

Seine Eltern dagegen versuchten, in die Schweiz zu fliehen. Sie wurden jedoch von eidgenössischen Grenzern abgewiesen und fielen französischer Miliz in die Hände, die sie ins Konzentrationslager schleppte.

Nach dem Kriege ließ er sich treiben, bis er den Weg ins akademische Leben fand: 1946 Besuch eines Pariser Gymnasiums, 1948 Abenteurerfahrt nach Israel, Soldat im Palästinakrieg, drei Jahre Sekretär des weltzionistischen Präsidenten Nahum Goldmann, dann Dienst im israelischen Verteidigungsministerium und endlich Arbeit an einer Dissertation ("Hitler und die Vereinigten Staaten"), die ihm einen Lehrauftrag sicherte.

Bei der Vorbereitung zu seiner Doktorarbeit stieß Friedländer auch auf »diese Pius-Sache«. 1962 durchforschte er im Archiv des Bonner Auswärtigen Amtes alte NS-Akten.

»Zufällig war in einen der Aktenbände ein Aktenstück hineingeschoben, das gar nicht dazu gehörte und mit dem Vatikan zu tun hatte«, erzählt Friedländer. Der Doktorand war »schon sehr schockiert«, als er in dem Aktenstück las, Papst Pius XII. bitte die Reichsregierung, die Berliner Oper im Vatikan gastieren zu lassen. Friedländer: »Das war im März 1941. Die Euthanasie war schon ziemlich bekannt, Polen unterdrückt, die Juden in Gettos

- und nun bittet der Papst um ein

Konzert!«

Friedländer ließ sich die anderen Vatikan-Akten der Wilhelmstraße kommen und beschloß, eine Dokumentensammlung herauszugeben und zu kommentieren, die den allzu intimen Kontakt zwischen den Führern des Dritten Reiches und Pius XII. beweisen sollte.

Denn der Historiker hatte in den Archiven Dokumente gefunden, aus denen er folgerte, Hochhuths Kritik reiche nicht tief genug. Sagt Friedländer: »Es sind da ein paar Sachen in den Akten, die Hochhuth nicht sehen und nicht ahnen konnte, weil ihm die Dokumente nicht bekannt waren - Dokumente, die nach meiner Meinung die Stellung des Papstes noch viel schwieriger machen.«

Hochhuth akzeptierte noch, daß deutsche Kleriker, wie die Bischöfe Preysing, Galen und Hudal, im Kampf gegen nationalsozialistisches Unrecht »vieles, ja Großes« bewirkt hatten; Friedländer aber hält die Angaben über diesen Widerstand für »zumindest übertrieben«.

Hochhuth konzedierte noch, daß viele glaubwürdige Berichte über »erfolgreiche Hilfsmaßnahmen der Kirche« gegenüber den Juden vorlägen - Friedländer nennt solche Zeugnisse »widerspruchsvoll« und bestreitet ihren dokumentarischen Wert.

In Saul Friedländer hat sich der Verdacht festgesetzt, Papst Pius XII. gehöre im Grunde gemeinsam mit Regenschirm-Chamberlain zu den schwächlichen Appeasement-Politikern, die um des Friedens willen bereit waren, alle Wünsche Hitlers zu erfüllen: »Er erblickte keinen anderen Ausweg als eine extreme Versöhnungspolitik gegenüber dem Reich.« Noch in der letzten Kriegsphase, so behauptet Friedländer, habe der Papst das Hitler-Reich konservieren wollen.

Nun ist in der Tat unbestreitbar, daß Eugenio Pacelli wie kein zweiter Papst in der Neuzeit die Deutschen mochte. Er war Nuntius in München und Berlin gewesen, und seither gab er deutschen Geistlichen und deutschen Methoden den Vorzug.

»Über zwölf Jahre, die besten Unseres reifen Lebens«, erinnerte er sich 1945, »haben Wir inmitten des deutschen Volkes zugebracht. So hatten Wir die Möglichkeit, die großen Eigenschaften dieses Volkes kennenzulernen.«

Deutsch war sein Arbeitsstil, deutsch seine Genauigkeit und Pedanterie, deutsch seine Autoritätssucht. Er brach mit der Tradition, die vorschrieb, nur italienische Kleriker sollten die engsten Ratgeber des Papstes sein. An die Stelle der Italiener rückten die Deutschen.

Als der deutsch-italienische Schriftsteller Corrado Pallenberg den Vatikan besuchte, fand er, der Pontifex maximus lebe »auf einer deutschen Insel«. Vom Stieglitz »Gretel« bis zu den Köchinnen des päpstlichen Haushalts

nur Deutsche durften den Heiligen Vater in seinen einsamen Stunden umgeben.

Deutsch war auch sein Privatsekretär, der aus Baden stammende Jesuitenpater Robert Leiber. Ein anderer Deutscher - der heutige Kardinal Bea - diente als Beichtvater des Papstes. Pater Hentrich erledigte für Pius XII. Forschungsarbeiten in der vatikanischen Bibliothek. Ein junger Monsignore namens Bruno Wüstenberg (er gab die deutschen Reden des Papstes heraus) saß auf einem wichtigen Posten des Staatssekretariats, und der ehemalige Vorsitzende der deutschen Zentrumspartei, Prälat Ludwig Kaas, bekleidete ein Amt, das dem eines Wirtschaftsministers der Kurie gleichkam.

Einfluß übte schließlich auch »la Papessa« aus, »die Päpstin«, wie pietätlose Spötter die Ordensschwester Pasqualina (Josepha) Lehnert aus dem bayrischen Ebersbach nannten. Die Franziskanerin leitete den Haushalt des Heiligen Vaters, wachte über seine Gesundheit, regelte Audienzen, warf ein Auge auf die Garde und stand dem Päpstlichen Hilfswerk für Deutschland vor.

Ungezählt sind die Legenden, die sich um die rundliche Bayerin rankten. Die Fama behauptete sogar, sie sei die einzige Frau in der Geschichte des Papsttums gewesen, die jemals in ein Konklave eingedrungen sei, jenem von der Außenwelt abgeschlossenen Raum, in dem die Kardinäle den neuen Papst wählen: Bei der Papstwahl von 1939 sei der Schwester Pasqualina erlaubt worden, bei dem Kardinal Pacelli zu bleiben, um ihm die für seine schwache Gesundheit notwendigen Medikamente reichen zu können.

Amerikas Außenminister John Foster Dulles erzählte einmal, er habe bei einem Rom-Besuch mit dem Papst in dessen Arbeitszimmer verhandelt, als eine dicke Person in den Raum gestapft sei und gemeldet habe: »Heiliger Vater, Sie müssen essen!« Darauf Pius XII.: »Ganz recht, Schwester Pasqualina, ich lasse die Suppe nicht kalt werden.«

Der Papst wollte offenbar das Gespräch mit Dulles fortführen, doch die Schwester rührte sich nicht von der Stelle. Da kapitulierte der Pontifex: »Keine Macht der Erde könnte unsere gute Schwester Pasqualina dazu bewegen, auch nur einen Schritt zu tun, wenn die Suppe auf dem Tisch steht.«

Heute will freilich des Papstes deutscher Privatsekretär der Germanophilie seines Herrn keine sonderliche Bedeutung mehr beimessen. Pater Leiber zum SPIEGEL: »Das ist alles dummes Zeug. Pius XII. hat alle Nationen geliebt. Aber wenn er sich zu einer Nation innerlich besonders hingezogen fühlte, dann zur französischen.«

Wie immer die deutschen Sympathien des Papstes bewertet werden mögen - sie erklären nur zu einem Teil seine Einstellung zum Dritten Reich. Deutschfreundlichkeit war nicht die wichtigste Komponente seines Wesens. Erst Pacellis Glaube an die klassische Diplomatie, an die Friedensmission der Kurie macht seine Position verständlich.

Denn Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli, am 2. März 1876 in einem römischen Patrizierhaus geboren, war aufgewachsen in der großen Tradition einer Diplomatie, die am Sitz des Papstes den Vorrang vor der Seelsorge beanspruchte. Diplomatie hieß der Schlüssel seines Lebens, Diplomatie war ihm zweite Natur.

Seit dem Ende des Kirchenstaates (1870), dem Untergang der weltlichen Macht des Papsttums, entwickelte sich die Diplomatie als die Zauberwaffe, mit der sich der machtlose Pontifex in der Staatenwelt Gehör verschaffte.

Die päpstliche Diplomatie sollte der katholischen Kirche in allen Ländern und Regimen mittels Abschluß von Konkordaten und kleinen politischen Gefälligkeiten die Freiheit der Seelsorge sichern - und zu diesem Zweck verbeugte sich die Kuriendiplomatie vor jeglicher Gewalt, mit Ausnahme der »Sünde«, die freilich im zwischenstaatlichen Bereich undefiniert blieb.

Die Kurie, so erklärte Papst Pius X. am 9. November 1903, müsse immer bereit sein, »mit den Herrschern der Staaten und den Lenkern der Republiken Beziehungen aufzunehmen, denn bei einem Fehlen solcher Beziehungen würde der Papst nicht in der Lage sein, den Katholiken allerorten Sicherheit und Freiheit zu garantieren«.

Zu diesem heiligen Beruf fühlte sich der Patriziersohn Pacelli prädestiniert, dem bis zu seinem Tode das Erlebnis unmittelbarer Seelsorge als Priester und Bischof versagt blieb und der zeitlebens seine Scheu vor Menschenmassen nicht überwinden konnte.

Er entschied sich früh für die diplomatische Laufbahn. Die Eminenzen des Vatikans erkannten schnell, daß dem jungen Priester Pacelli, der sich um die Jahrhundertwende zum Dienst im Staatssekretariat meldete, eine »beneidenswerte Karriere« bevorstand, wie das Vatikan-Organ »Osservatore Romano« schon 1899 prophezeite.

Pacelli wurde Mitglied der wichtigsten Abteilung des Staatssekretariats, der Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten. Er bearbeitete kirchenrechtliche Fragen, gab, das vatikanische Weißbuch zum Schulstreit in Frankreich heraus und lehrte nebenbei Diplomatie an der päpstlichen Accademia dei Nobili Ecclesiastici.

Er stieg die Stufen der Hierarchie immer höher hinauf: 1914 avancierte er zum Sekretär seiner Kongregation und war damit praktisch Unterstaatssekretär des päpstlichen Außenministeriums. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwählte ihn Papst Benedikt XV. zum Exekutor eines ehrgeizigen Plans - den Krieg durch Vermittlung eines Versöhnungsfriedens zu beenden.

Als Italien 1915 seinen Kriegseintritt von einem Nachgeben Österreich -Ungarns abhängig machte, betrat Sonderdiplomat Pacelli zum erstenmal internationales Parkett. Er sollte Kaiser Franz Joseph zu territorialen Konzessionen bewegen - so glaubte Benedikt den Kriegseintritt Italiens verhindern zu können.

Pacellis Mission scheiterte, Italien trat in den Krieg ein. Zwei Jahre später witterte Benedikt XV. eine neue Friedenschance. Wieder rief er Pacelli an die diplomatische Front.

Der Papst ernannte ihn zum neuen Nuntius in München, weihte ihn zum Titular-Bischof und erteilte ihm die Order, in vertraulichen Gesprächen mit den Führern des Reichs die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens zu erkunden. Das Staatssekretariat hatte dazu einen Friedensplan ausgearbeitet, der im wesentlichen die Wiederherstellung der Vorkriegsverhältnisse vorsah. Am 26. Juni 1917 stand Nuntius Pacelli in der Berliner Wilhelmstraße vor Theobald von Bethmann und Hollweg und fragte den

deutschen Kanzler, ob das Reich bereit sei, im Falle von Waffenstillstandsverhandlungen auf Belgien und notfalls sogar auf Elsaß-Lothringen zu verzichten.

Der Kanzler wich einer klaren Antwort aus und verwies den Besucher an seinen kaiserlichen Herren. Drei Tage später stieg der Nuntius die Treppe des Kurhauses von Bad Kreuznach empor, in dem Wilhelm II. sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

Der Kaiser ließ ebenfalls die Antwort offen, notierte sich aber in sein Tagebuch: »Pacelli ist eine vornehme, sympathische und äußerst intelligente Persönlichkeit mit tadellosen Manieren; kurzum ein idealer katholischer Kirchenfürst.«

Wenige Tage später stürzte der Kanzler und machte einem Nachfolger Platz, der ganz den Durchhalteparolen der Generäle folgte. Pacelli zu dem, Zentrumsführer Erzberger: »Alles ist verloren, auch Ihr armes Vaterland.«

Doch der päpstliche Nuntius hatte sich bereits derartig in München eingelebt, daß er den Heiligen Vater bat, ihn in Deutschland zu belassen. Kurz darauf trat ein Ereignis ein, das Pacellis spätere Politik gegenüber Deutschland miterklärt: die kurzlebige Kommunisten-Herrschaft in Bayern.

»Ich bin einer der wenigen nichtdeutschen Augenzeugen des bolschewistischen Regimes, das München im April 1919 beherrschte«, sagte er einmal. »Echte Russen standen an der Spitze dieser Räteregierung. Jeder Gedanke des Rechts, der Freiheit, der Demokratie wurde unterdrückt.«

Eines Tages drangen bewaffnete Rotgardisten in die Münchner Nuntiatur ein und begannen zu plündern. Da stellte Pacelli sich ihnen entgegen. Der Anführer des Rollkommandos sprang vor und schlug mit einer Pistole gegen das glitzernde Christuskreuz auf Pacellis Brust. Einen Augenblick schwiegen die beiden Parteien, dann zogen die Rotgardisten ab.

Pacelli konnte lange Zeit den Zusammenstoß in der Briennerstraße nicht vergessen. Das vom Pistolenschlag arg ramponierte Kreuz bewahrte er auf und schenkte es dann einem Freund, der - kein Zufall - zu den schärfsten Antikommunisten des katholischen Weltklerus zählt: dem New Yorker Kardinal Francis Spellman.

Pacelli wurde später auch zum Nuntius in Berlin ernannt, 1925 zog er um. Im Haus der Berliner Rauchstraße 21, der Nuntiatur, zeigte Pacelli, daß er »der bestinformierte Diplomat in Deutschland« war, wie ihn die amerikanische Kolumnistin Dorothy Thompson nannte.

Es gab keinen prominenten Politiker des Reichs, den der Nuntius nicht in seinem Haus empfangen hätte. Von Ebert bis Hindenburg, von Stresemann bis Papen - jeder glaubte es seinem Prestige schuldig zu sein, von dem klugweltmännischen Delegaten aus Rom bewirtet zu werden.

Und noch nie hatte sich ein fremder Diplomat so nuanciert der deutschen Sprache bedient. Er redete von der »Gemütstiefe der Schwarzwälder, dem auf Werk und Tat gerichteten Sinn der Bewohner des badischen Industriegebietes«, er grüßte »bewegten Herzens das ganze bayrische Volk, in dessen Mitte mir In den vergangenen Jahren eine zweite Heimat geworden ist«, und er sprach beim Empfang eines Geschenks von einem »kostbaren Andenken an das liebgewordene Berlin«.

Als Pacelli, 1929 zum Kardinal und kurz darauf zum Staatssekretär ernannt, Berlin verließ, konnte er auf eine erfolgreiche Mission zurückblicken: Er hatte im Kernland Europas dem Papsttum zu Macht und Ansehen verholfen, er hatte Konkordatsverträge mit Bayern und Preußen abgeschlossen.

Nur ein Schatten fiel auf seine Mission: Ihm war nicht gelungen, ein Konkordat mit dem Reich auszuhandeln.

Auch der Kardinal-Staatssekretär Pacelli ließ das ersehnte Reichskonkordat nicht aus den Augen. Immer wieder peinigte ihn die Sorge, die deutschen Länderkonkordate könnten der vor allem von den hochkommenden Nazis erstrebten zentralistischen Reichsreform zum Opfer fallen.

Da tauchte am 25. März 1933 in Rom ein Pacelli-Freund auf, der ein Zaubermittel wußte: Prälat Ludwig Kaas, Vorsitzender der deutschen Zentrumspartei und ehedem politischer Berater des Berliner Nuntius, meldete dem Kardinal, er habe namens seiner Partei dem von Adolf Hitler geforderten Ermächtigungsgesetz nur unter der Bedingung zugestimmt, daß Deutschlands neue braune Herren ein Reichskonkordat abschlössen; Hitler habe eingewilligt.

Einen Augenblick lang überlegte Pacelli, ob der Heilige Stuhl mit den nationalsozialistischen Kirchenfeinden paktieren könne. Er wußte, wie die Nazis zu den Fragen der Religion standen.

Von Anfang an hatte er die nationalsozialistische Bewegung beobachtet, hatte ihre Literatur gelesen. Als Nuntius in München war er wiederholt zu Kundgebungen der NS-Partei erschienen-Doch lange Zeit hindurch hatte er nicht an die Durchschlagskraft der Bewegung geglaubt. Nach dem Münchner Putsch von 1923 hielt er Hitler für erledigt.

Als ihn später der amerikanische Diplomat Robert Murphy, der in Pacellis Münchner Zeit Vizekonsul gewesen war, daran erinnerte, auch er, Pacelli, habe sich in Hitler getäuscht, lächelte Pius XII.: »Ach, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen - päpstliche Unfehlbarkeit. Aber vergessen Sie nicht, daß ich damals erst Monsignore war.«

Nicht nur der Monsignore Pacelli, auch der Staatssekretär Pacelli gab sich Illusionen hin. Er glaubte 1933, der Nazi-Spuk werde nicht lange dauern; deshalb sei es durchaus vertretbar, mit Hitler zu verhandeln. Denn: Die Hitler kamen und gingen, das Reichskonkordat aber würde bleiben.

Freilich, Hitler verlangte für das Konkordat einen harten Preis: die Liquidierung der katholischen Parteien. Kaltblütig ließen Pacelli und Kaas die Zentrums- und die Bayerische Volkspartei fallen, die ohnehin schon von der braunen Gleichschaltungsmaschine bedroht waren. Auch Deutschlands katholische Bischöfe hatten ihren Gläubigen schon geraten, sich gegenüber dem neuen Regime loyal zu verhalten.

Als die Zentrumsführer zögerten, wurde Prälat Kaas ärgerlich. Er telephonierte mit seinen Parteifreunden und fuhr sie an: »Habt ihr euch noch nicht aufgelöst?« Der ehemalige Zentrumskanzler Brüning zürnte: »Pacelli schwebt ein autoritärer Staat und eine autoritäre, von der vatikanischen Bürokratie geleitete Kirche vor.«

Am 20. Juli 1933 gegen 12 Uhr unterzeichneten Pacelli und Hitlers Vizekanzler Franz von Papen mit antik stilisierten Federkielen das Reichskonkordat. Hitler jubelte: »Dieses Reichskonkordat, dessen Inhalt mich überhaupt nicht interessiert, schafft uns eine Vertrauenssphäre.«

Der Kardinal Pacelli aber hielt seinen Kritikern entgegen: »Es ist leicht, einen Kirchenkampf zu beginnen, jedoch sehr schwer, ihn durchzustehen.« Dem britischen Gesandten Osborne bekannte Pacelli im August 1933, er habe wählen müssen zwischen Hitlers Konkordatstext und »der Vernichtung der katholischen Kirche im Reich«.

Just an dieser Stelle aber setzt nun der Dokumentenforscher Saul Friedländer mit seiner Kritik ein. Der Abschluß des Reichskonkordats erscheint dem Genfer Historiker als Beginn einer knieweichen Appeasement-Politik, die den Kardinal Pacelli und seit 1939 den Papst Pius XII. in immer gefährlichere Nähe der braunen Gewaltpolitik gebracht habe.

»Als die Beziehungen zwischen Kirche und nationalsozialistischern Regime gespannter wurden, blieb die Haltung des Staatssekretärs immer nachgiebiger als die Pius' XI.«, urteilt Friedländer.

Immer habe Pacelli die weichste Methode angewandt: Er habe, »wahrscheinlich ohne es zu wollen«, zugunsten der Nazis in den Wahlkampf an der Saar eingegriffen, die antinazistischen Erklärungen des Papstes Pius XI. verharmlost und mäßigend im Sinne des NS -Regimes gewirkt. Auch als Papst sei er nicht bereit gewesen, mehr als laue Proteste und unverbindliche Ermahnungen mit seinem Namen zu decken.

Friedländer kann diese These jedoch nicht in allen Punkten belegen. Zwar weiß der Genfer Historiker mit AA -Dokumenten, an deren Echtheit nicht gezweifelt werden kann, die ambivalente Politik Pacellis zu illustrieren, aber gelegentlich unterlaufen ihm irritierende Flüchtigkeitsfehler.

Als der Chicagoer Kardinal Mundelein 1937 mit seiner Erklärung, das deutsche Volk stehe »in Furcht und Knechtschaft voreinemAusländer, einem österreichischen Tapezierer und dazu noch einem schlechten«, eine Krise zwischen Reich und Kurie heraufbeschwört, läßt Friedländer durch seine Dokumenten -Auswahl durchblicken, der Staatssekretär des Papstes sei erneut auf dem Rückzug vor den Nazis.

Friedländer legt den Bericht des deutschen Vatikan-Botschafters Diego von Bergen vom 23. Juli 1937 vor, in dem es heißt: »Die Erklärungen, die der Kardinal-Staatssekretär bei meinen Besuch am 16. d. M. abgegeben hat, stehen der Haltung des Papstes auf erstaunliche Weise entgegen. Pacelli ... versicherte mir mit Nachdruck, daß die Beziehungen zu uns so schnell wie möglich wieder normal und freundschaftlich werden sollten.«

Der Genfer Dokumentensammler erwähnt nicht, daß Pacelli den ersten deutschen Protest wegen der Mundelein-Rede mit kaum zu überbietender Schärfe zurückgewiesen hatte.

Pacelli zum deutschen Botschafter: »Was hat die deutsche Regierung getan, was gedenkt sie in Zukunft zu tun gegen die niederträchtigen Beschimpfungen und Verächtlichmachungen, gegen die schmachvollen Verleumdungen, die Tag für Tag in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften, wie in Reden auch prominenter Persönlichkeiten, erfolgen gegen Kirchen, kirchliche Einrichtungen, Papst, Kardinäle, Bischöfe Priester usw.?«

Der Ausfall Pacellis steht im Bericht des Botschafters von Bergen vom 25. Mai 1937, den Friedländer ebenso außer acht läßt wie andere relevante Dokumente:

- den Bergen-Bericht vom 7. Juli 1937, wonach die Stimmung des Vatikans, besonders des Staatssekretärs, »gereizter denn je« sei;

- die Forderung des Reichskirchenministers Kerrl, den »diplomatischen Geschäftsverkehr« mit der Kurie zu unterbrechen;

- ein Schreiben des Reichsaußenministers von Neurath vom 13. August 1937, Kontakte mit Pacelli seien so lange »abwegig, als nicht seitens des Heiligen Stuhles eine uns befriedigende Regelung des Falls Mundelein erfolgt ist«.

Gelegentlich kann Friedländer sich auch nicht schlüssig werden, wieweit vatikanische Erklärungen und Dokumente die deutschen Akten korrigieren**. Das zeigt sich an den Berichten über die Begegnung zwischen Hitlers Außenminister Ribbentrop und dem inzwischen zum Papst gekürten Pacelli am 11. März 1940.

Friedländer zitiert Ribbentrops Bericht über diese Zusammenkunft und glaubt folgern zu dürfen: »Die Unterhaltung verlief in einer herzlichen Atmosphäre; der Papst versteifte sich nicht auf die konkreten Beschwerden des Heiligen Stuhls gegenüber dem Reich.«

Der Historiker berücksichtigt dabei nicht, was der vatikanische Archiv -Experte Alberto Giovannetti berichtet: »Pius XII. seinerseits hatte es für seine Pflicht gehalten, mit dem Minister außer über die im Reich vor sich gehende religiöse Verfolgung auch über die tragische polnische Lage zu sprechen.«

Der Papst begnügte sich nicht mit allgemeinen Bemerkungen. Er ließ Ribbentrop ein Memorandum zustellen, dessen Titel genug sagt: »Hauptpunkte bezüglich der Leiden der katholischen Kirche in Deutschland, die Seine Heiligkeit mitteilt und der besonderen Aufmerksamkeit Sr. Exzellenz des Herrn Joachim von Ribbentrop, Außenminister des Reiches, empfiehlt.«

Aus dem Memorandum: »... die katholischen Bekenntnisschulen unterdrückt, Religionsunterricht verringert ... jede Form religiöser Erziehung in der Gemeinschaftsschule zu unterdrücken ... viele Knabenseminare geschlossen ... katholische Studienanstalten und Konvikte wurden unterdrückt«.

Wie herzlich die Atmosphäre des Ribbentrop-Besuches war, illustriert ein vatikanisches Protokoll über Ribbentrops Unterredung mit dem Kardinal -Staatssekretär Maglione, das Friedländer unbeachtet läßt:

Ribbentrop: »Auch in Polen haben die Geistlichen nichts als Politik betrieben und tun es noch und sind den Deutschen feindlich gesinnt.«

Maglione: »Man kann den polnischen Geistlichen empfehlen, ruhig zu bleiben und einzig an die Seelsorge zu denken, aber man kann nicht von ihnen verlangen, daß sie auf Vaterlandsliebe verzichten. Der Heilige Stuhl kann nur mit Hilfe von örtlicher Inaugenscheinnahme die Meldungen entgegennehmen, die ihm oft bezüglich der besetzten Gebiete von der hiesigen Deutschen Botschaft geliefert werden, und er kann sie um so weniger veröffentlichen, als ihm keine eigenen Kontrollmittel zur Verfügung stehen.«

Ribbentrop: »Aber Polen steht unter Militärregierung. Diplomaten und Konsuln sind dort unmöglich.«

Maglione: »Der Abgesandte des Heiligen Stuhls würde nicht eine diplomatische, sondern eine religiöse Sendung erfüllen.«

Ribbentrop: »Aber wie kann man in einem besetzten und von Militärs regierten Gebiet ein ...«

Maglione: »... einen Vertreter des Heiligen Stuhles haben? Ew. Exzellenz wollen sich daran erinnern, daß während der Besetzung von Ruhr und Saar gerade auf Bitten der deutschen Regierung der Heilige Stuhl gern damit einverstanden war, daß in jenen Gegenden ein von ihm bestellter Abgesandter anwesend war.«

Dieses Protokoll offenbart mehr als alle Verteidigungsreden für Pius XII. dessen Taktik gegenüber dem Dritten Reich: Der Meisterdiplomat auf dem Thron Petri glaubte, mit den klassischen Mitteln seines Metiers der katholischen Kirche und nur ihr allein in Hitlers Europa ein Mindestmaß an Freiheit sichern zu können.

Der Mann, der als Kardinal-Staatssekretär 55 Protestnoten an die Wilhelmstraße adressiert hatte, setzte kein Vertrauen mehr in papierene Proteste. Pius XII. im Frühsommer 1939: »Die Erfahrung von neun Jahren lehrt, daß den totalitären Regierungen gegenüber das System öffentlicher Kritik mehr schadet als nützt.«

Gewiß, er verurteilte in der ihm eigenen Filigransprache mit allgemeinsten Wendungen die Naziverbrechen. Niemals aber nannte er dabei das Dritte Reich öffentlich beim Namen, und protestierte er, dann nur, wenn Katholiken betroffen waren.

Hitlers Kriegsmaschine rollte über das protestantische Dänemark und das protestantische Norwegen hinweg - der Papst schwieg. Hitler ließ seine Ausrottungsbataillone in Polen ausschwärmen - der Papst protestierte. 600 000 Serben fielen dem katholischen Ustascha -Regime in Kroatien zum Opfer - der Papst schwieg.

Wenn es um katholische Länder ging, kannte die Tatkraft des Heiligen Vaters keine Grenzen. Als er von seinen Freunden in der deutschen Widerstandsbewegung erfuhr, Hitlers Westoffensive werde in wenigen Tagen losbrechen, bestellte er für den 6. Mai 1940 das italienische Kronprinzenpaar zur Audienz und deutete die deutschen Pläne an. Die Kronprinzessin und spätere Königin Marie-José verstand: Sie benachrichtigte sofort ihren Bruder, Belgiens König Leopold III.

Auch für Polen trat Pius XII. immer wieder ein. Als Nuntius Orsenigo am 15. März 1943 eine vatikanische Protestnote gegen die deutsche Polen-Politik überreichte, gab ihm Freiherr von Weizsäcker, damals noch Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, das bereits entgegengenommene Schreiben wieder zurück, weil die Reichsregierung wiederholt erklärt habe, das Reichskonkordat gelte nicht für die besetzten Gebiete - der Vatikan sei daher nicht zuständig.

Er könne das Schreiben, so zeichnete Weizsäcker für die Akten auf, nicht an den Reichsaußenminister weiterleiten, sondern bäte den Nuntius vielmehr, den Brief wieder mitzunehmen: »Der Nuntius war durch meine Eröffnungen sehr geniert. Er glaubte, die Wiederannahme des Briefes würde für ihn eine persönliche Niederlage bedeuten, die man ihm in Rom sehr übelnehmen wurde«.

Angesichts der Klagen Orsenigos zeigte der Staatssekretär Großmut: »Was ich ihm jetzt nahelege, sei nichts anderes als die stille Rücknahme des Dokuments, das damit nichtexistent werde, und nach außen hin erfahre niemand davon.«

Nichts ließ Pius unversucht, um das katholische Italien aus dem Krieg, herauszuhalten. Unermüdlich warnte er Mussolinis Diplomaten vor der Abenteuerpolitik Hitlers und stachelte König Viktor Emanuel zu größerem Widerstand gegen die Deutschen auf.

Doch bald zeigte sich, daß mit Diplomatie allein den Schrecknissen des Hitler-Krieges nicht zu begegnen war. Pius XII. sah sich jählings einer Entscheidung konfrontiert, die das Prestige der Kirche arg aufs Spiel setzte.

Am 8. August 1942 gab Gerhardt Riegner, Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, ein Telegramm nach New York auf: »Alarmierenden Bericht erhalten, wonach im Stab des Führers Plan diskutiert worden ist, der sofortige Ausrottung aller Juden in den deutschbesetzten Ländern ... vorsieht.«

Hitlers Endlösung der Judenfrage verlangte dem Heiligen Vater eine moralische, keine diplomatische Entscheidung ab. Denn: Auf dem Thron Petri saß nicht nur ein Diplomat, hier stand der Mann, der den Anspruch erhob, Stellvertreter Christi, zu sein, an der Spitze einer Kirche, die verheißen hatte, das christliche Sittengesetz auch an den dunkelsten Erdenflecken zu tragen. Und er bekannte sich selber dazu:

Am 24. Dezember 1939: »Wir fühlen Uns Unserem Amte wie auch Unserer Zeit gegenüber zu nichts mehr verpflichtet als dazu, mit apostolischer Festigkeit Zeugnis abzulegen für die Wahrheit: testimonium perhibere veritati. Diese Pflicht schließt notwendig die Bloßstellung und Widerlegung von Irrtümern und menschlichen Fehlern in sich.«

Am 24. Dezember 1941: »Wie ein Leuchtturm muß es (das christliche Sittengesetz) mit den Strahlen seiner Prinzipien das Wirken der Menschen und der Staaten lenken, die seine mahnenden, heilsamen und nutzbringenden Anweisungen zu befolgen haben.«

Die Papst-Verteidiger gaben später an, der Vatikan habe das wahre Ausmaß der jüdischen Tragödie nicht gekannt. Noch im Januar 1943 gab Pius XII. dem amerikanischen Geschäftsträger Harold H. Tittmann zu verstehen, die Berichte der Alliierten über die braunen Judengreuel seien wohl »zu Propagandazwecken etwas übertrieben«. Selbst der jüdische Kundschafter Riegner hatte seine Meldung noch »unter allem Vorbehalt« durchgegeben.

Dennoch mußte der Vatikan informiert sein, denn in seinem Geheimarchiv lagen die vertraulichen Berichte der an Judenrettungen beteiligten Kuriendiplomaten:

- Ende Juli 1942 teilte der päpstliche Nuntius in Preßburg dem slowakischen Präsidenten Tiso mit, die nach Polen deportierten Juden aus der Slowakei würden nicht (wie die Deutschen behaupteten) in Gettos angesiedelt, sondern ermordet werden;

Tiso stoppte den Todesmarsch der slowakischen Juden.

- Ebenso intervenierte der Nuntius in Bukarest bei der rumänischen Regierung. Dazu der rumänische Großrabbiner Saffran: »Seine Vermittlung bewahrte uns vor der Katastrophe.«

- Im Sommer 1943 verhandelte der Bankier Angelo Donati mit Pius XII. über eine Rettung der 50 000 Juden im italienisch-besetzten Südfrankreich. Der Papst stimmte zu, doch der Sturz Mussolinis machte den Plan zunichte.

- Ein Jahr später, am 25. Juni 1944, griff sogar der Papst persönlich in die Judenfrage ein. Er schickte Ungarns Reichsverweser Horthy eine freilich höchst vorsichtig formulierte Botschaft des Protestes - die ungarische Judenvernichtung wurde unterbrochen.

Bis vor die Mauern des Vatikans drang die Judenverfolgung, als deutsche SS-Männer in der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 1943 in Rom über tausend Juden verhafteten und nach Auschwitz verschleppten.

Gespannt warteten die Männer des Dritten Reiches auf die Reaktion des Papstes. Am 17. Oktober meldete Botschafter von Weizsäcker nach Berlin: »Die Kurie ist besonders betroffen, da sich der Vorgang sozusagen unter den Fenstern des Papstes abgespielt hat. Uns feindlich gesinnte Kreise in Rom machen sich den Vorgang zu Nutze, um den Vatikan aus seiner Reserve herauszudrängen.«

Neun Tage später wußte Weizsäcker bereits, wie das Ringen im Vatikan ausgegangen war: »Der Papst hat sich, obwohl dem Vernehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden aus Rom hinreißen lassen. Er hat auch in dieser heiklen Frage alles getan, um das Verhältnis zu der Deutschen Regierung ... nicht zu belasten.«

In Eugenio Pacelli hatte der Diplomat über den Heiligen Vater triumphiert. Die in jahrzehntelangem Diplomatendienst erworbene Skepsis überschattete alle seine Überlegungen: Pius XII. konnte sich nicht vorstellen, daß ein öffentlicher Protest, gar ein Bannfluch gegen die braunen Machthaber den Judentod verhindern könnten.

An ihm nagte der Zweifel, ob nicht ein Bannfluch gegen Hitler viele deutsche Katholiken in den Ungehorsam wider die Kirche treiben werde. Zwölf Jahre lang hatte er dem deutschen Katholizismus ins Herz geschaut. Er wußte Bescheid: Eher würden die Deutschen von der Kirche abfallen, als daß sie sich gegen den Staat erhöben - Bismarcks Kulturkampf war unvergessen.

Als der Berliner Korrespondent des »Osservatore Romano«, Dr. Edoardo Senatro, den Papst fragte, ob man nicht protestieren müsse, erwiderte Pius XII.: »Lieber Freund, vergessen Sie nicht, daß in den deutschen Heeren Millionen Katholiken sind. Soll ich sie in Gewissenskonflikte bringen? Sie haben geschworen. Sie müssen gehorsam sein.«

Und auf ihren Gehorsam baute der Stellvertreter Christi um so mehr, als er

im Osten eine riesige Gefahr heraufdämmern sah, gegen die seiner Meinung nach nur ein starkes Deutschland helfen konnte: die Sowjet-Union.

»Tatsache ist, daß die Kirche sich heute beunruhigt fühlt, für sie ist und bleibt der Kommunismus der Erzfeind, innenpolitisch und außenpolitisch«, notierte Weizsäcker am 4. August 1943 für die Wilhelmstraße. Fast zur gleichen Zeit registrierte die Deutsche Botschaft in Paris »in den Kreisen des Vatikans eine stärkere Neigung ... die Achsenmächte und die Anglo-Amerikaner einer Annäherung zum Kampf gegen den Bolschewismus entgegenzuführen«.

Friedländer sammelte genügend Aktenmaterial, um seine These belegen zu können, Pius XII. habe seit Stalingrad mit allen Mitteln an einem Sonderfrieden zwischen Deutschland und den westlichen Alliierten gearbeitet. Aus der Fülle der Dokumente:

- »Sie (die Kurie) wünscht den Frieden; sie möchte, daß er von Mäßigung diktiert wäre, und sie würde gern dabei guten Dienst leisten.« (Weizsäcker, 27. Juli 1943.)

- »Erzbischof von Paris, Kardinal Suhard, hat Wunsch ausgesprochen, Papst aufzusuchen, um ihm vorzutragen, daß die deutsche Armee und Kirche einzig möglicher Pfeiler sei, um Europa vor Kommunismus zu schützen. Es müsse daher alles getan werden, um deutscher Armee im Osten zum Siege zu verhelfen.« (Gesandter von Krug, Paris, 18. August 1943.)

- »Maglione sagt, das Schicksal Europas hänge von dem siegreichen Widerstand Deutschlands an der russischen Front ab. Das deutsche Heer sei das einzig mögliche Bollwerk 'Baluardo' gegen den Bolschewismus.« (Weizsäcker, September 1943.)

- »Der Nuntius hat dann von sich aus erklärt, daß seiner Auffassung nach nur Deutschland und der Vatikan, ersteres auf materiellem, letzterer auf geistigem Gebiet in der Lage seien, gegen die bolschewistische Gefahr anzugehen.« (AA-Aufzeichnung über ein Gespräch mit Nuntius Orsenigo, 24. September 1943.)

Immer mehr verdichteten sich die in der Wilhelmstraße einlaufenden Berichte zu einem Wunschbild vatikanischer Europapolitik, das Friedländer mit Recht sensationell findet. Der Vatikan plante - fast ähnlich wie manche Naziführer knapp zwei Jahre später in der Götterdämmerung des Dritten Reiches - einen radikalen Umsturz der Bündnisse.

Zur gleichen Zeit, da die dritte deutsche Sommeroffensive in Rußland zusammenbrach, klammerten sich die Eminenzen der Kurie an den Glauben, allein die deutsche Armee könne Europa vor der russischen Dampfwalze bewahren.

Ende August 1943 entsandte der Papst den ihm nahestehenden Architekten Enrico Pietro Galeazzi nach New York mit dem Auftrag, über den Kardinal Spellman bei der amerikanischen Regierung wegen eines Sonderfriedens vorzufühlen.

Ribbentrops Diplomaten meldeten sogar schon, wie der Sonderfrieden aussehen sollte. Gesandter von Krug notierte, der Vatikan sei »zur Zeit bestrebt, nicht nur Waffenstillstand, sondern einen Frieden zwischen Angelsachsen und Italien herbeizuführen. Voraussetzung wäre Nichtbesetzung Italiens durch die Angelsachsen und freier Abzug deutscher Truppen. Derartiger Friede soll erster Schritt zu Einigung Angelsachsen mit den Deutschen werden, um europäisch-amerikanisch-christliche Einheitsfront gegen Asien zu schaffen«.

Friedländers Dokumentensammlung hat nur eine Lücke: Kein diplomatisches Aktenstück stützt seine Vermutung, der Vatikan habe das Hitler-Reich konservieren wollen.

Tatsächlich arbeitete Pius XII. seit Kriegsbeginn mit deutschen Widerstandsgruppen zusammen. Der katholische Anwalt Josef ("Ochsensepp") Müller, Offizier der Abwehr und später CSU-Star, bahnte im Oktober 1939 Kontakte zum Vatikan an und weihte den Papst in Staatsstreichpläne gegen Hitler ein.

Die Kuriendiplomaten vermittelten sogar eine Verbindung zu dem britischen Vatikan-Gesandten Osborne und dem Foreign Office. Das Londoner Kabinett und die Verschwörer einigten sich auf einen Aktionsplan: Beseitigung des NS-Regimes, kein Angriff an der Westfront, Revision der deutschen Ostgrenze auf Kosten Polens. Doch die deutschen Generäle weigerten sich, das Unternehmen zu unterstützen.

Der Kontakt des Vatikans zu den Männern des 20. Juli 1944 riß nicht mehr ab. Einer von ihnen, Ulrich von Hassell, notierte sich: »Interessant ein langes Gespräch Schulenburgs mit dem Papst. Pacelli liebe ohne Zweifel auch heute Deutschland und wünsche seine Erhaltung als starke sittliche Macht. Natürlich nicht in der jetzigen Form.«

Über den spanischen Pater Conrado Simonsen, einen Vertrauensmann der Kurie, war der Vatikan auch an Geheimverhandlungen zwischen Beauftragten des US-Nachrichtendienstes OSS und Deutschen beteiligt, die das Ziel hatten, Hitler mit Hilfe der SS in ein alliiertes Land zu entführen.

Die Anregung zu diesen Gesprächen kam von dem Auslandschef des Sicherheitsdienstes. Walter Schellenberg. Die Verhandlungen führte in Madrid und Lissabon der im spanischen Hochadel wohlgelittene Prinz Max Egon zu Hohenlohe. Den Kurierdienst zwischen den Gesprächspartnern besorgte Pater Simonsen, dessen Beauftragte spanische, portugiesische und südamerikanische Kleriker waren.

Im Frühjahr 1944 war es soweit: Schon lagen die Pläne bereit, nach dem Handstreich gegen Hitler die Deutschen Botschaften in den iberischen Ländern schlagartig zu besetzen, da wurde das Netz des Paters Simonsen zerrissen - Simonsens Hauptkurier, ein emigrierter Franzose namens Letellier, lieferte dem Polizeiattaché der Deutschen Botschaft

in Madrid alle Details über die Verschwörung aus.

1956 bekannte der Heilige Vater: »Irre geworden sind Wir nie am deutschen Volk, auch nicht durch dunkle Erscheinungen und Flecke, die niemanden peinlicher berührten und berühren als den anständig und vornehm gesinnten Deutschen selbst.«

Bis zu seinem Tode konnte Eugenio Pacelli den kalten Dezembertag des Jahres 1929 nicht vergessen, an dem er sich von Berlin verabschiedet hatte. Unübersehbar war die Menschenmenge, die im Fackelschein die Fahrt des Nuntius von der Rauchstraße bis zum Anhalter Bahnhof begleitete.

Nur wenige sahen die Tränen, die dem kühlen Römer in der Dunkelheit über das Gesicht liefen. Auf dem Bahnhof faßte er sich wieder. Pacelli: »Was wollen wir? Unser ganzes Leben auf Erden ist ein dauerndes Abschiednehmen.«

** Saul Friedländer: »Pie XII et le IIIe Reich«. Editions du Seuil, Paris; 240 Seiten; 12 Franc. Deutsche Ausgabe erscheint im Frühjahr 1965 bei Rowohlt.

** Das Archiv des Vatikans hat gemäß einer Entscheidung von Papst Leo XIII. (1878 bis 1903) lediglich die Dokumente aus der Zeit zwischen 1200 und 1848 freigegeben. Nur der päpstliche Nuntiaturrat Alberto Giovannetti bekam für sein Weltkrieg-II-Buch »Der Vatikan und der Krieg« die Genehmigung, diplomatische Gebeimdokumente des Heiligen Stuhls aus den Jahren 1939 und 1940 zu zitieren.

Unterhändler Pacelli, Offiziere (1917)

»Alles verloren, auch Ihr armes Vaterland«

Vatikan-Akte des AA (1942)

»Der Kirche ein kräftiges Reich«

Hochhuths »Stellvertreter"*

Wollte der Heilige Vater ...

Papst-Kritiker Hochhuth

... Hitlers Deutschland ...

Papst-Kritiker Friedländer

... mit dem Westen versöhnen?

Papst-Haushälterin Pasqualina Lehnert (M.): Der einsame Pontifex ...

... lebte auf einer deutschen Insel: Papst-Berater Kaas, Leiber, Bea

Pacelli, Kriegsgefangene in Halle (1917): Schlag auf das Kreuz

Pacelli (M.), Nachfolger Paul VI. (2. v. r., stehend)*: Den Führern des Zentrums ...

... ein Wink zur Auflösung: Pacelli, Vorgänger Pius XI.

Nuntius Orsenigo, Begleiter* (1939)

Deutschland als Bollwerk?

Deutsche Truppen beim Einmarsch in Norwegen (1940): Der Papst schwieg

Exkönigin Marie-José, Umberto

Der Papst warnte

Deutsche Soldaten auf dem Königsschloß in Brüssel (1940): Der Papst protestierte

Pius XII. in Rom*: Mit Hilfe der SS Hitler stürzen?

Vatikan-Botschafter von Weizsäcker

Unter den Fenstern des Papstes ...

... die Juden Roms verschleppt: Konzentrationslager Auschwitz

Pacelli beim Abschied von Berlin (1929): »Nie irre geworden am deutschen Volk«

* Alan Webb in der Rolle des Papstes

Pius XII. In einer Aufführung der Royal Shakespeare Company am 24. September 1963.

* Mit Vizekanzler Franz von Papen (l.) beim Abschluß des Reichskonkordats 1933.

* Mit dem AA-Protokollchef, Freiherrn von Dörnberg.

* Bei Bombengeschädigten nach dem zweiten Luftangriff der Alliierten auf Rom am 13. August 1943.

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