Titel »Peking hält uns hin«
SPIEGEL: Herr Gyaltsen, die Olympischen Spiele beginnen, die Tibet-Frage ist in den Hintergrund gerückt. Was hat Chinas Führung richtig, was haben Sie falsch gemacht?
Gyaltsen: Nach dem Aufstand im März ist viel passiert, denken Sie an das Erdbeben von Sichuan. Dann hat Peking geschickt mit der Kurzlebigkeit der Medienaufmerksamkeit gespielt. Dadurch, dass die Regierung die tibetischen Gebiete rigoros - teilweise bis heute - abgeriegelt hat, gab es auch keine Bilder.
SPIEGEL: Haben Sie eine genaue Vorstellung von der jetzigen Lage in Lhasa und auf dem Land?
Gyaltsen: Wir wissen, dass in Tibet eine »patriotische« Umerziehungskampagne läuft. Die Menschen werden gezwungen, dem Dalai Lama abzuschwören; wenn sie das nicht tun, und wir wissen, dass sich viele Mönche weigern, werden sie inhaftiert und misshandelt. De facto herrscht in den Provinzen immer noch Kriegsrecht. Wir hören auch, dass jetzt, während der Zeit der Wettkämpfe, tibetische Studenten aus Peking weggebracht werden sollen.
SPIEGEL: Und dennoch haben Sie sich als Abgesandter des Dalai Lama Anfang Juli mit hochrangigen KP-Vertretern in Peking getroffen. Haben Sie nicht die Gefahr gesehen, dass die Chinesen nur die Weltöffentlichkeit besänftigen wollen?
Gyaltsen: Natürlich haben wir die gesehen: Peking hält uns hin. Aber die Suche nach einer einvernehmlichen Lösung durch Verhandlungen ist Grundprinzip der Politik des Dalai Lama. Nach 2002 war es jetzt die siebte Gesprächsrunde - früher gab es wenige, diesmal überhaupt keine nennenswerten Fortschritte.
SPIEGEL: Wie liefen die Verhandlungen?
Gyaltsen: Es gab ein Treffen mit Du Qinglin, dem neuen Minister für die Zentrale Einheitsfront. Danach ein Gespräch mit der Führung des chinesischen Zentralinstituts für Tibet-Studien. Am folgenden Tag Verhandlungen mit zwei Vizeministern, die ständig neue Instruktionen hereingereicht bekamen.
SPIEGEL: Und Sie waren ohne Kontakt zum Dalai Lama und zur Exilregierung?
Gyaltsen: Wir telefonierten auch, waren aber vorsichtig, weil wir wussten, dass wir abgehört werden. Die KP-Vertreter wollten nur über die persönlichen Angelegenheiten des Dalai Lama reden. Wir hingegen betonten, es gehe um sechs Millionen Tibeter und deren Wohlergehen, Grundrechte und Zukunft. Immer wieder sagten sie, der Dalai Lama müsse sich von der Sabotage der Olympischen Spiele distanzieren - als wüsste nicht alle Welt von seinem Einstehen für Gewaltlosigkeit. Dann verlangten sie, Seine Heiligkeit solle sich öffentlich vom Tibetischen Jugendkongress lossagen, und nannten den eine »terroristische Vereinigung«.
SPIEGEL: Wahr ist, dass es unter den Jungtibetern manche gibt, die Gewalt nicht grundsätzlich ablehnen ...
Gyaltsen: ... aber die Organisation als Ganzes tut dies sehr wohl - obwohl sie, anders als der Dalai Lama, für Tibets Unabhängigkeit kämpft. Das ist nun einmal so im demokratischen Spektrum der Exiltibeter. Als Peking dann unserem Vorschlag nicht zustimmte, eine gemeinsame Erklärung abzugeben, die beide Seiten dem Dialogprozess verpflichtet, machten wir klar, dass wir keinen Sinn in der Fortsetzung der Verhandlungen sähen - weil offensichtlich auf der chinesischen Seite der Wille zum ernsthaften Gespräch und zu einer einvernehmlichen Lösung fehle.
SPIEGEL: Warum reisten Sie nicht ab?
Gyaltsen: Ein Abbruch hätte auch uns geschadet. Unsere Verhandlungspartner haben schließlich betont, dass »ein sehr kompliziertes Problem nicht in wenigen Jahren und Treffen gelöst werden kann«. So wurde für Oktober eine nächste Runde anberaumt.
SPIEGEL: Nach den Spielen also. Jetzt übt auch im Westen kaum jemand mehr wirklich Druck auf Peking aus.
Gyaltsen: Wir haben nie geglaubt, dass das Tibet-Problem noch vor Olympia gelöst werden kann. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es in Europa zwei Denkschulen für den Umgang mit kommunistischen Diktaturen gibt. Die eine befürwortet einen politischen Kurs, der auf stille, nichtkonfrontative Diplomatie setzt, um in kleinen Schritten Verbesserungen zu erreichen. Wir Tibeter schließen uns der anderen an - man muss prinzipientreu und selbstbewusst auftreten. Das allein beeindruckt die KP.
SPIEGEL: Die Diskussion um diesen richtigen Umgang spaltet sogar Regierungen. Kanzlerin Angela Merkel hat den Dalai Lama empfangen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht.
Gyaltsen: Immerhin hat er nach unseren Informationen hinter geschlossenen Türen mehrfach seinen Amtskollegen gedrängt, sich in der Tibet-Frage zu bewegen. Wichtig ist, dass nicht nur politische Empfindlichkeiten der Herrschenden in Betracht gezogen werden, sondern ebenso die Meinungen und Empfindungen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
SPIEGEL: Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatte seine Teilnahme an der Eröffnungsfeier ausdrücklich von Fortschritten in der Tibet-Frage abhängig gemacht. Sie sagen, Fortschritte gab es nicht - Sarkozy fährt dennoch.
Gyaltsen: Im Gegensatz zum chinesischen Botschafter in Paris maße ich mir nicht an, dem französischen Präsidenten vorzuschreiben, was er tun darf. Ich hoffe, Sarkozy nimmt die Gelegenheit wahr, in Peking mit Nachdruck das Tibet-Problem anzusprechen.
SPIEGEL: Wie wünschen Sie sich eigentlich die Olympischen Spiele - politisch ruhig oder mit Protesten?
Gyaltsen: Natürlich bin ich für Spiele ohne Terror. Der Dalai Lama hat ja immer die Idee von Olympia in Peking unterstützt. Was friedliche Proteste angeht: Selbstverständlich wird sich jeder Tibeter freuen, wenn Sportler sich für die Sache Tibets einsetzen. Wir rufen aber nicht zu Kundgebungen auf.
SPIEGEL: Sie setzen auf die nächste Runde mit der KP als letzte Chance?
Gyaltsen: Ja, bei Runde acht geht es fast schon um alles oder nichts. Bei den Verhandlungen im Oktober werden wir einen detaillierten Plan vorlegen, wie wir uns die Autonomie in Tibet vorstellen. Sollte die chinesische Seite positiv reagieren, so könnte man auch erste konkrete Maßnahmen vorschlagen - beispielsweise eine Pilgerreise des Dalai Lama nach China. Eine solche Entwicklung kann zu einem Treffen zwischen Seiner Heiligkeit und dem chinesischen Staatspräsidenten führen und den entscheidenden Impuls geben.
SPIEGEL: Sie glauben, dass die Chinesen darauf eingehen?
Gyaltsen: Wir hören, dass führende chinesische Militärs für eine Entspannung in der Tibet-Frage plädieren. Im Politbüro sollen die »Reformer« angeblich eine hauchdünne Mehrheit haben: fünf gegen vier. INTERVIEW: ERICH FOLLATH