FLUCHTHILFE Pfad der Tugend
Bauingenieur Günter L. ließ sich mit Frau und Kind von Ost nach West schleusen. Gesamtkosten: 45 000 Mark, 15 000 pro Person. Er zahlte die Hälfte und blieb den Rest schuldig. Die Fluchthelfer klagten bis zum Bundesgerichtshof (BGH).
Der Braut in West-Berlin war die Nähe des Verlobten aus der DDR 5000 Mark wert. Nach geglückter Flucht heirateten die beiden und unterzeichneten in West-Berlin eine Schuldurkunde. Doch dann blieben sie mit den Ratenzahlungen im Rückstand, Restforderung des Fluchthelfers: 3868,20 Mark.
Der Ingenieur M. aus West-Berlin leistete den Fluchthelfern, die für 26 000 Mark Braut und Kind rausholen wollten, 9000 Mark Anzahlung. Die Flucht mißglückte. Die Braut, zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, wurde inzwischen in den Westen abgeschoben, das Kind blieb drüben. Der Ingenieur forderte die Anzahlung zurück. In diesem Fall saßen die Fluchthelfer auf der Beklagten-Bank.
Ob derlei Schwarzmarktgeschäfte im Grenzverkehr überhaupt Rechtens sind, ob Fluchthilfe-Aktionen wie Pauschalreisen in Formularverträgen vereinbart werden können und ob es gar so etwas wie eine Mängelrüge gibt, mußte jetzt der BGH entscheiden. In einem der Fälle hatten Vorinstanzen die Fluchthilfe-Verträge, ähnlich wie Wett- und Spielschulden, zunächst für nicht einklagbar und später gar schlicht für sittenwidrig erklärt.
Ganz anders entschied der BGH. Schon in der kurzen mündlichen Urteilsbegründung Ende September hieß es: Ein Fluchthelfer-Vertrag verstoße »weder gegen ein gesetzliches Verbot noch ohne weiteres gegen die guten Sitten«. Ergo: Der Bauingenieur und das junge Ehepaar müssen zahlen. Ob der dritte seinen Vorschuß zurückbekommt, ist mehr als zweifelhaft.
Bevor noch die Bundesrichter ihre Begründung zu Papier gebracht hatten, legte bereits der stellvertretende DDR-Außenminister Kurt Nier »entschieden Verwahrung« ein bei Günter Gaus, Bonns Ständigem Vertreter in Ost-Berlin: Durch das Karlsruher Urteil werde »die Existenz und Tätigkeit krimineller Menschenhändler in der BRD legalisiert sowie der Mißbrauch der Transitwege der DDR offen begünstigt«.
Die Begründungen der drei BGH-Urteile, die nun seit Anfang November schriftlich vorliegen, dürften indessen nicht nur im Osten Mißbehagen hervorrufen. So genau hat auch in Bonn mancher gar nicht wissen wollen, daß wesentliche Teile des Grundgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht so ohne weiteres mit dem Transitabkommen in Einklang zu bringen sind.
Dieses Politikum war aber eher ein Nebenprodukt der Urteile. An sich hatten die Bundesrichter nur das BGB auszulegen und zu prüfen, ob etwa die Fluchthilfe-Verträge unzulässig oder sittenwidrig sind.
Paragraph 134 BGB bestimmt: »Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig.« Doch laut BGH ist das Transitabkommen kein derartiges gesetzliches Verbot -- das Abkommen, das die Bundesregierung verpflichte, einen Mißbrauch der Transitwege zu verhindern, regele »ausschließlich« die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin, »ohne Rechte und insbesondere Pflichten privater Personen zu begründen«.
Bei diesem Standpunkt stützte sich der BGH auch auf das Grundgesetz, das jedem Deutschen Freizügigkeit garantiert -- das in der DDR unbekannte Menschenrecht, »ungehindert durch die deutsche Staatsgewalt nicht nur an jedem Ort der Bundesrepublik Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, sondern auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen«.
Folglich ist die Nier-Forderung, Bonn möge »die Erfüllung der mit der DDR abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge« gewährleisten, nur begrenzt erfüllbar es sei denn, man wollte das Grundrecht der Freizügigkeit ignorieren oder die Fluchthilfe unter Strafe stellen.
Wie stets, wenn es um die staatsrechtliche Einordnung der DDR geht, tauchten auch diesmal wieder die üblichen Begriffsschwierigkeiten auf -- bei Beantwortung der Frage, ob der andere Teil Deutschlands nun als Inland oder Ausland anzusehen ist. Denn nur der Verstoß gegen inländische Gesetze, nicht aber gegen ausländische, kann laut BGH die Nichtigkeit von Verträgen bewirken.
Das Dilemma in Karlsruhe: Mit einer Einstufung der DDR als Ausland hätte der BGH einem unerfüllbaren Wunsch Ost-Berlins nachkommen, mit der Einstufung als Inland die Gültigkeit von DDR-Gesetzen für die Bundesrepublik bejahen müssen. Die Richter, die erkennbar weder das eine noch das andere wollten, behalfen sich, wie früher schon das Bundesverfassungsgericht, mit einer juristischen Hilfskonstruktion: Danach ist die DDR weder das eine noch das andere, sondern etwas anderes.
Im übrigen wäre auch ein Votum, das Fluchthilfe-Verträge als sittenwidrig deklariert hätte, kaum schmeichelhaft für die DDR gewesen. Denn es hätte die kommunistischen Urheber der Notlage (die von Fluchthelfern sittenwidrig ausgenutzt werde) benennen müssen. Gerade aus diesem Grund -- weil allen DDR-Flüchtlingen die »subjektive persönliche Bedrängnis gemeinsam« sei -- war ein Senat des Berliner Kammergerichts von der Sittenwidrigkeit überzeugt. Er hatte zum Beispiel »grundsätzlich als verwerflich« angesehen, aus der Notsituation eines anderen »Kapital zu schlagen« und jahrelang an dessen Einkünften zu partizipieren.
Solche Bedenken mochte der BGH nicht akzeptieren. Es sei »nicht in jedem Fall anstößig« eine Hilfeleistung, selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen«. Allenfalls könnten, so der BGH, »im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die die Vereinbarung eines Entgeltes für das Rechts- und Anstandsgefühl unerträglich machen«.
Einschränkungen dieser Art hielt der Bundesgerichtshof jedoch in den drei konkreten Prozessen nicht für notwendig. Selbst im Fall des Bauingenieurs, der für sich, seine Frau und sein Kind 45 000 Mark zahlen soll, sahen die Richter noch keine Ausbeutung: Der »an sich hohe Betrag« stehe in keinem auffälligen Mißverhältnis zur Leistung. Nach Abzug der Honorare an die Fahrer der Fluchtautos verbleibe den Organisatoren der Fluchthilfe »lediglich ein Reingewinn von rund 2650 Mark je »geschleuster« Person«.
Übrig blieb der Fall der mißlungenen Flucht, den der BGH nicht endgültig entscheiden mochte. Die Sache wurde zur weiteren Aufklärung an das Berliner Kammergericht zurückverwiesen. Nach Ansicht der Karlsruher Richter kann zwar in einem Fluchthilfe-Vertrag vereinbart werden, daß eine Anzahlung, die »zur Deckung von Vorkosten bestimmt ist«, auch beim Mißerfolg nicht zurückgezahlt werden müsse. Doch das gelte nicht, wenn das Scheitern »auf grober Fahrlässigkeit« beruhe. Gerade dieser Vorwurf war jedoch erhoben worden und soll nun noch einmal überprüft werden.
Vom Pfad der selbstauferlegten Tugend, die Fluchthilfeverträge nur im Lichte des BGB zu betrachten, wichen die Karlsruher Richter einmal ab -- als sie sich mit dem Argument auseinandersetzen mußten, die Geldforderungen insgesamt seien gar nicht einklagbar.
Die Folge wäre, so das Gericht mit deutlich politischem Bezug, »daß entgeltliche Fluchthilfe künftig regelmäßig von der Vorauszahlung der Vergütung abhängig gemacht würde, also Menschen ohne entsprechende Geldmittel verschlossen bliebe«. Dies wiederum würde die Schwierigkeiten einer Übersiedlung von Ost nach West nur verschärfen -- »ein Ergebnis, das mit dem Grundrecht auf Freizügigkeit nicht zu vereinbaren wäre«.