GRENZVERKEHR Pendeln oder Propaganda
Kanzler-Vize Erich Mende empfing eine Kanzler-Rüge aus zweiter Hand. Über seinen Bonner Statthalter, den Kanzleramts-Staatssekretär Ludger Westrick, ließ der in Baden-Württemberg wahlkämpfende Ludwig Erhard vergangene Woche dem Gesamtdeutschen Minister mitteilen, daß er über dessen jüngste Initiative verwundert sei.
Erich Mende hatte am vorletzten Freitag auf dem nordrhein-westfällschen FDP-Landesparteitag in Wesel die Wiederaufnahme technischer Kontakte auf kommunaler Ebene beiderseits der Zonengrenze empfohlen und einen kleinen Grenzverkehr über die Demarkationslinie angeregt.
Der Bundeskanzler fühlte sich übergangen. Mendes Plan war ihm unbekannt. Der Vizekanzler hatte sein Vorhaben lediglich mit dem Bundesinnenminister besprochen - vorletzte. Woche ich Bundeshaus während der Etatdebatte - und den Außenminister informiert:
Mendes Vorstoß mußte Ludwig Erhard um so mehr verwundern, als der Gesamtdeutsche Minister den Kontakt-Plan vor wenigen Wochen noch heftig verworfen hatte. Damals stammte er freilich noch nicht von Mende, sondern vom sozialdemokratischen Landrat des hessischen Zonengrenz-Kreises Bad Hersfeld, Edwin Zerbe.
Sozialdemokrat Zerbe hatte bei einer Neujahrs-Pressekonferenz am 2. Januar
1964 verkündet, er hoffe, daß angesichts des Berliner Passierscheinabkommens nun auch an der Grenze zwischen Hessen und Thüringen gewisse Erleichterungen im Personenverkehr erreicht und die technischen Kontakte zwischen den benachbarten Gebieten wieder angeknüpft werden könnten.
Der Eiserne Vorhang war an der Zonengrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR bereits neun Jahre früher als in Berlin heruntergegangen. Bis Mitte 1952 konnten Grundbesitzer ihr Eigentum- jenseits der Demarkationslinie bestellen, Arbeiter täglich über die Grenze pendeln und Nachbarn einander im anderen Teil Deutschland besuchen.
Am 26. Mai 1952 machte die DDR ihre Westgrenze dicht. In einer Polizeiverordnung wurde die »Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie« verkündet. Sie manifestierte sich in einem zehn Meter breiten Kontrollstreifen unmittelbar an der Grenze, einem 500 Meter breiten »Schutzstreifen und einer fünf Kilometer breiten »Sperrzone« Die Bestimmungen über den kleinen Grenzverkehr wurden aufgehoben.
Erklärtes Ziel der Maßnahmen: »das Eindringen von feindlichen Agenten in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik unmöglich zu machen«. Sechs Jahre später ließ Ulbricht auch die kommunalen Amtshilfekontakte kappen, die sich mit Fragen der Abwässerregelung, Löschhilfe, Wasserversorgung und Seuchenbekämpfung befaßten.
Als Sozialdemokrat Zerbe im Januar dieses Jahres die Landräte zur Durchlöcherung der Zonengrenze aufrief, glaubte er, durch die Wahl der Ebene heikle Anerkennungsprobleme vermeiden zu können- »Diese Regelung hätte ja den Vorzug, daß die schwierigen Fragen ... der Souveränität, Fragen einer Anerkennung der sogenannten DDR, daß diese Fragen ausgeklammert werden könnten.«
Vizekanzler Erich Mende vermochte Zerbes Argumentation zunächst nicht zu folgen. Ende Januar wies er im Hessischen Rundfunk den Landrat in seine Schranken:
»Da alles von der anderen Seite politisch mißbraucht wird, kann nicht jeder Landrat auf eigene Faust handeln, sondern das muß man dann schon jener Stelle überlassen, die am meisten die Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Gefahren beurteilen kann und das ist nun mal die Bundesregierung.«
Drei Monate lang widmete sich der Gesamtdeutsche Minister dem Studium der Zusammenhänge, dann präsentierte er die Zerbe-Initiative als seine eigene.
Zonenvogt Ulbricht zeigte sich allerdings am Vorschlag des Ministers ungleich weniger interessiert als an dem Plan des Landrats Zerbe.
In einem Antwortschreiben an Hersfelds Zerbe hatte der Rat des DDR-Kreises Bad Salzungen am 22. März noch sein Interesse an Gesprächen über technische Kontakte bekundet und sich zur Frage eines kleinen Grenzverkehrs nur ausweichend geäußert. Nach Mendes Fanfarenstoß kam aus Ostberlin ein schrilles Propaganda-Echo. Ulbrichts Außenministerium wies Mendes Vorschlag vom kleinen Grenzverkehr brüsk zurück und ließ die Amtshilfe-Kontakte unerwähnt.
Kontakt-Sucher Mende an der Mauer: Abwasserregelung und Löschhilfe