POLITISCHES BUCH Parsifal als Amokläufer
Koerfer, 42, ist Historiker und lebt in Berlin. Von ihm stammt »Kampf ums Kanzleramt. Ludwig Erhard und Konrad Adenauer«.
Er war die Schlüsselfigur der FDP in den fünfziger Jahren und ein feuriger Debattenredner. Er gehört zu den Gründungsvätern der Bundesrepublik, hat ein interessantes deutsches Leben gelebt, exemplarisch in vielem: Thomas Dehler, dem Udo Wengst, der stellvertretende Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, zum 100. Geburtstag eine Biographie widmet*.
Das Schlüsselerlebnis für Dehler, wie für viele seiner Generation, war der Erste Weltkrieg und die Novemberrevolution. Aus dem überzeugten Monarchisten wird ein engagierter Demokrat; die erste Republik gegen die immer lauter, immer mächtiger werdenden Extremisten von rechts und links zu verteidigen hält er für sinnvoll, für notwendig, auch wenn er dabei - derlei ist damals fast selbstverständlich -
* Udo Wengst: »Thomas Dehler 1897 - 1967. Eine politische Biographie«. Oldenbourg Verlag, München; 436 Seiten; 78 Mark.
für ein Großdeutschland votiert, die Fesseln des Versailler Vertrages für schändlich hält.
Seine Partei, die DDP, für die er sich engagiert, später dann die nahezu bedeutungslose Deutsche Staatspartei können den Aufstieg der Hitlerei, die Auflösung der Weimarer Republik nicht verhindern.
Die Selbstpreisgabe der Demokratie 1932/33 bedeutet für Dehler ein politisches Unglück - und eine private Bedrohung. Seine Frau Irma ist Jüdin. Der Druck wächst, eine Trennung wäre jetzt politisch korrekt und wird von dem jungen, aufstrebenden Anwalt auch immer wieder verlangt. Allein, Dehler denkt gar nicht daran. Und zu seinen Mandanten zählen auch weiterhin, solange die verbliebenen Fragmente des Rechtsstaates im Dritten Reich es zulassen, jüdische Klienten, später dann Opponenten des Regimes.
Die Zugehörigkeit zur wohlhabenden und lokal einflußreichen Bürgergesellschaft Bambergs bietet ihm einen gewissen Schutz vor NS-Attacken und Polemik, etwa in Julius Streichers »Stürmer«, wo er als »echter Judengenosse« verunglimpft wird. Bei aller Resistenz gegenüber der braunen Ideologie, im Spätsommer 1939 erneut die Uniform anzuziehen und auf Befehl des »Führers« zu marschieren war für Dehler eine Selbstverständlichkeit - einer der erstaunlichen Widersprüche jener Zeit.
Als Freimaurer und vor allem als »jüdisch Versippter« wird er jedoch schon ein Dreivierteljahr später als »wehrunwürdig« aus der Armee ausgestoßen, als nicht gut genug für den Heldentod auf dem Schlachtfeld. Schwierig, gefährlich werden die folgenden Jahre dennoch.
Dehler schlägt sich mit den Seinen durch, knüpft Kontakte zu einer kleinen liberalen Widerstandsgruppe, deren Verästelungen sogar bis zu Carl Goerdeler reichen, sieht manchen für immer in den Fängen der Gestapo verschwinden und gerät Ende 1944 noch selbst hinein. Dem »geschlossenen Arbeitseinsatz bei der Organisation Todt« im Lager Schelditz kann er nach vier Wochen wieder entrinnen. Waren es seine guten Verbindungen, seine nachweislich schwer angeschlagene Gesundheit, die ihn retteten? Dehler überlebte, entging auch noch den Attacken von NS-Fanatikern in den letzten Kriegswochen. Später hat er seine Vergangenheit nicht offen zum eigenen Nutzen instrumentalisiert - gerade deshalb verdient sie Erwähnung.
Von den Amerikanern zunächst schlecht behandelt, die eigene Wohnung trotz heftiger Proteste von der Besatzungsmacht beschlagnahmt, wird der unbelastete Dehler rasch Landrat im Kreis Bamberg, später Generalstaatsanwalt, Oberlandesgerichtspräsident und Landesvorsitzender der bayerischen FDP. Die Entnazifizierung ist zunächst sein Thema. Er plädiert, aus heutiger Sicht verblüffend, stets für Milde, für Einzelfallprüfung - und will vor allem den Besatzungsmächten die Kompetenz für diese Verfahren entziehen, Deutsche über Deutsche urteilen lassen. Damit hat er am Ende Erfolg.
Dies gilt weniger für seine Tätigkeit im Parlamentarischen Rat. Das von Dehler favorisierte Präsidialsystem amerikanischer Prägung setzt sich nicht durch, das konstruktive Mißtrauensvotum und andere Details des Grundgesetzes entpuppen sich nicht als Symptome eines Parlamentarismus »ohne Witz und ohne Einfälle«, wie er polemisiert.
Im Parlamentarischen Rat lernt er den Mann näher kennen, der zur Schlüsselfigur seines politischen Lebens, zu dessen »archimedischem Punkt« werden soll: Konrad Adenauer. Dehler geht es ganz ähnlich wie dem gleichaltrigen Franken Ludwig Erhard - auch bei ihm Respekt, Bewunderung, Verehrung auf den ersten Blick. Bald schon wird er den Patriarchen von Rhöndorf als »ein Geschenk Gottes an das deutsche Volk« bezeichnen, und rückblickend, als er zu dessen unversöhnlichem Gegner geworden ist, feststellen: »Da war ich noch der gläubige Thomas.«
In den ersten Jahren des Aufbaus, in seiner Amtszeit als Justizminister im ersten Kabinett Adenauer erweist sich Dehler als überaus loyaler Partner des Kanzlers. Ob Stalin-Note oder Deutschlandvertrag, Wiederbewaffnung und Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Dehler hält dem alten Herrn den Rücken frei und unterstützt vorbehaltlos dessen Ziele. Lediglich die Montanmitbestimmung bedeutet für Dehler »brutale Rechtlosigkeit« und Teufelszeug. Dagegen zieht er auch öffentlich vom Leder, daß es nur so kracht, attackiert Streikdrohungen der Gewerkschaften im Vorfeld der Verabschiedung als zuchthauswürdig, nennt den DGB eine »bösartige Geschwulst im deutschen Volkskörper«.
Die oppositionellen Sozialdemokraten um Dehlers Intimfeind Adolf Arndt und Herbert Wehner reagieren empört. Aber auch dem Kanzler, der den Arbeitsfrieden erhalten will, geht derlei zu weit. Dehler wird abgemahnt - und gelobt Besserung.
Sie hält nicht lange vor. Bald darauf neue Attacken gegen den DGB: »Wo der Marxismus herrscht, kommen die Deklassierten, die Defekten, die Minderwertigen zur Herrschaft.« Es sind Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen, die Dehler erstaunlich ungeniert verwendet. Attacken folgen gegen die Rentenverbände ("Ein Drittel aller Renten sind erschwindelt"), gegen die Alliierten, während der Auseinandersetzung um die Verfassungsmäßigkeit der Wiederbewaffnung, schließlich auch gegen das Bundesverfassungsgericht.
Dehler, immerhin ja Justizminister, wolle in seinem Zorn »den ganzen Verfassungsgerichtshof eigenhändig in die Luft sprengen«, notiert sich Staatssekretär Otto Lenz. In einem vertraulichen Gespräch nennt Dehler die Verfassungsrichter einen »demoralisierten Haufen von Interessenten«, spricht offen von einer »Überregierung« - aus Furcht vor einem Gerichtsentscheid, der für die Wehrgesetze eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit vorschreiben und damit die Kooperation der SPD erforderlich machen würde, was am Ende nicht der Fall sein sollte.
Der erste Präsident des Verfassungsgerichts, Hermann Höpker-Aschoff, Freidemokrat wie der Justizminister und mit diesem lange persönlich befreundet, ist jedenfalls tief empört und droht mit Rücktritt, falls Dehler 1953 erneut ins Kabinett berufen werde. Bundespräsident Heuss, von Dehler einmal im Disput an seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz erinnert, ist gleichfalls tief vergrätzt, läßt intern wissen, daß er sich weigern werde, die neuerliche Ernennungsurkunde zu unterzeichnen.
Kein Zweifel, Dehler, der den Spottnamen »Entgleisungsminister« nicht ganz zu Unrecht tragen muß, hat sich um Amt und Würden geredet. Sein Sturz kommt ihn bitter an. Daß Adenauer ihn fallenläßt, hinterläßt eine tiefe Wunde. Er selbst spricht später vergleichsweise offen von »viel Kränkung« und »verletzter Liebe«.
Fortan gehörte er, darin ein typischer Renegat, zu den erbittertsten Kritikern des Kanzlers. Daß er nun frei von jeglicher Kabinettsdisziplin als FDP-Fraktions- und Parteivorsitzender auftreten konnte, verlieh seinen Verbalattacken zusätzlich Gewicht.
Als Hauptkampfplatz wählte Dehler die Deutschlandpolitik. Hier war Adenauer verwundbar, hier ließen Erfolge tatsächlich auf sich warten. Früh schon begann Dehler, auf eine überparteiliche Deutschland- und Ostpolitik zu drängen, plädierte sogar dafür, »notfalls unfreie Wahlen in der Sowjetzone in Kauf zu nehmen«, wenn sich darüber ein ernsthafter Kontakt mit den Kreml-Herren eröffnen ließe. Auch in Verbindung mit dem Saar-Statut sprach er vom Ausverkauf deutscher Interessen, war scharf und bitter in seiner Ablehnung.
Das alles ergrimmt nun wiederum Adenauer. Selbst nicht ohne Rachsucht und Boshaftigkeit, schloß er Dehler fortan von allen vertraulichen Unterredungen und Informationen aus. Das Koalitionsklima wurde dadurch vergiftet. Die ohnehin in - mindestens - einen nationalistischen und einen liberal-demokratischen Flügel gespaltene FDP wurde von Dehler nicht geeint, die eigenen Leute begannen, sich von ihm ab- zuwenden.
Vielleicht trieb ihn die Unzufriedenheit darüber im Herbst 1956 zu einer massiven Entgleisung und Geschmacklosigkeit, als er Walter Hallstein, den Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in einer Wahlrede als »Mann ohne Herz und Hoden« bezeichnete. Dies sollte ihn am Ende seine führenden Parteiämter kosten.
Was blieb, war die »Versetzung zur politischen Reserve«. Hier hielt er, sekundiert von Gustav Heinemann, in den Nachtstunden des 23. Januar 1958 seine wohl berühmteste Parlamentsrede - eine große Abrechnung mit Adenauer, dem er vorwarf, alles getan zu haben, »um die Wiedervereinigung zu verhindern«. Diese Philippika hinterließ bei allen Beteiligten einen nachhaltigen Eindruck. Herbert Wehner schrieb ihm in einem seiner berühmten kurzen Handschreiben: »Ihre Rede wird unvergessen bleiben.« Bundespräsident Heuss allerdings fand, Dehler sei wie immer weit übers Ziel hinausgeschossen und kommentierte knapp: »Parsifal als Amokläufer.«
In seinem letzten Lebensjahrzehnt vereinsamte Dehler mehr und mehr. Das Amt eines stellvertretenden Bundestagspräsidenten füllte ihn nie aus, mit seinem großen Plädoyer gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen - der Rechtsstaat hatte, so forderte er nachdrücklich, auch für diesen Täterkreis zu gelten - drang er nicht durch.
Wenige Wochen, nachdem er den Konvoi mit dem Sarg Konrad Adenauers auf dem Rhein vorbeiziehen sah und nachdenklich gefragt hatte, wer wohl als nächster gehen müsse, starb auch er - mit dem Tod des Widersachers schien Dehlers eigene Lebenskraft erloschen.
* Udo Wengst: »Thomas Dehler 1897 - 1967. Eine politischeBiographie«. Oldenbourg Verlag, München; 436 Seiten; 78 Mark.* Im Oktober 1954 auf einer Bundesdelegiertenkonferenz derJungdemokraten in Frankfurt.