"Wir sind es selbst, die das 'System Pflegenotstand' am Leben halten"

Thies ist Fachpfleger und porträtiert Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland.

Dieser Beitrag wurde am 17.01.2020 auf bento.de veröffentlicht.

Deutschland hat zu wenige Pflegerinnen und Pfleger. Und die, die in der Pflege arbeiten, klagen über ineffiziente und bürokratische Strukturen. Unter dem Pflegenotstand leiden die Patienten – und die Pflegenden selbst, Pflegende wie Thies Sprenger. 

Der 29-Jährige hat sich vor acht Jahren an der Uniklinik Kiel zum Krankenpfleger ausbilden lassen, dann zwei Jahre lang im Beruf gearbeitet. Heute arbeitet Thies in Bremen über eine Zeitarbeitsfirma als Pfleger auf Abruf – nebenbei reist er als Fotograf  durch Deutschland, um Kolleginnen und Kollegen zu porträtieren.

Seine auf Instagram veröffentlichte Serie nennt Thies "Die Gesichter der Pflege" . Es ist eine Dokumentation über den Pflegenotstand in Deutschland.

Die Serie scheint genau zur richtigen Zeit zu kommen: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will 2020 endlich etwas gegen die Zustände in den Krankenhäusern und Heimen unternehmen. Unter dem Titel "Konzertierte Aktion Pflege"  plant er Reformen, die den Personalmangel beheben und die Pflegebedingungen verbessern sollen. Unter anderem sollen Pfleger mehr Verantwortung im Klinikalltag bekommen, die Ausbildung soll ausgeweitet werden.

Wir haben Thies gefragt:

Sind die Reformen von Jens Spahn nur Augenwischerei oder ein echter Fortschritt? Und was sagen die Pflegerinnen und Pflegern, die er in seiner Serie "Die Gesichter der Pflege" interviewt?

bento: Thies, du reist durch Deutschland und fotografierst in Krankenhäusern Pflegende. Was hat dich motiviert?

Thies: Ich bin selbst ausgebildete Pflegefachperson. Aber schon kurz nach der Ausbildung habe ich gelernt, dass ich im Job nicht dem entsprechen kann, was ich gelernt habe. 

Es gibt einen Graben zwischen Theorie und Praxis, das hat mich extrem herausgefordert und frustriert.

Also wollte ich wissen: Wie geht das meinen Kolleginnen und Kollegen? 

bento: Was meinst du mit Graben?

Thies: Ich kann den Ansprüchen nicht gerecht werden. Ein Beispiel: In der Ausbildung haben wir gelernt, die Lösung beim Händedesinfizieren jedes Mal 30 Sekunden einwirken zu lassen. Immer, bevor ich die Handschuhe anziehe, soll ich die Hände desinfizieren. Und nach jeder Handlung an einem Patienten wechsele ich die Handschuhe. Das ist im Alltag komplett unrealistisch.

bento: Was hat nun deine Fotoreise ergeben?

Thies: Alle Pflegefachpersonen, die ich porträtiert habe, berichten von ähnlichen Missständen. In den Altenheimen ist es oft sogar noch gravierender als in den Krankenhäusern. Der Pflegenotstand ist systemisch, das sind keine Einzelfälle.

bento: Und wie reagieren deine Kolleginnen und Kollegen auf dein Projekt?

Thies: Sie fragen, warum es noch keine Facebook-Gruppe gibt (lacht). Aber im Ernst: Das zeigt, dass ein Wunsch nach Vernetzung da ist, dass sich viele etwas von der Seele reden möchten. Ich stelle allen drei Fragen: Wie macht sich der Pflegenotstand für dich persönlich bemerkbar? Was hält dieses System, den Notstand, am Leben? Und was liebst du trotz allem an deinem Beruf? In ihren Antworten gibt es deutschlandweit viele Überschneidungen.

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bento: Und was sagen sie?

Thies: Ja, alle leiden unter dem Pflegenotstand. Aber alle lieben ihren Job und wollen für die Menschen da sein. Entsprechend sind es wir Pflegefachpersonen selbst, die das "System Pflegenotstand" am Leben halten: Wir werden nicht einfach streiken. Denn wenn wir nicht da sind, sterben Menschen. Also machen wir weiter. In Politik und Klinikleitung weiß man das, daher ändert sich nichts.

bento: Gab es unter den Porträtierten jemanden, der oder die dich am meisten beeindruckt hat?

Thies: Ich habe unter anderem meine ehemalige Praxisanleiterin aus meiner Ausbildungszeit fotografiert. Sie arbeitet seit mehr als 36 Jahren in der Pflege und bereut es doch keinen einzigen Tag. Die Liebe, die sie für den Beruf mitbringt, hat auch mich noch mal bestärkt.

bento: Was rätst du selbst jungen Kolleginnen und Kollegen, um im Beruf durchzuhalten?

Thies: Geht nach der Ausbildung in die Schweiz (lacht). Oder helft mit, den Beruf attraktiver zu machen. Nutzt soziale Medien, um von eurem Alltag zu erzählen, den schönen Momenten, denen, die euch lehren, wie wertvoll es ist, gesund zu sein.

bento: Du hast aber nach deiner Ausbildung noch zwei Jahre im Job gearbeitet und dann erst mal aufgehört. Warum?

Thies: Aus dem gleichen Grund, warum ich nun auch die Fotoserie mache: Ich konnte einfach nicht mehr menschenwürdig arbeiten. Auf meiner Station hatten wir Patienten, die etliche Wochen bei uns lagen und sehr aufwendig waren. Meine Kollegen und ich gingen irgendwann auf dem Zahnfleisch. Heute arbeite ich über eine Zeitarbeitsfirma in der Pflege – so kann ich mir meine Schichtdienste besser organisieren und gleichzeitig meiner Leidenschaft als Fotograf nachgehen.

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bento: Was sollte sich ändern?

Thies: Es braucht natürlich mehr Personal. Wir verdienen, wenn wir ehrlich sind, für einen Ausbildungsberuf nicht schlecht. Aber die Arbeitsbedingungen sind trotzdem sehr anstrengend. Ich glaube, vor allem die Politik sollte es hier schaffen, den Beruf Krankenpfleger für junge Menschen attraktiver zu machen, auch Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. 

In Deutschland wird der Beruf kaum wertgeschätzt.

bento: Jens Spahn will Pflegenden mehr Verantwortung geben und die Ausbildung ausweiten. Was hältst du von den Reformen?

Thies: Die Meinung unter den Pflegenden ist da sehr gespalten. Ich persönlich bin der Meinung, dass erweiterte Kompetenzen langfristig das System entspannen und den Beruf aufwerten können. Die Kompetenzerweiterung sollte dann aber auf akademischem Level erfolgen und sich dementsprechend auch im Gehalt widerspiegeln. Dass Altenpfleger selbst für die Gabe frei verfügbarer Schmerzmittel den Hausarzt der Einrichtung konsultieren müssen, obwohl sie die Situation bereits heutzutage gut einzuschätzen wissen, spricht für sich.

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bento: Hat der Gesundheitsminister eigentlich dein Instagram-Profil schon entdeckt?

Thies: Das wäre mal was. Ich würde mich sehr gerne mal mit Jens Spahn unterhalten.

bento: Was würdest du ihm sagen?

Thies: Einerseits möchte ich ihm danken, dass er als erster Gesundheitsminister das Problem nicht mehr übersieht, sondern ernsthaft und für mich glaubhaft versucht, Lösungen zu finden. Diese Meinung teilen aber sicher viele meiner Kolleginnen und Kollegen nicht. Andererseits würde ich ihn auch gerne einmal einen Monat lang als gesetzlich versicherten Patienten, bettlägerig in einem Vier-Bett Zimmer einer internistischen Station erleben — unter heutigen Bedingungen. Es klingt sadistisch und ich wünsche es niemandem, es würde vielen Politikern aber die Augen öffnen.

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