VERBRECHEN Perle im Dreck
Manchmal gibt er sich knapp, manchmal jovial, und bisweilen schweift er ins Literarische ab: Wenn Oberstaatsanwalt Peter Morre, Ermittler der Bundesanwaltschaft im Mordfall Heinz Herbert Karry, Zeugen vernimmt, ist er vor allem hinter ungedruckten Geschichten her.
Im Frankfurter Polizeipräsidium verhört Morre derzeit hessische Apo-Prominenz aus den sechziger Jahren. Und bei den Schriftstellern Eva Demski ("Karneval"), Horst Karasek ("Der Brandstifter") und Daniel Cohn-Bendit ("Der große Basar") würde er allzugern in Erfahrung bringen, ob in künftigen Büchern dieser Autoren womöglich Hinweise auf die Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Karry stehen werden.
Die drei Schriftsteller, gibt der Rechercheur aus Karlsruhe vor zu wissen, könnten mit Tagebuchskizzen oder anderen Aufzeichnungen zu den Hintergründen des noch immer ungeklärten Karry-Mordes Enthüllungen beitragen.
Karry starb im Mai 1981, morgens um 5.02 Uhr, im Bett seines Hauses in Frankfurt-Seckbach. Unbekannte hatten durch das nur angelehnte Fenster des Schlafzimmers gefeuert und waren, wahrscheinlich mit einem roten Fiat oder Golf, geflüchtet. Dabei warfen sie die Tatwaffe, eine »High Standard«-Pistole, Nummer 1109382, an einer Autobahnauffahrt aus dem fahrenden Auto.
Wochen danach bekannten sich Briefschreiber, die sich als Vertreter »Revolutionärer Zellen« (RZ) ausgaben, zu der Tat und erklärten, man habe Karry, den Verantwortlichen für den Bau der Frankfurter Startbahn West, lediglich »in seine Beine« schießen, ihn aber nicht »umlegen« wollen. An die 2000 Spuren, die das Bundeskriminalamt (BKA) und hessische LKA-Ermittler seither verfolgt haben, brachten die Polizei nicht weiter.
Der Karlsruher Bundesanwalt Gerd Harms startete eine neue Initiative: Er entsandte seinen Mitarbeiter Morre auf Befragungstour ins Rhein-Main-Gebiet. Von Cohn-Bendit und der Anwältin Inge Hornischer möchte er wissen, »wo Herr Klein ist«; von Karasek Details eines angeblichen Waffentransports. Auch RAF-Oldtimer wie Astrid Proll und Apo-Veteranen wie der frühere SDS-Präses Karl Dietrich ("Kade") Wolff wurden vernommen. Am ehesten hofften Harms und Morre, über Eva _(Abtransport des ermordeten Ministers. )
Demski »in die Geschichte hineinzukommen«.
Die Schriftstellerin hatte 1971 im Karneval auf einer Party bei Freunden den soeben entlassenen Strafgefangenen Anton ("Toni") Huber kennengelernt, einen »Bär von Mann«, wie sie sich erinnert, der »meistens barfuß« lief. Fast zehn Jahre hatte Toni wegen mehrerer Bankraube im Jugendknast gesessen. Sein zeitweiliger Zellengenosse Hans-Joachim Klein, der später zusammen mit dem Venezolaner »Carlos« die Opec-Minister in Wien überfiel (drei Tote), fand sich damals in der Frankfurter Hausbesetzer-Szene eher zurecht als der haftgeschädigte Huber.
Der Ex-Bankräuber kam sich unter den Linken »wie ein Sozialhund« vor (Eva Demski). Stundenlang wartete er oft vor dem Gebäude des Hessischen Rundfunks auf die Journalistin, die den Karnevalsflirt inzwischen längst hatte beenden wollen. Der Abgeschobene aber fand sich mit einer Trennung nicht ab.
Bei einem Gang über die Friedensbrücke bedrohte er die Ex-Geliebte mit einer Pistole; Eva Demski entriß ihm die Waffe und warf sie in den Main. Huber schrieb einen Abschiedsbrief an die Journalistin und erschoß sich.
Die Herkunft der Waffe, einer »Ruger Mark I«, war damals von den Ermittlern nur flüchtig untersucht worden. »Da haben welche«, klagte ein Vernehmungsbeamter, »mächtig geschlampt.« Erst seit kurzem weiß das hessische LKA, daß die Pistole von Hubers ehemaligem Knast-Freund Klein stammte und am 19. November 1970 aus der amerikanischen »Ayers«-Kaserne in Kirch-Göns bei Butzbach gestohlen worden war.
Tonis Selbstmordwaffe ist für die Karlsruher Bundesanwälte deshalb so wichtig, weil in der gleichen US-Waffenkammer am 19. November 1970 auch die Pistole »High Standard« mit der Nummer 1109382 verschwunden war - die Tatwaffe im Fall Karry.
Zwei farbige US-Soldaten, die »Black Panthers« Rodney Sampson und Vernon Branch, hatten damals diese beiden und 15 weitere Schießeisen, zehn »Colts« (Kaliber .45) und fünf »High Standards« (Kaliber .22), beiseite geschafft. Am selben Tag schossen andere »Black Panthers« am Tor des US-Flugplatzes in Ramstein auf den Wachmann Dieter Lippek. Sie benutzten dabei einen weißen VW (NU-R 535). Der Wagen gehörte jenem Klein-Kumpanen Johannes Weinrich, der heute im BKA als »Kopf der ''Revolutionären Zellen''« gilt und immer wieder mit dem Karry-Mord in Verbindung gebracht wird.
Verstaubte Ermittlungsfälle wie Huber, Ramstein, Kirch-Göns und die Kontakte der »Black Panthers« zu Deutschen Anno 1970/71 in Frankfurt sind Ausgangspunkte für neue Zeugenvernehmungen. Oberstaatsanwalt Morre und eine »Soko Karry« im hessischen LKA wollen »alte Beziehungen zurückverfolgen« und »weit zurückliegende Personenkontakte aufhellen«. Erforscht werden die Frühzeiten der RZ - jene Jahre, als der Vertriebsleiter Wilfried Böse der RAF von Baader und Meinhof mit »einer eigenen Stadtguerilla-Truppe« Konkurrenz machte.
Böse kam 1976 als Chef-Entführer einer Air-France-Maschine in Entebbe/ Uganda ums Leben. 1970 hatte er mit Weinrich ein deutsches »Black Panther Solidaritätskomitee« gegründet, das desertierte farbige US-Soldaten unterstützte. Als Gegenleistung empfingen die »Revolutionären Zellen« gestohlene Waffen aus US-Militärdepots.
Klein, der in einem Buch aus dem Untergrund ("Rückkehr in die Menschlichkeit") Details enthüllte, will als heimliche RZ-Leute auch honorige Universitätsbedienstete und Apo-Prominenz kennengelernt haben. Klein spricht von Pistolendepots, aus denen sich womöglich die Karry-Mörder versorgt haben.
In dem Klein-Skript war auch von einer geheimen Berghütte der RZ in der Nähe des italienischen Aostatals die Rede. Tatortspezialisten fanden dort später Fingerabdrücke des Frankfurter Diplom-Psychologen Christian Gauger (Deckname: »Peter« und »Schorsch"). Auch die Medizinerin Sonja Suder ("Barbara") hatte in dem Häuschen Toilettendeckel und Gläser berührt.
Wer sonst noch mit dieser Guerilla und ihrem Schießgerät zu tun gehabt hat, will die Bundesanwaltschaft jetzt von einem »zuverlässigen Informanten« (Ermittler Morre) erfahren haben. In seinen Gesprächen, etwa mit den Schriftstellern, geizt der vernehmende Oberstaatsanwalt nicht mit Details. So ist in Morres Akten von einem »Pkw« als Transportmittel »verschiedener Waffen« die Rede, der einmal einem »Herrn Fischer« gehört habe: Joschka Fischer ist gemeint, heute Mitglied des Bundestages und Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen in Bonn. Ihn will Morre »auch noch vernehmen«.
Sicher belegt ist im Bundeskriminalamt, daß eine Reihe der 17 Kirch-Gönser Schußwaffen in Terroristenhände geraten ist. Eine Pistole fand sich beispielsweise nach einer Besetzung japanischer Terroristen in der französischen Botschaft in Den Haag, ein Revolver bei dem Terroristen Rainer Hochstein, ein »Colt« wurde in einer konspirativen RAF-Wohnung in Frankfurt, ein anderer in einer Paketsendung der RAF in einem Berliner Postamt entdeckt. Freilich: Acht der Waffen sind noch verschollen. Und wie letztlich die Beweiskette zum Fall Karry geführt werden soll, bleibt einstweilen das Geheimnis der Karlsruher Ermittler.
Die neuen Zeugen jedenfalls sehen in den Vernehmungen wenig Sinn. Eva Demski: »Da ist vor vielen Jahren mal eine Perlenkette runtergefallen und aufgegangen. Jetzt kommen die an, fegen den Dreck zusammen und glauben, sie fänden noch eine Perle in einer Ritze.« _(Im Garten des ermordeten Ministers. )
Abtransport des ermordeten Ministers.Im Garten des ermordeten Ministers.