Europäische Union Paßt ins Raster
Diesmal wollte sich Helmut Kohl die Show nicht stehlen lassen. Den Sondergipfel in Brüssel, auf dem am vorigen Freitag der Nachfolger von Jacques Delors präsentiert wurde, hätten sich einige seiner Kollegen gern erspart; ein telefonischer Rundruf hätte es schließlich auch getan. Aber der deutsche Kanzler wollte »diese wichtige Entscheidung« in Brüssel selbst bekanntmachen.
Nach dem Debakel von Korfu, das die Briten mit ihrem Veto gegen den belgischen Premier Jean-Luc Dehaene besiegelt hatten, brauchte Kohl zum Auftakt der halbjährigen deutschen Präsidentschaft eine positive Botschaft. Der Kanzler wollte Entschlußkraft vorführen - und brachte doch nur eine halbherzige Lösung zustande.
Als er am Freitag abend im Brüsseler Ratsgebäude seinen Kandidaten, Luxemburgs Ministerpräsidenten Jacques Santer, 57, vorstellte, war ihm allenfalls Erleichterung anzumerken, daß keiner der anderen Staats- und Regierungschefs in letzter Minute Einspruch gegen seine zweite Wahl erhoben hatte. Nach dem politischen Schwergewicht Jacques Delors, der »die europäische Entwicklung geprägt« habe, so Kohl, trete Santer »kein leichtes Amt an«. Aber man solle ihm »eine faire Chance« geben.
Die Wahl war auf den Luxemburger gefallen, weil Kohls erster Ersatzkandidat nach Dehaene, der spanische Regierungschef Felipe Gonzalez, in Madrid unabkömmlich war. Den Niederländer Ruud Lubbers hatte Kohl bei seiner hektischen Suche nach einem konsensfähigen Kandidaten gar nicht erst gefragt. Der Ire Peter Sutherland, der Däne Poul Schlüter oder der Italiener Giuliano Amato waren nicht mehrheitsfähig. Und das belgische Kabinett war nicht bereit, einen anderen als Dehaene anzubieten.
So blieb schließlich Kohls »Freund Jacques« übrig, dem selbst am heimischen Kabinettstisch in Luxemburg einschläfernde Wirkung nachgesagt wird. Ein »Leichtgewicht« an der Spitze der EU-Kommission, befand die International Herald Tribune.
Alarm hat Kohls Entscheidung auch im Europäischen Parlament ausgelöst. Der Vertrag von Maastricht sieht vor, daß sich der künftige Präsident und die neuen Kommissare erst dem Votum der Straßburger Volksvertretung stellen müssen, ehe sie im Januar ihr Amt antreten. Die Ernennung eines so »schwachen Politikers aus einem sehr kleinen Land«, fürchtet der britische Labour-Abgeordnete Glyn Ford, könne sich als Desaster für Europa erweisen.
Formal paßt Santer in das Raster, das die Staats- und Regierungschefs für die _(* Mit Jacques Delors und Helmut Kohl bei ) _(der Vorstellung am vergangenen Freitag ) _(in Brüssel. ) Suche nach einem Kommissionspräsidenten vorgegeben hatten: Nach dem französischen Sozialisten Delors sollte diesmal ein Christdemokrat aus einem kleinen Land die Brüsseler Megabehörde führen.
Santer, der in Straßburg und Paris Jura und Wirtschaft studierte und seit 1984 als Regierungschef in Luxemburg amtiert, personifiziert denn auch den typischen Kompromiß auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Wie alle Luxemburger ist Santer zwar ein erklärter Pro-Europäer, aber als Repräsentant des kleinsten Landes wird er anders als sein Vorgänger Delors nicht auf eine Reform der Institutionen bei der Regierungskonferenz von 1996 drängen. Denn bei einer Straffung der Entscheidungsabläufe könnten die kleinen Mitgliedstaaten nur an Einfluß verlieren.
Für den Briten-Premier John Major ist Santer der rechte Mann. Mit dem harmlosen Luxemburger auf dem Präsidentensessel der Kommission, einem der »wichtigsten Posten der Welt« (Major), ist der Rückfall der EU-Behörde in ihren alten Bürokratentrott programmiert, aus dem Delors sie mit seinem Binnenmarktprogramm geweckt hatte.
»Alte Schlagworte, Träume und vorgefaßte Meinungen« von einem vereinigten Europa, fordert Major, müßten endlich aufgegeben werden. Statt der Brüsseler Beamten sollen freier Wettbewerb und frischer Unternehmergeist in der riesigen Freihandelszone zwischen Hammerfest und Lissabon herrschen. Der Einfluß der EU-Behörde, die das Vorschlagsmonopol etwa für Richtlinien zum Umwelt- und Gesundheitsschutz oder für sozialpolitische Initiativen hat, soll zurückgeschnitten werden.
Von Santer ist kaum Widerstand zu erwarten, wenn sich die Staats- und Regierungschefs daranmachen, der Kommission wieder ein Stück jener Autorität zu entwinden, die sie unter Delors gewonnen hatte. In einem Interview für das heimische Luxemburger Wort pries er sich den Briten vor dem Sondergipfel als Verfechter des Subsidiaritätsprinzips und der freien Marktwirtschaft an: »Das Losungswort lautet Free Trade.«
Damit nicht genug. Als am vergangenen Dienstag eine britische Abordnung bei ihm anrückte, um den Preis für die Zustimmung zu seiner Ernennung auszuhandeln, erwies sich Santer als sehr entgegenkommend. Kommissar Sir Leon Brittan, Majors Kandidat für die Delors-Nachfolge, soll für den wichtigsten politischen Bereich, den Außenhandel, zuständig sein und wieder zum Vizepräsidenten ernannt werden.
So hat der machtbewußte Brittan die besten Chancen, zum heimlichen Herrscher in Brüssel aufzurücken. Y
* Mit Jacques Delors und Helmut Kohl bei der Vorstellung amvergangenen Freitag in Brüssel.