Spanien Pausenloser Jahrmarkt
Im Madrider Villenviertel Puerta de Hierro steht ein Haus, um das der König und der Ministerpräsident den Besitzer beneiden könnten. Es ist weit prunkvoller als der Palast von Juan Carlos und viel bequemer als der Amtssitz von Felipe Gonzalez.
Die Innenausstattung eifert Neuschwanstein und Versailles nach: Zimmerfluchten, Kamine und Boudoirs, jede Suite eine Hommage an französische Monarchen - Spiegel im Stil Louis XVIII., Tisch aus der Epoche Louis XVI., Uhr nach Louis XIV.
Die Kinderzimmer gleichen Zoos voller Plüschtiere. Für sportliche Ertüchtigung stehen ein Hallenbad und ein Pool im Garten bereit. Und die Hunde-Residenz neben dem Portal verfügt über eine eigene Klimaanlage.
Diesen feudalen Wohnsitz mit 1370 Quadratmetern Nutzfläche im geschätzten Wert von sieben Millionen Mark hat sich Miguel Boyer errichtet, 25 Jahre lang einer der führenden Köpfe der Sozialistischen Partei (PSOE). Gegen Honorar durfte das Regenbogenblatt !Hola! kürzlich auf 32 Farbseiten den Spaniern das neue Eigenheim ihres ehemaligen Wirtschaftsministers vorstellen.
Die Hochglanzfotos lösten einen Sturm der Empörung aus. Denn die Spanier, bis vor kurzem noch stolz auf derlei Symbole des Überflusses, sind in eine kollektive Depression verfallen. Boyer, der schon als Kind in »seidenen Bettüchern schlief« (Cambio16), und seine Genossen von der Regierungspartei werden beschuldigt, durch Verschwendung, hemmungslose Bereicherung und Korruption die Jahrhundertchance Spaniens verspielt zu haben.
Nach Jahren des Aufblühens fällt das Land nun wieder zurück. Die Enttäuschung der Spanier über das Versagen der Sozialisten könnte Ministerpräsident Gonzalez - den am längsten amtierenden Regierungschef der EG - in diesem Jahr um den Wahlsieg bringen.
Vor einem Jahrzehnt war die Sozialistische Arbeiterpartei mit dem Versprechen an die Macht gelangt, das Land aus dem Vetternsystem der Diktatur zu lösen und eine sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen. Jetzt mußte Gonzalez eingestehen, daß die Spanier an der Ehrlichkeit der Regierenden zweifeln. Jüngsten Umfragen zufolge trauen zwei Drittel der Bevölkerung seinem Kabinett nicht länger zu, das Land aus der Krise führen zu können.
Eine Pleitewelle hat die Wirtschaft erfaßt: Bis Ende November erklärten sich 729 Firmen für zahlungsunfähig - mehr als doppelt so viele wie 1991; sie hinterließen 6,2 Milliarden Mark Außenstände. In Madrid und Barcelona, wo Geschäftsleute für ihre Arbeitsessen in feinen Restaurants früher schon Wochen im voraus buchen mußten, stehen einige Gourmet-Tempel vor dem Ruin. Das Lokal »PrIncipe de Viana«, Symbol der Haute Cuisine in der Hauptstadt, mußte sich von einem Drittel seiner Belegschaft trennen und die Preise senken.
Auch ausländische Firmen ziehen sich aus Spanien zurück: Nestle gab seine Beteiligung an der spanischen Trockenmilchherstellung auf, Fujitsu verließ den Technologiepark auf dem Expo-Gelände in Sevilla. VW hat einige Projekte für seine Tochter Seat abgesagt. An den Fischständen und Fleischtheken auf dem Mercado de Maravillas im Madrider Stadtviertel Cuatro Caminos feilschen Hausfrauen um billige Sattmacher: schlabbrigen Tintenfisch und Kutteln. Auf dem »Markt der Wunder«, wie überall im Lande, ist das Wirtschaftswunder zu Ende. Die Tageszeitung El PaIs lieferte schon eine Sonderbeilage: »Wie Sie die Krise überleben«.
Die Aussichten sind trüb: Spaniens Bruttosozialprodukt wird in diesem Jahr voraussichtlich um weniger als ein halbes Prozent wachsen. 300 000 Arbeitsplätze könnten verlorengehen, das Heer der Erwerbslosen würde dadurch auf drei Millionen anschwellen. Jeder fünfte hätte dann keine Stelle - ein europäischer Spitzenwert. Schon jetzt leben Tausende von Menschen in Slumvierteln am Rande der Hauptstadt.
Die Krise brach im Jubiläumsjahr der Entdeckung Amerikas über die Spanier herein. Statt sich ungetrübt an den Olympischen Spielen in Barcelona, der Weltausstellung in Sevilla und der europäischen Kulturhauptstadt Madrid freuen zu können, mußten sie erleben, daß die Peseta zweimal um insgesamt elf Prozent abgewertet wurde. Weil das Vertrauen ausländischer Investoren schwand, brach die Börse ein, der Aktienindex fiel auf das Niveau von 1986.
Damals war Spanien der EG beigetreten; seither galt es als Europas Musterschüler. Die Wirtschaft wuchs jährlich im Durchschnitt um mehr als vier Prozent - so schnell wie nirgends sonst auf dem Kontinent. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 5991 Dollar im Jahr 1986 auf 15 149 Dollar im vergangenen Jahr, das sind 80 Prozent des europäischen Durchschnitts. Die Spanier brauchten nicht mehr auf Arbeitssuche nach Norden zu ziehen, wie Millionen das noch in den siebziger Jahren taten.
Auslandsinvestitionen von umgerechnet mehr als 200 Milliarden Mark flossen in den vergangenen sieben Jahren in das Land jenseits der Pyrenäen und verwandelten es in Europas größte Baustelle. So gelang es, den Rückstand aufzuholen, der in vier Jahrzehnten Franco-Diktatur entstanden war. Mit Hilfe der Milliarden-Subventionen aus Brüssel entstanden Tausende Kilometer Autobahnen und Schnellstraßen.
Spanien war plötzlich in, die graue Bürokratenstadt Madrid wurde zum Zentrum einer jungen Künstler- und Selbstdarstellergemeinde, genannt »Movida«. Die Filme von Pedro Almodovar, die Märchenmode von Sybilla, die postmodernen Entwürfe des Architekten Ricardo Bofill erregten international Aufsehen.
Zum Höhepunkt des Booms frohlockte Wirtschaftsminister Carlos Solchaga: »Spanien ist das Land, wo man am leichtesten Geld verdient.« Die Mittelschicht gewöhnte sich Yuppie-Manieren an und gab sich leidenschaftlich dem Konsum hin - oft auf Pump.
»Unser Wohlstand war nur Makeup«, kritisiert jetzt der Schriftsteller Francisco Umbral. »Es war ein Reichtum, der mit Wechseln und Kreditkarten finanziert wurde, ein pausenloser Jahrmarkt der Eitelkeiten.«
In den Jahren nach dem EG-Beitritt habe Spanien die Wiederholung des Goldenen Zeitalters nach der Entdeckung Amerikas erlebt - und den neuen Reichtum genauso sinnlos verpraßt wie im 16. Jahrhundert, klagt die konservative Opposition. »Die Sozialisten haben ein falsches Bild von unserem Wohlstand geschaffen«, sagt der Vorsitzende der rechten Volkspartei, Jose Maria Aznar.
Die Handelsbilanz ist inzwischen so negativ, daß selbst die Einnahmen aus dem Tourismus - im vergangenen Jahr immerhin 30,5 Milliarden Mark - das Minus nicht mehr ausgleichen können. Mit den Exporten können nur 65 Prozent der Importe finanziert werden.
Im Etat klafft ein Defizit von 4,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Für die Finanzmisere ist der wuchernde Staatsapparat mitverantwortlich: Unter den Sozialisten wurden mehr als eine halbe Million Beamte eingestellt.
Im vergangenen Jahr belasteten Prestige-Investitionen in Höhe von über 60 Milliarden Mark für die Expo, die Olympischen Spiele und den Hochgeschwindigkeitszug Ave das Budget. Gelohnt haben sich diese Ausgaben noch nicht: Der geplante Technologiepark auf dem Gelände der Weltausstellung findet keine Nutzer, im olympischen Dorf sind bestenfalls zwei Drittel der Sportlerwohnungen verkauft. Die Schnellstrecke von der Hauptstadt nach Andalusien ist nicht ausgelastet, das restliche Eisenbahnnetz blieb rückständig wie eh und je.
Staatseigene Betriebe, zusammengefaßt in der Holding Ini, werden dieses Jahr voraussichtlich 750 Millionen Dollar Subventionen verschlingen und 1,36 Milliarden Dollar Verlust machen. Dazu gehören die Kohlegruben der Hunosa in Asturien und die Stahlwerke Altos Hornos de Vizcaya. Obwohl dort seit Jahren durch Frühpensionierungen Stellen eingespart werden, können die Unternehmen nicht konkurrenzfähig werden.
»Vom geschäftlichen Standpunkt«, räumt Ini-Direktor Antonio Oporto ein, sei die teure und langsame Modernisierung »Unsinn«. Die Regierung kann sich im sozial schwachen Norden nicht noch mehr Arbeitslose leisten. Ein Protestmarsch von Bergarbeitern in die Hauptstadt war ihr Warnung genug.
Um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, fordern einheimische Unternehmer und ausländische Investoren vor allem eine Reform des Arbeitsrechts. Doch die Gewerkschaften, die vor zehn Jahren dem PSOE an die Macht verhalfen, mauern. Den Versuch, Entlassungen zu erleichtern, gab die Regierung schnell auf, als ein Generalstreik drohte.
In der Streikbilanz gehört Spanien zur Spitzengruppe der EG-Länder. Deshalb legten die Sozialisten einen Gesetzentwurf vor, der wenigstens Notdienste während der Ausstände garantieren und Verstöße unter Strafe stellen sollte. Aber der Widerstand bei den Gewerkschaften war so groß, daß die Sozialisten die Bestimmungen sofort abschwächten. Wenn der Kompromißvorschlag Gesetz wird, »kann jede Regierung binnen eines Monats gestürzt werden, selbst wenn sie die absolute Mehrheit hat«, klagt der Präsident des katalanischen Arbeitgeberverbands.
Noch vor Oktober muß sich Felipe Gonzalez, einst Lieblingskind der europäischen Linken, Parlamentswahlen stellen. Er will noch einmal auf das Zaubermittel Europa setzen. Bis 1997 möchte er seine Spanier in den Klub der Reichen führen: in die erste Ländergruppe mit gemeinsamer Währung.
Gonzalez hat nun energisch dem »desgaste«, den Verschleißerscheinungen seiner Sozialisten, den Kampf angesagt. Gegen die Bestechlichkeit einiger Genossen, die der Regierung bei den Wählern so sehr geschadet hat, setzte er die markige Drohung: »Ich werde jeden aus der Partei ausschließen, der sich persönlichen Vorteil erschleicht, selbst wenn sein Vorgehen nicht gegen Gesetze verstößt.«
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_152_ Daten zur Wirtschaft Spaniens seit dem EG-Beitritt 1986
_____ / Bruttoinlandsprodukt
_____ Daten zur Wirtschaft Spaniens seit dem EG-Beitritt 1986
_____ / Arbeitslosigkeit
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