Papstreise: »Freue dich, Mutter Polen«
Polen, Dein Verderben ist Rom!«, so hat ein polnischer Dichter der Romantik namens Juliusz Slowacki zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Schicksal seines Landes beklagt, als die konservativen Mächte Europas auf dem Wiener Kongreß »im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit« Polen russischer Oberhoheit unterstellten.
Denn Roms Papst Pius VII., auf den alle frommen Polen ihre letzten Hoffnungen setzten, war ohnmächtig, gegen den blasphemischen Willkürakt etwas Wirksames zu unternehmen. Außerdem aber war dem Papst, gerade erst aus napoleonischer Gefangenschaft auf seinen Stuhl Petri zurückgekehrt, angesichts eigener Sorgen das Ende des polnischen Königtums reichlich schnuppe.
Gut 160 Jahre später erwarten 35 Millionen Polen wieder das Heil aus der Heiligen Stadt, mit weitaus größerer Zuversicht als ihre unglücklichen Ahnen:
Johannes Paul II., Bischof von Rom, Statthalter Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Oberhaupt der allgemeinen Kirche, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der Kirchenprovinz Rom, Souverän des Staates der Vatikanstadt, Diener der Diener Gottes Karol Wojtyla hat sich für neun Tage zum Besuch angesagt -- und er ist einer von ihnen.
War schon die Papst-Wahl des in Wadowice bei Krakau geborenen Wojtyla im Oktober 1978 eines der aufregendsten Ereignisse der neueren Kirchengeschichte -- der erste Nicht-Italiener auf dem Stuhl Petri seit 455 Jahren -, so steht zu erwarten, daß seine Heimreise in das »kirchentreueste Land der Welt« (so die Polen über Polen) ein Fest der Superlative wird.
Um des erwarteten Massenansturms Herr zu werden, hat die Regierung für jede der geplanten elf Ansprachen des Papstes bis zu 300 000 Eintrittskarten ausgegeben, ohne die Besucher gar nicht in die Nähe der Veranstaltung gelassen werden. Für zivile Kraftfahrzeuge sind die Städte während des Papstbesuchs in einem Umkreis bis zu 40 Kilometer gesperrt.
Gesperrt, und das gleich für drei Wochen, ist auch der Flugplatz des Städtchens Nowy Targ am Fuße der Beskiden, auf dem sich der Papst mit 100 000 Gläubigen treffen wird. Der polnische Episkopat muß dafür 2,1 Millionen Zloty (nach Kaufkraft: 315 000 Mark) an Miete zahlen.
Etwa 1,5 Millionen Mark hat allein der Altar für die Papstmesse in Krakau gekostet, in Spendenaufrufen mahnt die polnische Bischofskonferenz die Gläubigen, den Papst »zu Hause würdig zu empfangen«.
Was seine gläubigen Landsleute empfinden, haben die polnischen Bischöfe, die nach dem jahrzehntelangen Kirchenkampf mit dem kommunistischen Staat nicht eben als schwärmerisch gelten, in einem Grußwort zusammengefaßt:
Tief mit Polen verbunden, möchte der Heilige Vater entlang der Meilensteine unserer Geschichte wandern ... Er möchte sich für den ersten Strahl heimatlicher Sonne, für den nahrhaften Milchtropfen von der Mutterbrust seiner sanftmütigen Erzeugerin aus Wadowice und auch für das belebende Wasser der Heiligen Taufe bedanken
Der Papst selbst nennt die Fahrt, die ihn nach Warschau, in Polens erste Hauptstadt Gnesen, zur Schwarzen Madonna nach Tschenstochau, ins ehemalige KZ Auschwitz und zuletzt an seinen ehemaligen Bischofssitz nach Krakau führt, sehr viel nüchterner eine »Pilgerreise ins Vaterland«, wohl wissend, daß ihn Millionen seiner Landsleute auf dieser Wallfahrt durch die kirchliche wie auch nationale Geschichte begleiten.
Doch Wojtylas Heimkehr ist auch die erste Reise, die ein Papst in ein kommunistisches Land unternimmt. Der italienische Papst-Biograph und Vatikan-Experte Stefano de Andreis sagt voraus: »Der bevorstehende Papstbesuch schafft für die Warschauer Regierung Probleme, mit denen sich nie zuvor ein kommunistischer Staat herumschlagen mußte.«
Polens Parteichef Edward Gierek, der in seiner amtlichen Biographie mit Nachdruck betont, wie religiös seine Mutter ist, wäre den Problemen gern aus dem Wege gegangen. Als er am Tage der Papstwahl das »Habemus Papam« erfuhr, habe er -- so wird in Warschau erzählt -- erschrocken gesagt: »Habemus klapam": »Jetzt haben wir den Schlamassel!«
Denn, soviel war auch dem Parteichef klar, die über Jahre mit unterschiedlichem Geschick kunstvoll gewahrte Koexistenz zwischen katholischer Tradition und kommunistischem Anspruch hatte damit ein Ende -- die Wahl eines Polen zum Papst war für Polens Staat und Partei, die öfter schon schwer heimgesucht wurden, die bislang schwerste Herausforderung -- wenn auch eine durchaus friedliche.
Der König erschlug den Bischof in einer Krakauer Kirche.
Die Partei entschied sich, hauptsächlich um den überschäumenden Enthusiasmus der polnischen Katholiken zu dämpfen, zunächst für eine Strategie des begrenzten Konflikts: Die Weihnachtsbotschaft des neuen Papstes an seine ehemalige Krakauer Diözese durfte im katholischen Wochenblatt »Tygodnik Powszechny« nicht unzensiert erscheinen -- die Redaktion verzichtete demonstrativ auch auf die Veröffentlichung des genehmigten Teils. Ohne zwingenden Anlaß brach der Minister für Kirchenfragen, Kazimirz Kakol, einen öffentlichen Streit mit dem Bischof von Lublin um eine nichtgenehmigte Wallfahrt und Verzögerungen beim Kirchenbau vom Zaun.
Was die Warschauer Führung an dem Papst-Text irritierte, beunruhigt sie auch in dieser Woche am meisten: Der geschichtskundige Wojtyla hatte -- als Ausblick auf seinen Polen-Besuch -- den Heiligen Stanislaus, dessen Märtyrertod vor genau 900 Jahren die polnische Kirche in diesem Frühjahr gedenkt, einen vorbildlichen »Verteidiger der moralischen Ordnung« genannt, der nicht gezögert habe, »sich dem Herrscher in den Weg zu stellen«.
Nun ist in der Tat die Geschichte des Stanislaus Szczepanowski unter den zahlreichen polnischen Kirchenhelden für die Beziehung zwischen Staat und Kirche in Polen besonders symbolträchtig und hintergründig: Im 11. Jahrhundert lag Stanislaus als Krakauer Bischof mit Polens König Boleslaw II., genannt der Kühne, in Fehde, angeblich weil der König seine Macht mißbraucht habe. Um den lästigen Kritiker loszuwerden, ließ Boleslaw der Kühne den mannhaften Bischof am 8. Mai 1079 hinrichten; nach polnischer Version erschlug ihn der König in der noch heute existierenden Krakauer Kirche »Na Skalce« sogar eigenhändig mit dem Schwert.
Der Priestermord bekam dem König schlecht: Vor einem Aufstand polnischer Ritter mußte er nach Ungarn fliehen, wo er schon ein Jahr später starb.
Die sterblichen Überreste des später heiliggesprochenen Bischofs -- sein zertrümmerter Schädel und einige Gebeine -- werden in der Krakauer Wawel-Kathedrale aufbewahrt und gelten als Reliquien für den unerschrockenen Kampf eines Kirchenmannes gegen weltliche Tyrannei, selbst für eine nichtkommunistische Staatsführung eine heikle Allegorie.
Der Märtyrer aus dem Heimatsprengel des Karol Wojtyla war schon dem jungen Priester eine besonders anziehende Symbolfigur gewesen. Er hätte sich nach der Wahl auch am liebsten den Papst-Namen Stanislaus I. gegeben, verzichtete mit Rücksicht auf die ohnehin geschockten Italiener darauf.
Und schon sechs Tage nach seiner Wahl erklärte der neue Papst dem polnischen Staatspräsidenten Jablonski, der zu seiner Inthronisation nach Rom gekommen war, daß er an den Feierlichkeiten zu Ehren des Hl. Stanislaus nach Polen zu kommen gedenke.
Die Partei pochte auf ihre Staatsraison und konnte in mehrwöchigen Verhandlungen mit dem Ostpolitiker der Kirche, Erzbischof Casaroli, erwirken, daß Seine Heiligkeit den geplanten Reisetermin vom 20. Mai auf den 2. Juni verschob -- freilich nicht mit dem von Warschau erhofften Erfolg. Denn Millionen polnischer Katholiken kennen die Hintergrunde nur zu gut und deuteten die Scheu vor dem Sterbetag des Heiligen als staatliche Schwäche.
Zudem sorgte der Papst selbst dafür, daß der Märtyrer alle ihm zugedachten Ehrungen erfährt. In einem Apostolischen Brief an den polnischen Primas, Kardinal Wyszynski, ließ er Anfang Mai wissen: »Dieses Jahr haben Wir entschieden, diese wichtige Feierlichkeit, die zugleich ein Jubiläum ist, nicht auf den nächsten Sonntag, sondern auf den Sonntag der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Heiligen Dreieinigkeit zu vertagen.«
Parteichef Gierek hatte zu diesem Zeitpunkt seinen ohnehin nicht wirksamen Versuch einer Konfrontation zur Kirche wieder aufgegeben und probierte nun das genaue Gegenteil.
In Zeitungsartikeln und Ministerreden erinnerten die Kommunisten daran, wie furchtbar das Zusammenwirken von Staat und Kirche in der leidvollen Geschichte Polens stets gewesen sei, daß sich Polen schon im Mittelalter als Hort religiöser Toleranz und des Glaubensfriedens, als ein »Staat ohne Scheiterhaufen«, verstanden habe.
Das Warschauer Regierungsblatt »Zycie Warszawy« beteuerte, weltanschaulich bedingte Meinungsunterschiede zwischen Polen und dem Vatikan sollten kein Hindernis für eine Zusammenarbeit sein, die »dem Gemeinwohl und vielen übergeordneten Werten« diene. Und selbst das Parteiorgan »Trybuna Ludu« stellte sich in den Dienst der Umarmungs-Taktik: fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen.
Die Armeezeitung »Zolnierz Wolnosci«, bislang durch höhnische, antiklerikale Angriffe bekannt, ging sogar so weit, der Partei das entscheidende Verdienst an der Wahl Wojtylas zum Papst zuzuschreiben: »Seine Persönlichkeit entwickelte sich doch in einer bestimmten Welt ... Der Aufstieg der katholischen Kirche ist doch gewissermaßen mit dem allgemeinen kulturellen Aufstieg im sozialistischen Polen verbunden.«
Nur einem ging diese taktische Leisetreterei zu weit. Mieczyslaw Rakowski, ZK-Mitglied und Chefredakteur der Wochenzeitung »Polityka«, der einzigen polnischen Zeitung von internationalem Rang, warnte:
Der Besuch des Papstes wird die Unterschiede weder glätten noch beseitigen ... Polen bleibt weiterhin ein weltlicher Staat, die Marxisten werden weiterhin aktiv wirken für die Wahrung und Festigung gerade eines solchen Gesichtes der Volksrepublik. Jedes Sichzurückziehen in dieser Sache wäre unverständlich und stände auch im Widerspruch zum Interesse des sozialistischen Staates und der Nation. Wenn es im katholischen Lager Leute gibt, die meinen, der weltliche Charakter unseres Staates könne geschwächt werden, so ist es angebracht, ihnen offen zu sagen, dies sind Illusionen.
Doch mit oder ohne Illusion, die polnische Bischofs-Konferenz nahm das »neue Klima in dem Prozeß einer vol-
* O.: Instandsetzung der Wallfahrtskirche Tschenstochau; u.: Reparatur einer Straße in Gnesen, das der Papst besucht, im Hintergrund die Kathedrale.
len Normalisierung« mit Genugtuung zur Kenntnis. Sie war ihrerseits bereit, dem Staat bei der Bewältigung der enormen technischen und organisatorischen Probleme eines Papstbesuches zu helfen, und rief die Gläubigen nachdrücklich zu »Ruhe, Vernunft und Ordnung« auf.
So stellt die Kirche für ihre Großveranstaltungen im Freien einen eigenen Ordnungsdienst, der mit der Polizei zusammenarbeiten soll. Über das gemischte Aufgebot machen die Warschauer schon ihre Witze: »Weißt du, warum es jetzt auch keine weißen Spitzen mehr zu kaufen gibt? Die braucht die Geheimpolizei für Meßhemden.«
Dafür stellten in Warschau, Gnesen und Krakau Handwerker aus den staatseigenen Betrieben auf den Straßen überdimensionale Kreuze auf und montierten riesige Wojtyla-Porträts.
Die Krakauer Ordensschwester Joanna Moser schrieb gemeinsam mit dem Komponisten Professor Edward Bury ein Begrüßungslied für den Papst, das den Titel trägt: »Freue dich, Mutter Polen.« Vor Musikläden warten die Polen wie sonst nur vor den Fleischerläden in langen Schlangen, um eine Schallplatte mit dem päpstlichen Hymnus zu erstehen.
Verständlich, daß Parteichef Gierek, der sich das Einverständnis zur Kursänderung auf Besuchen bei seinen sozialistischen Nachbarn in Moskau, Prag, Sofia und Ost-Berlin geholt hat, trotz aller Zugeständnisse das Risiko des Papstbesuches für die Partei möglichst klein halten wollte.
So strich er den Papst-Wunsch, auch einen Abstecher in den schlesischen Wallfahrtsort für Bergleute, Piekary Slaskie oder nach Wroclaw (Breslau) zu machen, nachträglich aus dem Programm und befahl den oberschlesischen Kumpeln, neben den Danziger Dockern erfahrungsgemäß der aufsässigste Teil der polnischen Arbeiterschaft, während des Papstbesuches stramm zu arbeiten.
Den 5000 Studenten der Katholischen Universität Lublin, zentrale Ausbildungsstätte für die systemkritische Elite, verwehrte die Regierung einen Sonderzug -- die aufgebrachten Studiker kündigten darauf an, »zu Fuß auf Warschau zu marschieren«.
In der vorigen Woche beschlagnahmte die Polizei bei Hausdurchsuchungen in den Wohnungen von Mitgliedern der Bürgerrechts-Organisation KOR (Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung) Photos und Poster mit dem Bild des Papstes. Ein KOR-Mitglied, das Unterschriften für die Forderung gesammelt hatte, den Papst-Besuch live im Fernsehen zu übertragen, wurde zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik verschleppt.
Beim Papst-Besuch ein Chomeini-Effekt?
Den gleichen Gedanken diskutierte freilich sogar das ZK: Nur eine ausführliche Fernsehübertragung, so die Befürworter, könne das gefürchtete Verkehrs-Chaos mildern. Die Gegner solcher Pläne brachten ökonomische Gründe vor: Bei totaler Berichterstattung im Fernsehen werde in Polen die neun Besuchstage lang kein Mensch mehr arbeiten.
Dem Erzbischof von Canterbury, Donald Coggan, der den Triumph des Papstes an Ort und Stelle miterleben wollte, wurde die Einreise verweigert, da er ein »Sicherheitsrisiko« darstelle: Das Haupt der Anglikanischen Kirche hatte sich in seiner Osterpredigt für die Dissidenten in der Sowjet-Union eingesetzt.
Denn nichts fürchtet die Partei so sehr, als daß sich im Taumel des Papstbesuches Polens schweigende Opposition mit der sprechenden im Widerstand gegen die ungeliebte Führung verbinden könnte. Mitglieder des Politbüros sprachen schon offen davon, daß sie einen »Chomeini-Effekt« bei den unkontrollierbaren Massen fürchten. Die Kirchenführung sagte zu, den Papst gegen Dissidenten-Aktionen tunlichst abzuschirmen.
Wieder einmal, so scheint es, sind in gefährlicher Stunde Parteiführung und Kirchenführung bereit, aus Rücksicht auf die gefährdete Staatsraison eine Notgemeinschaft zu schließen.
So war es nach dem Posener Arbeiteraufstand im Jahr 1956, als Kardinal Wyszynski, gerade erst aus seinem klösterlichen Gefängnis befreit, die Arbeiter dazu aufrief, »ohne Haßgefühle wieder an die Arbeit zu gehen« und damit Polen vor einer drohenden Sowjet-Intervention rettete.
So war es auch im Dezember 1970: Als unzufriedene Arbeiter und Hausfrauen in den Küstenstädten die Parteihäuser in Brand steckten und den Parteichef Gomulka stürzten, gebot die Autorität des greisen Primas Wyszynski dem drohenden Aufstand im ganzen Land Halt.
Und dann, als im Juni 1976 die Arbeiter in den Industriestädten Radom und Ursus auch gegen Parteichef Gierek auf die Straße gingen, verurteilte die polnische Bischofskonferenz zwar die polizeilichen Übergriffe, rief in einem Kommunique aber auch die aufgebrachten Massen zur Ordnung: »Solide Arbeit ist eine moralische Pflicht, Verzichtenkönnen eine christliche Tugend.« Vertrauen in die Führung sei notwendig.
Dieses Vertrauen aber hat die Gierek-Führung längst, wenn schon nicht bei der Kirche, so doch beim Volk verspielt, vor allem, weil sie kläglich vor der Aufgabe versagte, die Wirtschaft des Landes vor dem Absinken ins Chaos zu bewahren und die Menschen
* In Brand gesetztes Polizeihauptquartier in Stettin.
mit den lebensnotwendigen Gütern zu versorgen.
Nach wie vor sind in Polen -- und das nun schon seit Jahren -- die wichtigsten Grundnahrungsmittel knapp, vor jedem Fleischerladen bilden sich lange Schlangen. Sogar Hartkäse ist zur Rarität geworden. Als Karol Wojtyla noch Krakauer Erzbischof war, hat er die tägliche Not und Demütigung in einem Hirtenbrief zur Woche der Brüderlichkeit 1977 plastisch beschrieben:
Ein Aspekt des menschlichen Alltagslebens sind die Versorgungsbedingungen der Bürger. Auf keinem Gebiet häufen sich so viele Demütigungen und Erniedrigungen wie gerade da -- und das täglich. Das alles muß schnell geändert werden ...
Geändert hat sich inzwischen nichts, es sei denn zum Schlechteren. Giereks ehrgeizige Industrialisierungs-Pläne aus dem Anfang der 70er Jahre, die 30 Prozent des Nationaleinkommens für Investitionen in der Schwerindustrie geschluckt haben, führten das Land tief in die wirtschaftliche Dauerkrise. Eine ganze Reihe von Großprojekten erweisen sich heute als Fehlinvestitionen.
Ein Drittel der Produktionskapazität -- so eine Rechnung des KOR -- liegt wegen schwerer Planungsfehler brach, Polens Schulden im Ausland haben im Jahr 1979 die Höhe von 35 Milliarden Mark erreicht. KOR: »Die polnische Wirtschaft treibt auf eine Katastrophe zu.«
Durch seine unklare Agrarpolitik -- trotz aller Beteuerungen, der Staat wolle den landwirtschaftlichen Privatbesitz respektieren, werden die kollektiven Betriebe bevorteilt -- sind Ernteerträge und Viehbestand drastisch zurückgegangen; den zu 80 Prozent privaten Bauern fehlt das Vertrauen, in ihre veralteten Wirtschaften zu investieren.
Beispiel absurden Wirtschaftens: Der kollektive Teil der polnischen Landwirtschaft ist siebenmal besser mit Maschinen und Kunstdünger ausgestattet als die privaten Betriebe, die aber bringen achtmal mehr Produkte. Resultat: im vorigen Jahr mußte Polen neun Millionen Tonnen Getreide und Futtermittel importieren, was etwa die Hälfte des im Lande geernteten Getreides ausmacht.
Mit immer neuen Anleihen -- in den USA hat sich Polen kürzlich um einen Kredit von einer Milliarde Mark bemüht -- und mit verzweifelten Ideen ist Polens Führung bemüht, die Wirtschaft in Betrieb zu halten. Vor wenigen Wochen gab sie den Plan bekannt, die rund 35 000 Betriebe der Kleinindustrie aus den Zwängen der staatlichen Planung zu befreien, um sie durch unternehmerische Eigeninitiative rentabler zu machen.
Wirtschaftliche Pleite
mit personellen Konsequenzen.
Erstmals seit Giereks Machtübernahme sind im Vorjahr die Reallöhne um 2,6 Prozent gesunken, während die Lebenshaltungskosten um 7,8 Prozent anstiegen -- keine demokratisch gewählte Regierung würde das überleben.
Zehntausende von jungen Ehepaaren müssen im Durchschnitt sieben Jahre auf eine eigene Wohnung warten. Die Mieten steigen trotz staatlicher Preiskontrolle rapide.
Der unzureichende Gesundheitsdienst hat dazu geführt, daß in Polen sogar die Rate der Säuglingssterblichkeit angestiegen ist und auch die Zahl der Tbc-Kranken wieder wächst. Der mitunter dramatische Mangel an Medikamenten hat zu einer Anfrage des Sejm-Abgeordneten Karol Malcuzynski geführt, der sich dabei unwidersprochen der von KOR erarbeiteten Unterlagen bediente.
Besonders hart hat Polen, ein Land, das über gewaltige Kohlenreserven verfügt, der vergangene Winter getroffen. Der Straßen- und Schienenverkehr und die Stromversorgung brachen in weiten Teilen Polens zusammen. Gesamtschaden, so Parteichef Gierek vor dem ZK: rund 60 Milliarden Zloty.
Die wirtschaftliche Pleite hat inzwischen auch personelle Konsequenzen: Professor Jozef Pajestka, der schon unter Gomulka das staatliche Planungsbüro leitete. und -- trotz seiner Mißerfolge -- auch unter Nachfolger Gierek der wirtschaftliche Chefplaner blieb, mußte wegen eines kritischen Artikels in einer Fachzeitschrift seinen Sessel räumen.
Von selbst zurückgetreten ist Giereks engster Vertrauter in Wirtschaftsfragen, Professor Beksiak, Leiter des Lehrstuhls für Ökonomie an der Warschauer Hochschule für Planung und Statistik. Aus Protest gegen die Unfähigkeit der Planungs-Bürokraten gab er auch gleich sein Parteibuch ab.
Der Partei-Publizist Stefan Bratkowski schlug vor den Warschauer Genossen im Schriftstellerverband Alarm: »Nicht die Konterrevolution, sondern das in der Wirtschaft herrschende Chaos bildet heutzutage eine tödliche Bedrohung für den Sozialismus in Polen.« In der Öffentlichkeit habe sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die Wirtschaft von 200 000 Bürokraten regiert werde, die mehr um ihr eigenes Interesse als um das Volkswohl besorgt seien.
Ob die tödliche Bedrohung noch abzuwenden ist und ob ausgerechnet der zum Papst aufgestiegene Krakauer Erzbischof der rechte Mann ist, durch seinen Besuch das schwindende Vertrauen in Gierek wieder zu festigen, bleibt angesichts solcher Tatsachen zweifelhaft.
Ein Alptraum für
Roms Verkehrspolizei.
Sicher aber ist, daß die nahezu grenzenlose Begeisterung, die dem polnischen Papst schon in Italien vom einfachen Volk entgegengebracht wird, im heimatlichen Polen alle nur denkbaren Dimensionen sprengen dürfte. Johannes Paul II., der wegen seiner Vorliebe, römische Vorstadt-Kirchen zu besuchen, um dort, ohne Protokoll, mit den Menschen zu reden, für Roms Verkehrspolizei schon ein Alptraum ist, wird sich dem Bad in der Menge seiner Landsleute nicht entziehen.
Die verzückte Bewunderung für den breitschultrigen Petri-Nachfolger nimmt mitunter schon in Rom komische Züge an. Bei den Audienzen auf dem Petersplatz, zu denen selten weniger als 50 000 Menschen zusammenströmen, tauchten Spruchbänder auf, auf denen zu lesen war: »Wojtyla, Du bist das Meisterwerk der Kirche!«
Eine Nonne verstieg sich gar zu dem Bewunderungsschrei: »Er ist noch schöner als Jesus«, und eine engagierte italienische Feministin hat der fromme Hirte zu der späten Einsicht gebracht: »Er ist der erste Papst, bei dem ich mir bewußt geworden bin, daß er auch einen Körper hat.«
Im Spott, in dem freilich auch Lob mitschwang, nannte ihn die liberale römische Zeitung »La Repubblica« den »Papa Wojtyla Superstar«. Denn vieles an dem charismatischen Kirchenfürsten fasziniert selbst nüchterne Betrachter: ein Papst, der Gedichte schreibt, ein Theaterstück über ein soziales Thema verfaßt hat und sogar ein Buch über die Sexualität ("Liebe und Verantwortung«, 1960), in dem der Frau das Recht auf den eigenen Orgasmus zuerkannt wird.
Überhaupt: Dieser Papst hatte ja eigentlich gar nicht Priester werden wollen, sondern Schriftsteller, vielleicht Schauspieler oder Professor für Literatur. Daß er letztendlich dann doch in den schützenden Schoß der Kirche fand, lag zu einem guten Teil an seiner Flucht vor der Verfolgung der Nazis.
Einen Papst, der leidenschaftlich gern Ski fährt, der seine Ernennung zum Bischof auf einer Paddeltour erfuhr, der sich -- um im schweren Amt fit zu bleiben -- im Garten seiner Sommerresidenz Castelgandolfo einen Swimming-pool anlegen läßt, einen solchen Papst hat es noch nicht gegeben.
Doch Charisma und menschliche Wärme verdecken nur unzulänglich, daß der Pole Karol Wojtyla mit Sicherheit nicht der Reformer der Kirche ist, auf den zumindest ein Teil der Kirche so sehnlichst wartet. Neue Horizonte in einer von der technischen Welt geprägten Zeit wird Papst Johannes Paul II. der Kirche kaum öffnen.
Bei allen in letzter Zeit innerhalb der Kirche umstrittenen Fragen gab er den Konservativen recht: ob bei der Abschaffung des Zölibats, der Gleichberechtigung der Geschlechter im Priesterberuf, oder auch nur in der Diskussion, ob das Tragen der Soutane als Berufskleidung Pflicht für Priester sei.
Papst Wojtyla lehnt auch Scheidung und Schwangerschaftsunterbrechung ab, weil die »gegen die menschliche Würde verstoßen«. Wie es um die Würde totgeprügelter Ehefrauen oder Kinder kaputter Ehen bestellt ist, danach hat er öffentlich nie gefragt. Auf sei
* Der Papst segnet die Stelle, an der der ermordete christdemokratische Parteipräsident Moro gefunden wurde.
ner Mexiko-Reise sprach er sich gegen die »Theologie der Befreiung« aus -- wie die Unterdrückten in Lateinamerika sich von der Tyrannei befreien, sei nicht Sache der Kirche.
Dem integristischen Dissidenten, Erzbischof Lefebvre, bot der neue Papst geduldig die Chance, sich mit der Kirche zu versöhnen -- gegenüber progressiven Kritikern wie dem Theologen Hans Küng oder dem Arbeiterpriester Dom Franzoni unterblieb eine solche Geste.
Dom Franzoni: »Wojtyla ist ein Konservativer, ein sympathischer Konservativer, ein ehrlicher und anständiger Mann. Aber seine Kultur ist präkonzilar. Seine Erfahrungen kommen aus einer Kirche, die die Ideen des Konzils nicht verwirklicht hat und unter den Umständen, in denen sie existiert, auch nicht verwirklichen konnte.«
Besonders deutlich wird das durch das Schlagwort Menschenrechte: Außer dem US-Präsidenten Jimmy Carter redet keine weltweit bekannte Persönlichkeit so oft von den Menschenrechten wie Wojtyla. Über die Forderung nach den Menschenrechten kamen sich die laizistischen polnischen Dissidenten vom KOR und der Krakauer Kardinal einst näher.
Doch die Politiker im Bürgerrechtskomitee und der nach Rom berufene Kirchenfürst verstehen unter Menschenrecht und Menschenwürde möglicherweise nicht dasselbe. Wojtyla: »Die Menschenwürde kann nur durch einen richtigen und verantwortungsvollen Gebrauch der menschlichen Freiheit gewahrt werden.
KOR kämpft für mehr Demokratie, für das Recht des Bürgers, sein Verhältnis zu Staat und Gesellschaft, aber auch zu Gott, selbst zu bestimmen: Parteien-Pluralismus, Gewerkschaften, Presse- und Religionsfreiheit und die Rechtssicherheit gegen staatliche Willkür und Übergriffe sind die Forderungen.
Für den Papst aber ist jeder Staat zunächst ein System, dem er mißtraut, möglicherweise hält er den Staat in einer katholischen Gesellschaft sogar für überflüssig.
Menschenwürde heißt für Papst Wojtyla, daß der allmächtige Staat den von der Kirche bestimmten Kodex des Bürgers in Sitte und Moral respektiert, daß er ihn den Konsens zur Gesellschaft finden läßt, ein Ideal, das aus Wojtylas eigenen Lebenserfahrungen stammt -- und aus dem Alltag der Kirche im Osten. In dieser Sicht zählen Disziplin, Verläßlichkeit, Augenmaß mehr als etwa weltverändernde Ideen.
Dennoch: Auf Anpassung kann das Regime bei ihm nicht rechnen. Wojtyla ist nicht nur der Papst, der aus dem Osten kam, sondern auch der Papst, der in den Osten wirkt: Die Ostpolitik des Vatikans, die unter Papst Paul VI. und seinem Ostexperten, Agostino Casaroli, das Arrangement mit den Mächtigen im sozialistischen Block gesucht hat, erhält schärfere Akzente.
Die Anzeichen dieser neuen Politik sind schon sichtbar. Bereits in seiner ersten Rede in Rom sprach der neue Papst die litauischen und ukrainischen Gläubigen in ihrer Muttersprache an, was bislang kein Oberhirte gewagt hatte. Anfang Mai besuchte Wojtyla demonstrativ das litauische Priester-Kolleg in Rom und nannte die Litauer das »wirkliche Volk«, für die Kreml-Führung eine unerhörte Herausforderung.
Mehr noch: Unter den jüngst vom Papst ernannten 15 neuen Kardinälen ist nicht nur sein Nachfolger in Krakau, Erzbischof Macharski, sondern »in pectore« (in der Brust, also noch
* In der Kirche von Wojtylas Geburtsstadt Wadowice.
geheim) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch der Bischof von Wilna, Julionas Steponavicius, den die Sowjetbehörden seit 17 Jahren unter Hausarrest halten.
Wojtylas ostpolitische Aktivität hat auch die slowenische Kirche erfaßt. In der Universität von Ljubljana hielt der Theologie-Professor France Rode eine Rede, in der er das Los der Katholiken im jugoslawischen Staat beklagte: »Solange uns die Machthaber ihre Ideologie aufzwingen, solange wir nicht die Möglichkeit haben, uns über unsere Lage zu äußern, während uns die anderen vorreden, es gehe uns gut, können wir nicht von einer freien Gesellschaft reden.«
Wojtylas Statthalter im heimatlichen Polen, Kardinal Wyszynski, der mit seinem Krakauer Amtsbruder früher über die günstigste Strategie gegenüber der Staatsmacht nicht immer einer Meinung war, ist inzwischen ganz auf die neue Linie eingeschwenkt.
In seinem Hirtenbrief zum »Tag des Gebetes«, Anfang Februar, bat er die Muttergottes von Tschenstochau, dem Papst zu gewähren, »alle Schranken zu überwinden und der verfolgten Kirche die Freiheit zu bringen. Im Schützengraben unseres Vaterlandes, auf diesem Vorposten des Christentums, kämpfen wir für den Glauben und die religiöse Kultur der Menschheit.«
Polens populärster katholischer Schriftsteller, Stefan Kisielewski, schon seit Jahrzehnten im Stellungskrieg mit der kommunistischen Macht, umreißt die neue Lage kürzer: »Der Papst wird Volkspolen segnen -- ein anderes Polen gibt es derzeit nicht.«