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KANÄLE Pfropfen auf der Flasche

Zum zweitenmal in knapp drei Jahren ging ein Jahrhundertwerk zu Bruch. Ähnlich wie 1976 der Elbe-Seitenkanal brach jetzt der Rhein-Main-Donau-Kanal. Neuartige Technik soll künftig die Folgen von Leckagen mildern.
aus DER SPIEGEL 14/1979

Nach dem Dammbruch am niedersächsischen Elbe-Seitenkanal wollten Münchner SPD-Landtagsabgeordnete vom Innenministerium wissen, wie es denn um die Sicherheil des bayrischen Rhein-Main-Donau-Kanals bestellt sei.

Die sei, gab es der damalige Minister Alfred Seidl schriftlich, »gewährleistet«, die »Dichtung des Kanalbettes« mängelfrei, »zusätzliche technische Vorschriften« seien »aufgestellt« -- sogar über die »Regeln der Baukunst hinaus

Kurz, an dem auch Europa-Kanal genannten Wasserbauwerk sei alles im Lot -- ein Irrtum nach allen Regeln der Kunst. Denn was am 18. Juli 1976 in der Lüneburger Heide geschehen war, wiederholte sich am Montag letzter Woche im Fränkischen: Beim Kanalkilometer 77,275 der Wasserstraße, die einmal Rhein und Donau, Nordsee und Schwarzes Meer verbinden soll, sackten Bett und Böschung weg.

Der Damm auf der Westseite der hier über Geländeniveau geführten Kanalstrecke brach; durch eine zwanzig Meter breite Scharte schossen die Fluten in den Nürnberger Vorort Katzwang. Die Sturzsee von insgesamt 350 000 Kubikmetern riß Autos fort und beschädigte oder zerstörte 190 Gebäude. Eine Zwölfjährige., die von einem zusammenbrechenden Balkon ins Wasser gestürzt war, ertrank.

Zwar floß viel weniger Kanalwasser nach Katzwang, als aus dem leckgeschlagenen Elbe-Seitenkanal in die Heide quoll; damals waren es sieben Millionen Kubikmeter. Der defekte Kanalabschnitt bei Katzwang war nur zwei Kilometer lang und vom nächsten noch durch einen Querdamm getrennt.

Zwar ist die Ursache des Desasters bei Nürnberg für den Bauherrn -- die Rhein-Main-Donau AG (RMD) -- noch »das große Rätsel« (RMD-Sprecher Wolfgang Bader). Doch die Parallelen beider Katastrophen sind nicht zu übersehen.

Beide Male wurde die Gefahr verkannt. Beide Male brach das Kanalbett im Bereich von Untertunnelungen, und die gelten als besonders leicht verwundbare Abschnitte von Dammstrecken, weil dort Bauelemente ganz unterschiedlicher Eigenschaften miteinander verbunden sind.

Der Elbe-Seitenkanal brach unmittelbar neben der Straßenunterführung Lüneburg-Nutzfelde; als Ursache stellte eine Gutachterkommission später gleich ein rundes Dutzend Schlampereien und Fehlleistungen fest, die den Leuten vom Bau an der Wasser-Landstraßen-Kreuzung unterlaufen waren.

Fugendichtungen und Filter zur gefahrlosen Ableitung von Sickerwasser hatten gefehlt; Aufschüttungen waren nicht genügend verdichtet worden, so daß sich Hohlräume bilden konnten; auch hatte die Tragfähigkeit der Kanalbettauskleidung stellenweise nicht ausgereicht -- eine Summe von Schwachstellen, die dazu führte, daß aus dem Kanal in den Unterbau einsickerndes Wasser immer größere Hohlräume auswusch und die Kanalbettauskleidung aus Asphaltbeton schließlich riß.

Bei Nürnberg-Katzwang wiederum -genau da, wo das Wasser letzten Montag die. Scharte in den Damm grub -- überquert die Dammstrecke des Rhein-Main-Donau-Kanals ebenfalls einen Tunnel, einen Düker von 1,70 Meter Durchmesser, in dem das Rohr einer Wasserleitung verlegt ist. Vorstellbar, daß die Katastrophe über dem Dilker auf ähnliche Weise ihren Anfang nahm wie am Elbe-Seitenkanal.

Wie auch immer, und was anstehende Untersuchungen auch ergeben mögen: Recht vertrauen mögen Deutschlands Kanalbauer offenbar ihren eigenen Werken schon seit dem Sommer 1976 nicht mehr trotz kostspieliger Nachbesserungen, die die Bundeswasserstraßen-Verwaltung vor der Wiedereröffnung des Elbe-Seitenkanals vornehmen ließ, und trotz öffentlicher Bekundungen der Erbauer des Rhein-Main-Donau-Kanals unmittelbar nach dem Bruch in der Heide: »Eine Dammbruch-Katastrophe kann als ausgeschlossen gelten.«

Für den Fall künftiger Leckagen oder eines neuerlichen Dammbruchs am Elbe-Seitenkanal ließ die Wasser- und Schiffahrtsdirektion Mitte in Hannover von der Bremerhavener Seebeckwerft, der Ahrensburger ITM-Industrie Consult und dem Hamburger Ingenieurbüro Kahl einen Sperrponton entwickeln, der voraussichtlich im nächsten Jahr verwirklicht werden soll.

Die »Weltneuheit« ist ein Zwitter von Binnenmotorschiff, Schwimmdock und Schleusentor, im Seitenriß mit der Querschnittform des Elbe-Seitenkanals identisch und etwas länger als das Kanalprofil breit.

Sobald es irgendwo an den Kanaldämmen wieder knistert, sprudelt oder kracht, soll der Ponton mit eigener Kraft Fahrt in Richtung Bruchstelle aufnehmen, kurz davor mit dem Bug an einem Ufer festmachen, seine Ballasttanks fluten und so zur Kanalsohle abtauchen, dann mit dem Heck zum jenseitigen Ufer hinüberschwenken und den Kanal dicht machen wie ein Pfropfen die Flasche (siehe Graphik). Paarweise eingesetzt, können mit dem Gerät kleinere Kanalabschnitte auch kurzfristig abgeschottet und für eine Bodeninspektion trockengelegt werden.

Auch die RMD verfolgte schon seil dem Dammbruch im Lüneburgischen ein Projekt für den Fall, daß ihr Kanal einmal einen Knacks bekommen sollte. Es ist ebenfalls eine »absolut neue Konstruktion«, so RMD-Statiker Willi Feile, und »sieht aus wie fünf große Würste«, schildert einer der Mitkonstrukteure, der Professor Frei Otto. Leiter des Instituts für leichte Flächentragwerke an der Universität Stuttgart.

Die Fünffach-Wurst. ein in Kammern unterteiltes Gebilde aus gummiertem Nylon-Kunstfasergewebe, soll nach den Vorstellungen seiner Erfinder einen doppelten Zweck erfüllen: als mobiles Kanalschott ebenso wie als »Pflaster« (Otto) für Leckagen. Denn mit Wasser gefüllt in die Wasserstraße versenkt, pressen sich die 14 Meter dicken Wurstwülste so fest ins Kanalbett. daß Bruchstellen »automatisch versiegelt« werden.

Bisher wurden die Sperrschläuche nur im Modell 1:10 erprobt. Den ersten Test mit einem Gerät in Originalgröße hatten Auftraggeber, Konstrukteure und Hersteller vor drei Wochen für nächste Frühjahr angesetzt -- »wie es der Teufel so will« (Otto) bei Nürnberg-Katzwang, wo der Rhein-Main-Donau-Kanal letzten Montag in die Brüche ging.

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