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OLYMPIA / LEISTUNGSGRENZE Pfeffer in der Kiste

aus DER SPIEGEL 37/1960

Nurmi, Finnlands legendärer Wunderläufer der zwanziger Jahre, und der tschechische 10 000-Meter-Stampfer Zatopek von 1948 hätten keine Fahrkarten nach Rom bekommen.

Ihre Zeiten, die ihnen 1924 oder 1948 Weltrekorde und Goldmedaillen einbrachten, wären heute zu flau, um das für die Teilnahme an den XVII. Olympischen Spielen erforderliche athletische Mindest-Soll zu erfüllen: die »Olympia -Norm«.

Mit ihnen hätten 80 Prozent aller Olympia-Sieger von 1936, 16 Sieger von 1948 und sogar vier Goldmedaillen -Gewinner der Olympischen Spiele von 1952 wegen unzureichender Leistungen nicht einmal mehr die Berechtigung zum olympischen Mitspielen erhalten.

Und jetzt, da sich die Leichtathletikwettbewerbe der römischen Spiele dem Ende zuneigen, ist bereits klar, daß die Olympia-Norm für 1964 noch strengere Maßstäbe setzen wird. Immer schneller, höher, weiter jagen die Muskelmänner dieser Erde dem Endsieg entgegen - den absoluten Leistungsgrenzen des Menschengeschlechts, von denen niemand zu sagen weiß, wo sie liegen.

Allein im Olympia-Jahr 1960 sind bisher mehr als 30 Weltrekorde der Leichtathletik erreicht oder verbessert worden. In einer Serie von bisher nie erlebten Kraftakten durchstießen Sportler in allen Winkeln des Planeten sogenannte Traumgrenzen - Leistungslimits, die man bisher kaum für erreichbar ansah. -

Unter den prominentesten Rekorde -Killern befanden sich:

- der deutsche Goldmedaillen-Sprinter Armin Hary; er lief als erster 100 Meter in zehn Sekunden;

- der Amerikaner Harold Connolly;

er warf als erster den Hammer über die 70-Meter-Grenze hinaus, und zwar um 32 Zentimeter;

- der amerikanische Rom-Sieger Bill

Nieder; er stieß die Kugel, als erster über die 20-Meter-Marke hinaus, und zwar um sechs Zentimeter.

Kaum war der dreiundzwanzigjährige Verkäufer aus dem Frankfurter Kaufhof, Armin Hary, auf der Aschenbahn in Zürich an der »Traumgrenze« seiner Disziplin-angelangt, da kommentierte er auch schon: »Ich glaube nicht, daß irgend jemand unter zehn Sekunden laufen wird. 9,9 Sekunden für 100 Meter kann ich mir nicht vorstellen.«

Wenig später erinnerte eine neue athletische Glanztat Hary an jene Binsenwahrheit, die das Schweizer Fachblatt »Sport« auf die lapidare Formel gebracht hatte: »Alle Voraussagen (über Höchstleistungsgrenzen)... sind illusorisch.« Denn auch der kanadische Neger Harry Jerome, der in Rom an einer Muskelverletzung scheiterte, lief, mit 10,0 Sekunden die gleiche Traumzeit wie Hary, gegen die vorher sechzig Jahre lang - so lange ist die Leichtathletik internationalin größerem Rahmen organisiert - die Sprinter-Elite der Welt vergebens angerannt war. Und Hary wird es kaum anders ergehen als allen übrigen Sport-Propheten, deren Phantasie mit der Praxis nicht Schritt hielt.

Von den »mathematisch genau berechneten« absoluten Endwerten des kalifornischen Hochschul-Trainers Bruce Hamilton für Leichtathletik-Disziplinen

- 1934 und 1952 veröffentlicht - ist

heute zum Beispiel nur eine einzige Leistung nicht übertroffen oder erreicht: 8,35 Meter im Weitsprung:

Und der derzeitige Missionschef der gesamtdeutschen Olympia-Mannschaft in Rom, Wurf-Veteran Gerhard Stöck, Olympia-Sieger 1936 im Speerwerfen, hat sich mit seiner Kugelstoß-Prophezeiung von vor neun Jahren nicht weniger blamiert: »Die absolute Höchstleistungsgrenze (liegt) bei einer Leistung um 18,50 Meter.« Der Wert ist bereits jetzt um gute anderthalb Meter überboten.

Die Entwicklung noch immer steigender Leistungen, allen Voraussagen zum Trotz, hat Professor Knipping, einst Leiter der Sportmedizinischen Forschung im Arbeitskreis des Deutschen Sportbunds zu einem anschaulichen, wenn, auch nicht unbedingt wissenschaftlichen Kommentar über den »Pfeffer der Rekorde« veranlaßt: »Die große Kiste, aus der die Rekorde gegriffen werden, ist noch nicht ausgeschöpft.«

Nichts veranschaulicht diesen permanenten Leistungsanstieg eindrucksvoller als imaginäre Wettkämpfe zwischen Rekord-Haltern der Vergangenheit und der Gegenwart.

- Der 100-Meter-Sieger der ersten neuzeitlichen Olympischen Spiele in Athen 1896, der Amerikaner Burke (12,0 Sekunden), hätte noch mehr als 16 Meter zu laufen, wenn Armin Hary (10 Sekunden) das Zielband durchreißen würde.

- Bei einem 400-Meter-Lauf zwischen

eben diesem Alt-Olympioniken, der 1896 in 54,2 Sekunden auch über diese Distanz siegte, und dem derzeitigen Weltrekord-Inhaber aus USA, Jones (45,2 Sekunden), läge Burke 66 Meter zurück.

- Noch grotesker ist der Abstand im Scheinrennen über 10 000 Meter; der französische Weltrekord-Inhaber von 1911, Bouin (30:58,8 Minuten), müßte noch fast einen Kilometer (genau 922 Meter) traben, wenn der sowjetische Weltrekord-Renner von 1960, Kuz (28:30,4 Minuten), im Ziel einliefe.

Für zukünftige Rekordverbesserungen auf dem gesamten Gebiet der Leichtathletik prägten die Experten eine Basis-Formel der methodischen Untersuchung möglicher Höchstleistungsgrenzen:

- Je zeitraubender, länger und komplizierter

eine sportliche Disziplin ist, desto größer sind die Chancen, bestehende Rekorde zu verbessern. Je einfacher, kürzer und unkomplizierter sie ist, desto näher sind die Sportler an die absolute Leistungsgrenze herangerückt (siehe Graphik Seite 58).

In die Praxis umgesetzt: Während der Olympiarekord über 10 000 Meter in den acht Olympischen Spielen seit 1920 bis auf ein einziges Mal ständig überboten wurde, hielt sich der 100-Meter-Weltrekord des farbigen amerikanischen Wunder-Athleten Jesse Owens (10,2 Sekunden) genau zwanzig Jahre von 1936 bis 1956 -, ehe der US-Neger Williams ihn um eine Zehntelsekunde verbesserte.

Und während ein technisch komplizierter Sprung mit Gerät - der Stabhochsprung - in den letzten acht Olympischen Spielen ebenfalls bis auf ein einziges Mal fortgesetzt verbessert wurde, blieb der Jesse-Owens-Weltrekord von 1935 im unkomplizierten Weitsprung (8,13 Meter) sogar als letzter Weltrekord aus der Vorkriegszeit bis wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele in Rom unangetastet.

Dann wurde er innerhalb weniger Wochen allerdings gleich zweimal überboten: Der deutsche Arzt Dr. Manfred Steinbach aus Wolfsburg sprang - wegen leichten Rückenwinds nicht offiziell protokolliert - einen Zentimeter weiter; kurz darauf jumpte der am vergangenen Freitag in Rom siegreiche farbige Amerikaner Ralph Boston in Walnut (Kalifornien) sogar 8,21 Meter.

Im Gegensatz zu eitleren Rekord -Kameraden hatte Jesse Owens sich auch nie eingebildet, die noch nirgendwo sichtbar gewordene Grenzleistung erreicht zu haben: »Eines Tages wird einer kommen«, so lautete schon vor geraumer Zeit sein Orakelspruch, »der 8,20 Meter springt. Und ich halte sogar für möglich, daß 8,50 Meter erreicht werden.«

Auf der Suche nach den Wurzeln so gearteter ständiger Leistungssteigerung ist eine zweite Binsenwahrheit fällig. So banal wie das Grundprinzip über die Haltbarkeit von Rekorden in einfachen Disziplinen und deren Kurzlebigkeit in komplizierten Sportarten, so simpel ist die wesentlichste Ursache des Leistungsanstiegs: Das Kräftepotential hat sich vervielfacht.

Heute treiben etwa zehnmal mehr Menschen aktiv organisierten Sport als in den dreißiger Jahren. Darüber hinaus ist aus dem sportlichen Spiel von einst verbissener Ernst geworden.

Die sportliche Höchstleistung ist nicht mehr Sache des einzelnen oder seines Vereins, sondern gilt als nationales oder gar weltanschauliches Güteprädikat. Aus den sportlichen Amateuren sind - je nach Regierungsform mehr oder weniger verschleiert - Staatsfunktionäre geworden. Die Perfektion des modernen Staates hat sich ihrer Muskeln angenommen, schmiert, massiert und trainiert sie zum höheren Ruhm der Nation.

Der offizielle Professionalismus findet daher in der Leichtathletik kein Klima, in dem er gedeihen könnte. In Australien, vor allem im Staate Victoria, existieren zwar Sprinter-Profis, die hochdotierte Kämpfe bestreiten, bei denen wie beim Pferderennen gewettet wird. Aber die Berufsathleten hätten gegenüber den »Amateuren« des Ostblocks, Amerikas oder Westeuropas keine Chance. Denn die maximalen Grenzen des Zeit- und Kostenaufwands für Training und Wettkampf sind bei diesen sogenannten Amateuren längst ebenfalls erreicht.

Ein Staat (im Ostblock), eine Universität (in Amerika) oder ein von der Industrie gesponsorter Verein (in Westeuropa) hat die Hochleistungsamateure aller materiellen Sorgen enthoben und fordert dafür mehr oder weniger rigoros* den Einsatz der Gesundheit.

Wie einst im Deutschland Hitlers, so ist dieser Trend heute naturgemäß in den Staaten des kommunistischen Blocks am unverhohlensten.

Triumphierte Rotchinas Ministerpräsident Tschu En-lai: »Heute schulen wir die Massen, morgen haben wir (im Sport) die Spitze.«

In Moskau proklamierte der sowjetische Sportkommissar Tschudinow: »Gegenwärtig gehören 16 von 18 Weltrekorden im Kurz- und Mittelstreckenlauf, in den Sprung- und Wurfdisziplinen der Männer ausländischen Athleten. Für die sowjetischen Sportler ist es erforderlich, diese hervorragenden Leistungen zu überbieten, sonst wird das Ziel, in der Welt den ersten Platz in der Leichtathletik einzunehmen, praktisch nicht erreicht.«

Und in der deutschen Sowjetzone verriet die von der Leipziger »Deutschen Hochschule für Körperkultur« herausgegebene »Kleine Enzyklopädie - Körperkultur und Sport« in diesem Jahr allen, die es noch nicht wußten: »Die Zukunft wird noch deutlicher zeigen, daß die sozialistische Körperkultur der kapitalistischen in jeder Hinsicht überlegen ist...«

Allein, sowenig sozialistische Planung dazu geführt hat, etwa der kapitalistischen Industrie-Produktion »in jeder Hinsicht überlegen« zu sein, sowenig vermochte die sozialistische Sport-Produktion die »kapitalistische Körperkultur« auszupunkten.

Denn im Prinzip sind Möglichkeiten und Methoden, mit denen die bestehenden Rekorde angegriffen werden, überall die gleichen - sei es in einem sowjetischen Athleten-Kolchos, einer US-Universität oder im »Frankfurter Sport-Verein«, dem Verein jenes deutschen Amateur-Rekordlers Armin Hary, der seit seinem Zehn-Sekunden-Lauf in Zürich vor neun Wochen nie mehr auf seinem Arbeitsplatz im Frankfurter Kaufhof gesehen wurde.

Vier Sektoren sind es, in denen Athleten und Sport-Industrie, Trainer und Wissenschaftler aller Länder sich abstrampeln, um die Leistungsgrenze der einzelnen Disziplinen Weiter ins Unbekannte vorzutreiben:

- Geräte, Zubehör und Wettkampfanlagen

- technischer Ablauf der jeweiligen

Wettkampfart,

- Trainingsmethoden,

- medizinisch-wissenschaftliche Untersuchungen

und Präparate.

Die erste Kategorie ist am gegenständlichsten und am überschaubarsten. Sie beginnt mit der Aschenbahn.

So ist es sowohl Armin Hary bei seinem 100-Meter-Weltrekordlauf in 10,0 Sekunden als auch dem ähnlich hoffnungsträchtigen deutschen Rom -Starter Martin Lauer bei seinem Weltrekord über 110 Meter Hürden mit 13,2 Sekunden zweifellos zugute gekommen, daß sie für ihre Rekordversuche die Piste des Stadions von Zürich wählten.

Diese Bahn, die völlig den internationalen Vorschriften entspricht, ist griffiger und windgeschützter als alle anderen Laufpisten.

Im Hammerwurf dagegen konnten die rekordgierigen Athleten einen technischen Vorteil ausnutzen, den sie nicht den Sportplatz-Architekten, sondern der Sportartikel-Industrie verdanken. Neben dem normalen Wurfhammer - einer 7,257 Kilogramm schweren Eisenkugel mit einem Durchmesser zwischen elf und zwölf Zentimeter - wurde nämlich ein sogenannter Rekordhammer entwickelt, dessen etwas kleinerer »Kopf« (10,2 Zentimeter Durchmesser) mit Quecksilber oder Blei gefüllt ist. Er besitzt bei gleichem Gewicht ungleich günstigere Flugeigenschaften als der Normal-Hammer.

Ebenso wurde den Speerwerfern ein neues, verbessertes Wurfgerät in die Hand gedrückt. Es ist der amerikanische Metallspeer Marke »Held"*, dem aufgrund seiner günstigeren aerodynamischen Konstruktion durchschnittlich sechs Meter zusätzliche Weite gegenüber dem alten finnischen Birkenspeer nachgesagt werden.

Ganz ähnlich sind die Stabhochspringer verfahren. Da weder Länge, Gewicht noch Beschaffenheit des Sprungstabs in den internationalen Wettkampfbestimmungen limitiert sind, wechselten die führenden Stabhochspringer von der herkömmlichem Bambusstange zum zweckmäßigeren Metall - oder Glasfiberstab über.

Der Glasfiberstab - er ist, wie der Metallstab, bruchsicherer und hat eine günstigere Schwerpunktlage - bietet den Springern neben der für die Vier -Meter-Sprünge unerläßlichen Stabilität beim Angehen der Latte einen besseren Federungseffekt, der sich beinahe katapultartig auswirkt.

Nachdem der Amerikaner Don Bragg vor kurzem auf diese Weise den Weltrekord auf 4,80 Meter zu steigern vermochte, gilt es als sicher, daß eines Tages auch die Fünf-Meter-Grenze übersprungen werden kann.

Ein vergleichbarer Elastikeffekt hatte auch die normalen Hochspringer lange begünstigt. Sie benutzten den von

dem sowjetischen Rekordhochspringer Stepanow eingeführten »Katapultschuh« mit verdickter Sohle, der unter anderem auch dem deutschen Hochsprungmeister Theo Püll zu den ersten Zwei-Meter -Sprüngen seines Lebens verhalf. Dieser Katapultschuh ist jedoch vom Internationalen Leichtathletikverband verboten worden. Die Gesamtstärke einer Sohle darf nur noch 12,7 Millimeter betragen.

Das Handikap des verbotenen Katapultschuhs in der Kategorie »Geräte und Zubehör« machten die Hochspringer wett durch eine Neuentwicklung in der zweiten Kategorie zur Leistungssteigerung: »Technischer Ablauf einer Disziplin«.

Aus dem einfachen Schersprung (mit kniewärts gebeugtem Oberkörper) entwickelten die Springer verschiedene Rollstilarten (mit dem ganzen Körper parallel zur Latte) und schließlich den modernen »Straddle«-Stil (Spreizsprung), der den Körperschwerpunkt besonders niedrig über der Latte hält: Fast kopfüber - 1936 noch verboten wälzen sich die »Straddle«-Stilisten in Froschhaltung über die Sprunglatte. Diese schwierige, aber leistungsträchtige Sprungart ermöglichte es Thomas (USA), der jetzt in Rom die Bronzemedaille gewann, den Weltrekord auf 2,23 Meter zu steigern.

Auch die Hammerwerfer, an der Spitze der amerikanische Weltrekordmann Harold Connolly, tüftelten einen wurftechnischen Kniff aus, durch den sie die durchschnittliche Abwurfgeschwindigkeit von 80 auf 100 Kilometer in der Stunde steigerten und ihre Wurfgeräte auf neue Rekordweiten zu schmettern vermochten. Hatten sich Hammerwerfer der früheren Jahre mit der reinen Zentrifugalkraft des Geräts begnügt, so lassen ihre Nachfolger den Hammer bei der letzten Drehung vor dem Abwurf knapp hinter dem Körper zurückhängen, um der Metallkugel im letzten Moment durch eine Zugbewegung das entscheidende Beschleunigungsplus mit auf den Weg zu geben.

Als jedoch der Spanier Erauzquin 1956 fand, was Hochspringern und Hammerwerfern recht ist, müsse den Speerwerfern billig sein und statt der üblichen Wurfmethode den sogenannten Schleuderstil einführte, schritt der Internationale Leichtathletikverband gegen diese stilistische Dekadenz ein. Er verbot den Schleuderstil, mit dem Finnen inzwischen Weiten von über 100 Meter erzielt haben, und ließ nur Weltrekorde mit herkömmlicher Armzug-Wurfmethode - zur Zeit 86,04 Meter - gelten.

Mehr Glück hatten die Kugelstoßer. Der von dem amerikanischen Olympiasieger (1956) Parry O'Brien ausgetüftelten neuen Stoßtechnik, der »Angleitmethode«, sind die frappanten Rekordweiten der letzten Jahre vor allem zuzuschreiben. Sie ist ein Musterbeispiel für die zweite Kategorie zur Leistungssteigerung, die Verbesserung des technischen Ablaufs einer Wettkampfart (siehe Graphik).

Parry O'Brien, der im Training überschwere Kugeln benutzt und trotz seiner 232 Pfund Gewicht 100 Meter in 10,8 Sekunden durchläuft, erklärt das Prinzip seiner neuen Methode so: »Die Kraft muß nicht neben, sondern unter der Kugel wirksam werden.« Explosionsartig wuchtet er die Kugel aus tiefer Beuge in schnurgerader Aufwärtslinie in ihre Flugbahn. So gewannen die Amerikaner Nieder, O'Brien und Long in Rom alle Medaillen. Als Paradebeispiel dafür, daß auch in den Frauen-Wettbewerben die Leistungen steil anstiegen, hat die am vergangenen Freitag in Rom siegreiche Russin Tamara Press mit derselben Technik den Kugelstoß-Weltrekord auf 17,42 Meter gesteigert. Zum Vergleich: 3,67 Meter weniger genügten zum Olympiasieg 1948.

Auch die beiden populärsten deutschen Leichtathleten, Hürden-Weltrekordler Martin Lauer und 100-Meter -Star Armin Hary, haben ihre Leistungen durch methodische Verbesserung ihrer Lauf- und Start-Technik emporgeschraubt.

Martin Lauer und sein ihn trainierender Vater bannten bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne die Läufe der weltbesten Hürden-Sprinter auf einen Schmalfilm und studierten zu Hause jede einzelne Phase des Films, um daraus für Lauers eigenen Laufstil Nutzen zu ziehen.

Martin Lauer über das erfolgreiche Experiment: »Wir mußten - das war der wichtigste Teil unserer Beobachtungen - die durch die individuellen Eigenarten, Körperbau und -proportionierung bedingten Bewegungen trennen. Das war eine langwierige, aber lohnende Arbeit. Und erst, als das, worauf es ankam, herausgeschält war, konnte ich darangehen, entsprechende Zweckübungen zu entwickeln .. Nur auf diese Weise kann die persönliche Leistungsgrenze erreicht werden.«

Auf diese Weise fand Martin Lauer zu dem für ihn günstigsten Hürdenstil, seinem »Rasierschritt« mit extrem tiefer Beuge des Kopfes beim Nehmen der Hürde. Das Resultat: Weltrekord im 110-Meter-Hürdenlauf mit 13,2 Sekunden in Zürich.

Armin Hary dagegen mühte sich vornehmlich um die technische Perfektion seines Starts. Er ist ein natürliches Sprintertalent, dessen Beschleunigungsvermögen nahezu die Werte des freien Falls erreicht.

Während ein guter 100-Meter-Sprinter seine Maximalgeschwindigkeit etwa bei 50 Meter erreicht hat, läuft Hary schon bei 30 Meter sein Höchsttempo von etwa 38 Stundenkilometern.

Darüber hinaus aber gewinnt Armin Hary durch eine nervale Frühreaktion schon beim Start einen Vorsprung bis zu sieben Hundertstelsekunden oder dreiviertel Meter.

Harys Reaktionszeit - gemessen in der Neurologischen Klinik in Freiburg - liegt an der unteren Grenze der menschlichen Norm. Diese Eigenschaft ermöglicht es ihm, im Augenblick des Startschusses früher als seine Rivalen von den Startblöcken zu flitzen. Sein ihm in Rom unterlegener amerikanischer Sprintkonkurrent Ray Norton hat Hary einen typischen »gun-jumper« genannt.

Allerdings übt Hary offensichtlich darüber hinaus auch die verwegene Kunst, schon Bruchteile von Sekunden vor dem Startschuß seinen Willensimpuls an die Muskeln auf den Nervenweg zu schicken, um zugleich mit dem Schuß unterwegs zu sein. Häufige Fehlstarts sind die Folge; wenn es aber glückt, ist sein Sieg so gut wie sicher.

So sind Martin Lauer und Armin Hary lebende Beispiele für die Betätigung in den ersten beiden Kategorien zur Leistungssteigerung: »Gerät und Zubehör« und »Technischer Ablauf der Disziplin«. Sie nutzten die einmaligen Vorteile der Züricher Aschenbahn zu Weltrekorden und entwickelten eigene Lauf - und Start-Techniken, die ihnen zusätzliche Vorsprünge ermöglichen können.

Erst eine Untersuchung der nächsten beiden Kategorien - »Training« und »Wissenschaft« -, deren Grenzen ineinander überfließen, läßt aber allgemeingültig offenbar werden, warum bisher in der Leichtathletik die menschlichen Leistungsgrenzen weder erreicht wurden noch erkennbar sind.

Alle Erkenntnisse über den Hochleistungssport, die von Trainern und Wissenschaftlern bisher erarbeitet wurden, sind derart widersprüchlich, unzureichend und bedeutungslos, daß ausgerechnet die Leistung dieser Sport -Professionellen als letzte Bastion des Amateurhaften in der Athletik erscheint.

Die Kontroversen deutscher Kapazitäten sind für dieses Dilemma bezeichnend:

- Der prominenteste deutsche Lauf -Trainer, Woldemar Gerschler, zu dessen Schülern die Weltrekordler Rudolf Harbig, Gordon Pirie und Roger Moens gehörten, hat die Medizinmann-Formel geprägt: »Wissenschaft plus Willenskraft gleich Weltrekord.« Dagegen der Hamburger Sportarzt Dr. Adolf Metzner: »Die Ansicht vieler Laien, daß der Rekord einer besonderen Willensanstrengung bedürfe,"ist ... falsch... Der bekannte Internist Professor Jores hat sehr treffend formuliert: 'Die Willensanstrengung führt immer zu Fehlinnervation.' Das heißt: Es werden für die bestimmte Bewegung unnötige Muskeln mitbeansprucht.«

- Der Freiburger Sportphysiologe und Gerschler-Kompagnon, Professor Reindell, erklärt: »Hochleistungssport ist an sich durchaus nicht schädlich. Sport führt zu Anpassungsvorgängen, die mit einer veränderten Tätigkeit der belasteten Organe, insbesondere des Kreislaufs, einhergehen.« Dagegen Dr. Hollmann, Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin in Köln: »Hochleistungssportler erliegen nicht selten akuten Kreislaufkatastrophen, wie Gehirn- oder Herzschlag."*

- Professor Reindell, Freiburg, behauptet, das allerorts betriebene »Intervall-Training« führe zu einer Vergrößerung des Herzens, zu einem sogenannten Sportherz. Dagegen fand der Hamburger Sportarzt Dr. Gadermann, daß nur acht von achtzehn Rennruderern, die in gleicher Weise nach dem Intervall-Verfahren trainiert wurden, mit einer Herzerweiterung reagierten.

Am krassesten aber offenbart sich die Unwissenheit der sogenannten Sportmedizin nicht in ihren Widersprüchen, sondern in den Versuchen, die Konstitutionslehre für den Sport nutzbar zu machen.

Seit über fünfzig Jahren vergnügen sich Sportmediziner damit, besonders erfolgreiche Sportler mit Beckenzirkel und Bandmaß auszumessen, um aus den gewonnenen Resultaten abzuleiten, welche Körperproportionen in den einzelnen Disziplinen besondere Erfolge verheißen.

Vor allem der Ostblock betreibt diese Konstitutionsforschung mit Leidenschaft, entspricht doch der verführerische Gedanke, sozialistische Sportbegabungen schon als Kinder an ihrer Konstitution zu erkennen und frühzeitig in die für sie aussichtsreichste Sportdisziplin zu beordern, der kommunistischen Weltanschauung.

In Westdeutschland glaubt der Konstitutionsforscher Dr. Helmut Kopf vom Max-Planck-Institut in Dortmund zwei Formeln gefunden zu haben, die ihm erlauben, vom Körperbau auf die mögliche Höchstleistung von 100-Meter -Freistilschwimmern zu schließen:

- Armlänge X Armumfang + Beinlänge X

Beinumfang;

- (Schulterbreite + Beckenbreite) X Größe

2 X Gewicht

»Aus der Kenntnis der beiden Körperbaukomplexmerkmale«, dozierte Mathematiker Dr. Kopf, »läßt sich für jeden Schwimmer eine Leistungserwartung... berechnen.«

Dr. Kopf erhielt die voraussichtliche Höchstleistung, indem er die Körpermaße der einzelnen gleichartig trainierten Schwimmer in die Formulare einsetzte, die Ergebnisse ausrechnete und in selbst aufgestellten Tabellen die zugehörigen Leistungen ablas.

Diese ausgeklügelten Ergebnisse hatten nur einen Nachteil: Sie stimmen nicht durchweg mit den tatsächlich erreichten Höchstleistungen überein.

Natürlicher Grund der Ungenauigkeit: Zu viele Faktoren, die neben den Körpermerkmalen Einfluß auf die sportliche Leistung haben, bleiben in den Formeln unberücksichtigt.

Dr. Kopf tröstet sich jedoch damit, daß seine Formeln um verschiedene leistungsbeeinflussende Faktoren erweitert werden können, etwa um den Trainingsumfang, die Herzleistung und die Sauerstoffaufnahme.

Bis dahin wird die Konstitutionsforschung, ein Eckpfeiler aller wissenschaftlichen Sportmedizin, voraussichtlich bei Erkenntnissen stehenbleiben, an denen sie schon vor einem halben Jahrhundert angelangt war: daß etwa ein Läufer mit langen Beinen größere Chancen hat als ein kurzbeiniger.

Als ernsthafte Arbeitsergebnisse haben die Konstitutionsforscher verkündet, daß Mittel- und Langstreckenläufer im allgemeinen größer als 1,70 Meter sind, Ringer, Boxer und Gewichtheber dagegen kleiner.

Angesichts dieses Leistungsstands der Sportmedizin nimmt es nicht wunder, daß die Leichtathleten heute zwar täglich das ganze Jahr hindurch mit militärischer Akkuratesse trainiert werden, aber nach Methoden, die sich nicht etwa auf Untersuchungen von Wissenschaftlern gründen, sondern von Rekordsportlern oder ihren Trainern empirisch ausgearbeitet wurden.

Typisch für diese Situation ist das »Intervall-Training«. Diese auf breiter Front eingeführte Trainingsform, die den Sportler einem Wechsel verschiedener Belastungs- und Erholungsphasen unterwirft und zu neuen Rekordserien vieler Disziplinen entscheidend beitrug, wurde im Prinzip von dem finnischen Wunderläufer Nurmi entdeckt und später von der tschechischen »Lokomotive« Zatopek weiterentwickelt.

Nurmis Eigenart, während des Laufs mit einer Stoppuhr in der Hand sein Tempo zu kontrollieren, führte zum ersten stufenförmigen Training, aus dem schließlich das systematische Intervall -Training entstand, das heute in den unterschiedlichsten Variationen von Sportlern aller Nationen ausgeübt wird.

Zweck des Intervall-Trainings ist, ökonomischer mit den Muskelreserven der Hochleistungssportler zu wirtschaften, das heißt, mit relativ geringem Körperaufwand ein Höchstmaß an Nutzen zu erzielen.

Dazu der Kölner Sportmediziner Dr. Hollmann: »Während früher ein wiederholtes Üben der geforderten Leistung mit vollem Einsatz notwendig erschien, erreicht das Intervall-Training auch ohne maximale Intensität eine volle Anspannung. Es wird damit unserer heutigen Auffassung gerecht, daß bereits der Einsatz von zwei Dritteln der Maximalkraft zur optimalen Entwicklung ausreicht.«

Trainer erklären, daß ihre Schützlinge heutzutage schon aus vier bis fünf 200-Meter-Intervall-Läufen in je 26 Sekunden den gleichen Effekt ziehen, den sie noch vor sechs bis acht Jahren erst aus zehn 200-Meter-Läufen von je 30 Sekunden Dauer gewannen.

Als einer der ersten und prominentesten Intervall-Trainer entwickelte der Direktor des Sportinstituts der Freiburger Universität und Harbig-Entdecker, Woldemar Gerschler, in Zusammenarbeit mit dem Sportphysiologen Professor Reindell und dem Freiburger Nervenarzt Dr. Schildge das Intervall -Training mit der Systematik eines preußischen Beamten.

Ein Intervall-Rezept nach Gerschler sah zum Beispiel so aus:

- 20 bis 40 200-Meter-Läufe in 28 bis

29 Sekunden;

- sechs bis acht 600-Meter-Läufe in

84 bis 90 Sekunden;

- zehn bis 20 400-Meter-Läufe in 63, 60, 58 und 56 Sekunden, je nach Jahreszeit verschieden dosiert.

Mit derart umfänglichen Laufprogrammen bugsierte Gerschler nacheinander drei Läufer in Weltklasseform: Barthel (Luxemburg) wurde 1952 Olympiasieger im 1500-Meter-Lauf, Moens (Belgien) und Pirie (England) liefen Weltrekorde.

Die Wissenschaft, die nicht in der Lage war, exakte und verbindliche Anweisungen für das Training von Höchstleistungsathleten zu erteilen, begnügte sich damit, nachträglich herauszufinden, warum das Intervall-Training den Sportler weitaus besser in Hochform bringt als früher das weniger systematische, doch ungleich anstrengendere Maximal-Training.

Der Freiburger Gerschler-Kompagnon Reindell entwickelte dabei seine These, daß beim Intervall-Training auch in den Erholungsphasen das Blut im gleichen Maß wie zur Zeit der Belastung durch das Herz ströme. Der Reiz, der den Herzmuskel zum Wachstum anrege, bleibe daher auch in den Pausen erhalten. Das Herz wachse so in besonders starkem Maße.

Als Reindell Sportler untersuchte, die kaum zwei Monate lang nach der Intervall-Methode trainiert hatten, fand er, daß ihr Herz sich enorm - vergrößert hatte; bei einigen hatte das Volumen des Herzens um mehrere Hundert Kubikzentimeter zugenommen. Armin Harys Herz zum Beispiel weitete sich von 600 auf 850 Kubikzentimeter,

Die Ausweitung des Herzens zur Übergroße aber ist nach Professor Reindell eine der wichtigsten Voraussetzungen für Hochleistungssportler vor allem solcher Disziplinen; bei denen es auf Ausdauer ankommt, zum Beispiel bei Mittel- und Langstrecken-Läufern, Schwimmern und Ruderern.

Eine zweite medizinische Untersuchung über die Erfolge des Intervall -Trainings wurde im Kölner Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin durchgeführt. Der Leiter des Instituts, Dr. Hollmann, bediente sich dazu zweier Geräte, die seit langem in arbeitsphysiologischen Tests gebraucht werden: des Drehkurbel-Ergometers und des Fahrrad-Ergometers.

Während die Versuchspersonen mit der Hand (Drehkurbel-Ergometer) oder mit den Füßen (Fahrrad-Ergometer) die Kurbeln der auf verschiedene Belastungsproben eingestellten Kraftmeßgeräte bewegten, registrierte Hollmann Sauerstoffaufnahme und Milchsäurespiegel der Testpersonen.

Beide Werte sind für Hochleistungsathleten von entscheidender Bedeutung. Die Ermüdung eines Sportlers ist - um so stärker, je höher sein Milchsäurespiegel steigt, und seine Leistungen sind um so größer, je mehr Sauerstoff er zur Verfügung hat. »Läufer mit einer Sauerstoff-Maske«, so berechnete es der Schweizer Sportmediziner Dr. Jürg Bar, »würden sämtliche Weltrekorde brechen.«

Sauerstoffaufnahme und Milchsäurespiegel stehen jedoch auch in ursächlichem Zusammenhang: Bei ungenügender Sauerstoffzufuhr infolge starker Belastung kann der Muskelkraftstoff Traubenzucker nicht vollständig verbrennen, und es bilden sich Stoffwechselschlacken, vor allem Milchsäure.

Durch die Pausen im Intervall-Training wird nun gleich zweierlei erreichte: Der Milchsäurespiegel sinkt, und der Sportler braucht für eine bestimmte Leistung weniger Sauerstoff als wenn er ohne Unterbrechung kurbeln oder treten müßte. Resultat: Der Sportler kann ausgedehnter trainieren.

Trotz solcher nachträglichen Erkenntnisse der Wissenschaft über den Wert der zur Zeit verbreitetsten Trainings -Methode haben Forscher der »Deutschen Hochschule für Körperkultur« in Leipzig festgestellt: »Ein exakter Beweis dafür, daß eine bestimmte Methode des Trainings allein Erfolg garantiert, läßt sich nicht finden.«

Ebenso eigenartige wie unterschiedliche Praktiken und Ansichten einzelner Hochleistungsathleten und ihrer Trainer untermauern die ostzonale These. Weltrekordler Armin Hary etwa trainiert - undenkbar für die meisten Läufer - ohne Trainer. Der Engländer Roger Bannister, der 1954 als erster Läufer der Welt die sogenannte Traummeile in weniger als vier Minuten lief, behauptet hingegen, nicht die Trainingsmethode, sondern allein »Geist und Wille des Läufers« seien entscheidend. Und der renommierte Stuttgarter Leichtathletik-Trainer Toni Nett bezeichnete das »Intervall-Training«, das nur eines von vielen Trainingsmitteln sei, als längst überwundenen »Moderummel«.

Während die meisten Lauftrainer ihren Schülern als oberstes Gebot eintrichtern, die krampfverhindernde, absolute Lockerheit sei wichtigste. Voraussetzung für hohe Leistungen, predigt beispielsweise der erfolgreiche australische Trainer Percy Cerutti eine völlig andere These.

Ausgehend von der tiefschürfenden Erkenntnis, »nur zwei Tiere haben einen Daumen: der Affe und der Mensch«, folgert Cerutti, daß »alles vollkommene Laufen in den Daumen und Fingern... beginnt, sich durch Hände und Arme fortsetzt und durch Schultern und den Körper ausbreitet bis zu den Beinen und Füßen. Also im genauen Gegenteil zur verbreiteten Meinung, daß das Laufen mit den Beinen beginne!«

Ceruttis Rezept: »Je höher das Tempo beziehungsweise der Krafteinsatz, um so stärker muß das Pressen des Daumens und das Fingerschließen sein.« Cerutti verdammt scharf die lokkere und entspannte Haltung der Arme ("Nichts ist falscher!") und doziert: »Die Beine werden dem folgen, was oben (am Daumen) eingeleitet wurde.«

Wer nun aber glaubt, der Verbreiter einer Lehre, die allen bisher für richtig befundenen Theorien

über die vorteilhafte Benutzung der Gliedmaßen beim Lauf widerspricht, könne seinen Trainerjob nicht lange behaupten, der muß freilich wissen, daß Cerutti mit seiner Daumendruck-Methode Weltklasseläufer produzierte.

Und ist Ceruttis absurd anmutendes Rezept im Grunde nichts weiter als ein Rückgriff auf leicht modifizierte Erkenntnisse aus leichtathletischen Pionierjahren - früher umklammerten die Athleten im Lauf krampfhaft sogenannte Rennkorken -, so verfolgt auch Ceruttis erfolgreichster Schüler, der Meilen -Weltrekordläufer und große Rom-Favorit über 1500 Meter, Herb Elliott, eine Trainingsmethode, die sich eng an die vergleichsweise antiquierte Trainierweise des Schweden Gunder Hägg anlehnt, der serienweise Weltrekorde lief.

Wie einst Hägg ist auch Eiliot Anhänger jenes Prinzips, das auf dem schwedischen »Fahrtspiel« basiert, einer der Keimzellen der modernen Intervallarbeit: systemloses Training nach Laune und »Laufhunger« in Wald und Gelände: Elliott vor kurzem in Roth: »Ich trainiere, bis ich keine Lust mehr habe ... manchmal nur eine halbe Stunde am Tag, manchmal drei Stunden, manchmal gar nicht - ein Training, das völlig im Gegensatz zu den minutiös festgelegten Trainingsplänen Marke Gerschler steht.

Ein anderer Australier, der 22jährige Mittelstreckler John Barrett, vertritt rundweg die Ansicht, daß die »heute allgemein anerkannten Methoden bereits mehr oder weniger überholt« seien. Er trainiert daher wie keiner vor ihm: Barrett läßt sich von einem mit 40 Kilometer in der Stunde fahrenden Auto ziehen, um seine Beinmuskeln zu strecken und sein Schrittmaß zu verlängern, und er läuft dabei 100 Yards (91,44 Meter) in etwa acht Sekunden schneller als der 100-Meter-Weltrekord.

Weit davon entfernt, wissenschaftlich erforscht zu sein, und damit noch immer in unbekannter Entfernung von den absoluten Leistungsgrenzen basieren die phänomenalen Rekordverbesserungen so im Grunde auf der individuellen Anwendung primitiver Erfahrung.

Obgleich der Hochleistungssport wie kein anderes Feld geeignet wäre, die physischen Grenzen des Menschen aufzudecken, beschränkt sich die Rolle der Wissenschaft im Prinzip auf eine - oft fragwürdige - Hilfestellung.

So suchte in Australien der Trainer Carlile seine Schwimmer - darunter die Olympiasiegerin im 100-Meter -Brustschwimmen von 1948, Judy Davies - durch die hypnotische Vorstellung anzuspornen, sie würden im Wasser von Haien verfolgt. Das Experiment mißlang.

Ähnliche Versuche, Hochleistungsathleten durch Hypnose in Todesangst zu versetzen und damit zu neuen Rekorden anzustacheln, wurden trotzdem in Moskau weitergeführt, ohne daß Ergebnisse bekanntgeworden wären.

Ein ungleich gängigeres Mittel der Medizin, die Athleten künstlich zu Leistungssteigerungen aufzuputschen, ist die Verabreichung von Drogen und Präparaten. Diese Praxis, »Doping« genannt, ist offiziell geächtet, in zahlreichen Sportarten indes so verbreitet, daß bei den derzeitigen Olympischen Spielen in Rom erstmalig der Plan verkündet wurde, von den Marathonläufern und Gehern vor dem Start und im Ziel Speichelproben zu entnehmen, um sie auf Drogen hin zu untersuchen.

Die am häufigsten verwendeten Mittel zum Dopen sind:

- Rauschgifte, in erster Linie Kokain:

Sie erhöhen vorübergehend Muskelkraft

und Ausdauer;

- Weckamine, zum Beispiel Pervitin: Sie heben das Ermüdungsgefühl eine Zeitlang auf und verbessern die Konzentrationsfähigkeit;

- pflanzliche Gifte, wie Strychnin, Atropin, Ephedrin: Sie regen das Nervensystem an;

- Hormone, vor allem Keimdrüsen - und Nebennierenrindenhormone: Sie beheben Erschöpfungszustände;

- Tranquilizer: Sie beruhigen aufgeregte und nervöse Sportler.

Der Wiener Sportarzt Dr. Prokop und sein Mitarbeiter Dr. Tischer machten bei umfassenden Doping-Studien eine verblüffende Entdeckung, die wie kaum eine andere Feststellung demonstrieren kann, welch unwägbare - Faktoren die Berechnung der Grenzen des Hochleistungssports einstweilen noch immer völlig aussichtslos erscheinen lassen.

Die beiden Wiener Medizinmänner verabreichten über 100 Testsportlern »Wunderpillen«. Daraufhin verbesserten 72 Prozent von ihnen ihre Leistungen: Die Versuchsathleten hatten nicht gewußt, daß es sich bei den »Wunderpillen« um völlig harmlose Tabletten aus Milchzucker und Talkum handelte.

Ein furchtbares Indiz dafür, wie leicht

ein Doping-Schuß nach hinten losgehen und den präparierten Sportler sogar umbringen kann, wurde schon bei dem ersten entscheidenden Wettbewerb der Olympischen Spiele in Rom offenbar. Zahlreiche Radrennfahrer erlitten im Mannschaftsrennen einen Kollaps. Von drei dänischen Fahrern, die in diesem Rennen zusammenklappten, starb der 23jährige Knud Jensen wenige Stunden später im Krankenhaus. Da dringender Verdacht besteht, Jensen sei einem Aufputschmittel zum Opfer gefallen, hat die italienische Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Tatsächlich gaben der dänische Mannschaftstrainer und der Präsident der dänischen Radfahrer-Union alsbald zu, was der Arzt der Mannschaft bestritt: Die dänischen Pedaltreter hatten vor dem Start zumindest bestimmte Dosen des Stimulantiums »Ronicol« eingenommen, eines kreislaufankurbelnden Präparats.

Diagnostizierte der Wiener Doping -Forscher Dr. Prokop in Rom: »Ich betrachte den Fall des dänischen Radfahrers als klassischen Fall von Doping.« Und die »Welt« klagte an: »Der Tod von Knud Enemark Jensen, 23 Jahre, ist die Tragödie des Sports, der seine Grenzen nicht mehr erkennt, der nicht weiß, wann es genug ist, und der nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern die Leistung.«

In der vergangenen Woche verließ ein italienisches Militärflugzeug mit dem Leichnam des Olympia-Opfers Jensen

- auf dem Sarg eine außerplanmäßige Goldmedaille - die Ewige Stadt, von der Gesellschafts-Reporter Art Buchwald, leicht entsetzt über die bitter ernste Geschäftigkeit der sich zum Wettstreit rüstenden Olymipioniken, jüngst in der »New York Herald Tribune« geschrieben hatte: »Rom ist ein athletisches Konzentrationslager.«

Genau denselben makabren Ausdruck hatte schon der dänische Sportler, Arzt und Schriftsteller Knud Lundberg in seinem vor fünf Jahren verfaßten utopischen Sportroman »Vision Olympische Spiele 1996 in Hamburg« verwendet. Hundert Jahre nach den ersten neuzeitlichen Olympischen Spielen, so orakelte Lundberg, werden die Nationen ihre athletischen Vertreter - nur noch in »Sport-Konzentrationslagern« heranzüchten. Physiologen und Psychologen haben dann in der Auswahl und Vorbereitung der olympischen Muskelmenschen endlich die Oberhand über die Trainer errungen. Ihre Produkte lassen sie - wie Windhunde aus dem Startkasten - in der Arena los, damit sie ihren monoton eingedrillten Part abspulen können, gespenstische Robustnaturen, immun gegen jene vertrackten psychischen Einflüsse, die den Heroen der Athletik von heute noch immer schwer zu schaffen machen.

Nur für derart abgestumpfte Typen, so glaubt Lundberg, werden olympische Fahrkarten und neue Traumgrenzen des Sports dann noch erreichbar sein.

* Im Gegensatz zum Ostblock haben im Westen zahlreiche Athleten der Spitzenklasse das leistungsmindernde Rauchen noch nicht aufgegeben. So pflegte der deutsche Zehnkampf-Meister Sepp Hipp täglich bis zu 70 Zigaretten zu rauchen, ehe er 1959, 31jährig, am Herzinfarkt starb.

* Beim olympischen Speerwerfen in Rom ist der »Held«-Speer, mit dem die letzten Weltrekorde erzielt wurden, nicht zugelassen.

* Hollmanns Aussage wird von Professor Dr. Delius. Bad Oeynhausen unterstützt: »Wir haben ziemlich oft bei Menschen der mittleren Lebensjahre die früher viel Sport getrieben hatten, vegetative Herz- und Kreislaufregulationsstörungen gefundene«

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